Jürgen Roloff, Predigt über Offenbarung 21,1-7: „Inbegriff und Sinnbild dieser Treue Got­tes ist die heilige Stadt, das neue Jerusa­lem. Johannes sieht sie auf die erneuerte Erde herabkommen, ‚bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann‘. Ich darf aus diesem sprechenden Bild heraus­hören: Für Gott ist seine Geschichte mit dem alten Jerusalem, jener Stadt im judäischen Bergland, weder eine belang­lose Episode, noch ein gescheitertes Ex­periment. Er steht vielmehr zu ihr.“

Predigt über Offenbarung 21,1-7

Von Jürgen Roloff

Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Ge­schrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. “Und der auf dem Thron saß, sprach: „Siehe, ich mache al­les neu!“ Und er spricht: „Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiß! “ Und er sprach zu mir: „Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst. Wer überwindet, der wird es al­les ererben, und ich werde sein Gott sein, und er wird mein Sohn sein. “

Liebe Schwestern und Brüder,

wir haben gute Gründe, von unserer Hoff­nung zu reden! Christen und Christinnen sind kleinlaut geworden, wenn es um die Thematik der sogenannten „letzten Din­ge“ geht, also um das, was unser Glaube erwartet hinsichtlich unserer Zukunft jen­seits unseres Todes und der Zukunft un­serer Welt. Allzusehr haben wir uns viel­leicht beeindrucken lassen durch den Ver­dacht, solche Zukunftserwartungen seien lediglich bequeme Ablenkungsmanöver von den konkreten Herausforderungen und Problemen, die sich uns im Hier und Jetzt in Welt und Gesellschaft stellen, Vertrö­stungen, mit denen Christen die Hungri­gen abspeisen, um deren leiblichen Hun­ger nicht stillen zu müssen, und überdies seien sie Hervorbringungen einer überhitz­ten und fehlgeleiteten Phantasie. Die Ge­schichte des Christentums liefert Anhalts­punkte für solchen Verdacht. Das lässt sich nicht bestreiten. Dennoch haben wir gute Gründe, von unserer Hoffnung zu reden. Denn diese Hoffnung hat festen Grund im biblischen Zeugnis, das gespeist ist durch die Erfahrungen, die das Volk Gottes auf dem Weg durch die Geschichte mit Gott gemacht hat. Sie wirkt auch als verändern­de Kraft in das Hier und Jetzt hinein.

I

Beides gilt für das große Hoffnungsbild vom himmlischen Jerusalem in der Johannesoffenbarung. Der urchristliche Profet namens Johannes, dem wir es ver­danken, setzte es an das Ende seines Bu­ches, um damit seinen Aufruf an die christ­lichen Gemeinden im westlichen Klein­asien zur realistischen Einschätzung der konkreten Lage und zur Bewährung christ­lichen Gehorsams im Alltag abschließend zu begründen. Von großer sprachlicher Schönheit ist dieses Bild. Es strahlt einen poetischen Glanz aus, dem man sich kaum entziehen kann. Es spricht unmittelbar unsere Emotionen an, und wir brauchen uns dessen gewiß nicht zu schämen. Ich freue mich darüber, dass das Evangelium auch schön ist. Aber die Schönheit geht hier keineswegs auf Kosten der Klarheit. Das Hoffnungsbild vom himmlischen Je­rusalem hat nämlich eine erstaunliche Konturenschärfe. Das stellt sich heraus, sobald man es nicht isoliert betrachtet, sondern seinen Bezug auf das Alte Testa­ment, die Heiligen Schriften Israels, zur Kenntnis nimmt. Es knüpft nämlich un­mittelbar an die Geschichte Gottes mit Is­rael, seinem Volk, an. Insofern ist es ein zutiefst jüdisches Hoffnungsbild. Eines, in dem die Gotteserfahrung des jüdischen Volkes samt seinen Krisen und Enttäu­schungen ihren Niederschlag gefunden hat. Es ist aber auch ein christliches Hoffnungsbild, weil wir Christen um Jesu willen an Israels Gotteserfahrung wie auch an seinen Gotteskrisen Anteil haben dür­fen. „Juden und Christen leben auch in der Trennung aus der gemeinsamen Geschich­te Gottes mit seinem Volk, dessen Vollen­dung sie erwarten“ – so formuliert diesen für den christlichen Glauben grundlegen­den Sachverhalt die Erklärung zum The­ma „Christen und Juden“, die auf der Ta­gesordnung dieser Synode steht.

II

Jerusalem – das war zunächst nichts wei­ter als eine bescheidene Stadt im rauhen und unwirtlichen Bergland von Judäa. Sie war in keiner Weise – weder wirtschaftlich, noch kulturell – konkurrenzfähig mit Metropolen der antiken Welt, etwa mit Athen, Alexandria oder Rom. In dieser Stadt aber fand das jüdische Volk seine Mitte. Dort war der Tempel, das Heilig­tum am Zion, an dem Israels Gott seinen Namen wohnen ließ, und von dem aus sein Segen, seine heilmachende und lebens­gestaltende Kraft auf das ganze Volk aus­strömte. Jerusalem – das sollte mehr als eine bloße Ansammlung von Menschen sein, mehr als das, was man heute in ent­larvender Technokratensprache einen Bal­lungsraum nennt, nämlich heilige Stadt. Die Nähe Gottes sollte in ihr prägend und klärend auf menschliches Miteinander ausstrahlen. Jeder jüdische Mensch sollte sich in dieser Stadt am rechten Ort wissen dürfen, allen sollte sie das Gefühl der Zu­gehörigkeit, des Zuhauseseins vermitteln. Darüber hinaus aber sollte sie Mitte des Weltkreises sein, denn nach profetischer Erwartung sollten sich am Ende der Zei­ten alle Weltvölker versammeln, um ge­meinsam das in Jerusalem sichtbar auf­leuchtende Heil zu schauen.

Jerusalem – bis heute ist diese Stadt gleich­sam eine zu Stein gewordene Erwartung. Muss ich hinzufügen: einer Erwartung, die von der Wirklichkeit dieser Stadt wider­legt wird? Doch das wäre wohl etwas zu einfach. Denke ich an Jerusalem, so sehe ich vor meinem inneren Auge die riesi­gen Gräberfelder am Abhang des Ölbergs. Tausende von jüdischen Menschen haben hier, unmittelbar gegenüber dem Zion, der alten Stätte des Tempels, ihre letzte Ruhe gefunden, heimatliche Geborgenheit im Angesicht des heiligen Ortes – eines Or­tes, der für sie heilig bleibt, auch wenn von ihm her seit Jahrhunderten die Kup­pel des Felsendomes, eines zentralen muslimischen Heiligtums herüberleuchtet. Jerusalem – dazu gehören für mich die Scharen frommer Juden, die jeden Frei­tagabend kurz vor Sonnenuntergang von allen Seiten her eilends der Westmauer des Tempels zustreben, um dort mit Gebet und Gottesdienst den Schabbat, den von Gott geschenkten festlichen Tag der Ruhe zu begehen. Jerusalem – das sind die dumpfen Schläge der Glocke der Grabeskirche, die Christen aller Konfessionen zur An­dacht am Ort des Todes und Grabes Jesu von Nazaret rufen, jenes Juden, der für sie zum Bringer des Heiles geworden ist. Auch wenn ich als evangelischer Christ gelernt habe, dass es auf Erden keinen Ort und keine heilige Stadt in dem Sinne ge­ben kann, dass das Heilige unmittelbar in ihr fühlbar und greifbar gegenwärtig ist, ist für mich Jerusalem eine besondere Stadt: Eine Stadt, die wie keine andere sichtbar gezeichnet ist von den Spuren seiner Geschichte mit Israel und der Menschheit, die sich in seine Steine ein­gegraben haben.

Eingegraben haben sich aber nicht min­der deutlich die Narben von Zerstörung, Unheil und Krisen. Das heutige Jerusalem steht auf meterhohen Schuttschichten, unter denen in der Vergangenheit der Stolz und Schönheit der Stadt, und damit auch ihre Hoffnungen auf Heil und bleibende Gottesnähe immer wieder begraben wur­den. Bis heute ist Jerusalem eine Stadt in der Krise geblieben. Kaum ein Tag ver­geht, ohne dass uns die Medien daran er­innern: Jerusalem ist eine Stadt, in der das Zusammenleben von Menschen aus ver­schiedenen Völkern und Religionen schmerzlich misslingt, eine Stadt, deren Hoffnung, Ort der Erfahrung heilvoller Nähe Gottes zu sein, scheitert. Das Lei­den daran, dass die Zusage der Nähe Got­tes für Jerusalem zum Anlass für Größen­wahn und Überheblichkeit geworden ist sowie die Klage über Gottes Gericht ge­hören auch zum biblischen Zeugnis über diese Stadt. Und gerade in solchem Lei­den und solcher Klage können wir uns mit unserem Entsetzen über das Geschick glänzender und stolzer Städte in unserem Lande wiederfinden. So hat Rudolf Mauersberger, der Leiter des Dresdener Kreuzchores, am Karfreitag 1945 die Kla­ge um seine vernichtete Stadt mit der bi­blischen Klage um das zerstörte Jerusa­lem verschmolzen: „Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war“

III

Doch menschliche Klage bleibt nicht das letzte Wort der Heiligen Schrift über Je­rusalem. Das letzte Wort ist ein Schöpfungswort Gottes. Wie am Anfang der Bibel, so tritt auch an ihrem Ende Gott als der Schöpfer in Erscheinung. Der Profet Johannes hört Gott selbst sprechen: „Siehe, ich mache alles neu!“ Diese letzte direkte Gottesrede in der Bibel dürfen wir als abschließende Willenserklärung Got­tes hören. Die Schöpfung ist also nicht ein vergangenes Kapitel des Handelns Gottes, das er mit einem Akt der Auslöschung und Vernichtung schließt. Gott bleibt vielmehr seiner Schöpfung treu. Auch das kommen­de Neue wird Schöpfung sein – erneuerte, eindeutig gewordene Schöpfung. Gedan­kenlose Unkenntnis hat dazu geführt, dass der griechische Titel des letzten Buches der Bibel. Apokalypse, umgangssprachli­che Bezeichnung von Untergang und Ka­tastrophe geworden ist. In Wahrheit offen­bart dieses Buch die Treue Gottes zu sei­ner Schöpfung, seine bleibende und un­verbrüchliche Zuwendung zur Welt.

Inbegriff und Sinnbild dieser Treue Got­tes ist die heilige Stadt, das neue Jerusa­lem. Johannes sieht sie auf die erneuerte Erde herabkommen, „bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann“. Ich darf aus diesem sprechenden Bild heraus­hören: Für Gott ist seine Geschichte mit dem alten Jerusalem, jener Stadt im judäischen Bergland, weder eine belang­lose Episode, noch ein gescheitertes Ex­periment. Er steht vielmehr zu ihr. Die Hoffnung auf seine Nähe und Zuwendung, die Gott dieser Stadt eingestiftet hatte, ist nicht durch ihre Krise und ihr Versagen widerlegt, sondern wird bekräftigt und erneuert. Gott spricht auch sein abschlie­ßendes Ja den Erwartungen der Möglich­keit eines heilvollen Miteinanders von Menschen, auf Begegnung, Nähe und Ver­stehen, der Sehnsucht nach Geborgenheit und Heimat, die sich mit Jerusalem ver­banden. Wenn Gott seine Herrschaft end­gültig durchsetzt, dann wird diese Herr­schaft jene Hoffnung einlösen, für die das irdische Jerusalem nur ein ungenaues und bruchstückhaftes Zeichen gewesen ist.

Die Vision des Johannes von der zukünf­tigen Gottesstadt widersetzt sich dem Ver­such, Einzelheiten des zukünftig zu erwar­tenden Heils auszumalen. Das ist gut so. Das Unvorstellbare läßt sich nicht in den Bereich unserer Vorstellungen hineinzie­hen. Ihre Bildersprache bleibt in strenger Konzentration beim Wesentlichen und Zentralen dieses Heils. So zunächst, wenn das Bild der Stadt hinüberfließt in das Bild der hochzeitlich geschmückten Braut. Entscheidendes Merkmal der Gottesstadt wird ihre enge, unmittelbare Gemeinschaft mit Gott und mit Jesus Christus sein. Und diese Gemeinschaft wird auch das Mitein­ander ihrer Bewohner bestimmen. Als Söhne und Töchter Gottes werden wir – zusammen mit Jesus Christus, dem Sohn – aus Gott und mit Gott leben. Nicht in zeremonieller Distanz, sondern in gleich­sam familiärer Nähe. Sein Volk werden wir sein: Biblische Heilshoffnung ist weder individualistisch noch elitär. Sie weiß weder etwas von einer Loslösung des ein­zelnen von der Welt, dem Bereich der Leiblichkeit, noch von einem Eintauchen in eine immaterielle Welt des Göttlichen. Sie ist vielmehr leibhaft und ge­meinschaftsbezogen. Die neue Schöpfung wird die Bestimmung der Menschen zum Miteinander, die schon in der alten Schöp­fung gegeben war, nicht zurücknehmen, sondern ihr Raum zur Verwirklichung schaffen. Alles, was sich hier und jetzt trennend zwischen die Menschen schiebt, wird dann keine Macht mehr haben über die von Gott zur Gemeinschaft mit ihm erwählten. Ich weiß nicht, wer zum Kreis dieser Erwählten gehören wird. Aber ich bin sicher: Es werden unendlich sehr viel mehr sein als ich mir jetzt vorstellen kann und mag: Menschen aus anderen Völkern und Rassen, nicht nur Christen, sondern auch Juden. Und ob wohl nicht auch Men­schen aus anderen Religionen dabei sein werden? Sie alle werden sein Volk sein.

IV

Die Gottesstadt, das himmlische Jerusa­lem, ist mehr als nur Bild zukünftiger Er­wartung. Dies ist ja unser Privileg als christliche Gemeinde, dass wir seit der Auferstehung Jesu Christi, seit Ostern, bereits im Horizont erfüllter Erwartung leben. So will die Schlußvision der Johannesoffenbarung nicht als Ausblick auf eine ferne Zukunft verstanden werden, sondern als Entfaltung dessen, was gegen­wärtige Erfahrung der Gemeinde ist. „Sie­he, ich mache alles neu!“ – dieses sein letz­tes Wort hat Gott bereits in der Einsetzung Jesu Christi zum endzeitlichen Welt­herrscher in Erfüllung gehen lassen. Und weil das so ist, darum sind wir Christin­nen und Christen dazu berufen, Anwälte des Neuen, der von Gott ausgehenden heil­vollen Veränderung in der Welt zu sein. Davon, wie solche Veränderung gesche­hen kann, soll nun noch kurz die Rede sein. Anlass dafür gibt die Erklärung zur Er­neuerung des Verhältnisses zwischen Chri­sten und Juden, die in den nächsten Tagen auf der Tagesordnung der Synode stehen wird.

Es wäre vermessen und realitätsblind, wenn wir als Christinnen und Christen, oder wir als Bayerische Landeskirche meinten, wir selbst wären es, die von uns aus einen Neuanfang im Verhältnis zwi­schen Christen und Juden machen könn­ten. Ein Neuanfang nach so unendlich vie­lem Katastrophalem und Schrecklichem, nach jahrhundertelanger Entfremdung, Verleumdung und Verurteilung kann nur von Gott ausgehen. Allein Gottes Macht zur Neuschöpfung, sein Wort „Siehe, ich mache alles neu“, kann einen Neuanfang ermöglichen. Bitten wir also Gott darum, dass er durch seinen lebenschaffenden Geist, die Mauer von Verschweigen, Ver­drängen und Vergessen, die wir zwischen uns und jüdischen Menschen aufgerichtet haben (und zwar nicht erst in diesem un­heilvollen Jahrhundert, sondern im Ver­lauf vieler Jahrhunderte!), zum Einsturz bringt. Sicher: von unserer christlichen Seite her – und nur für die darf ich hier reden! – ist Vieles kritisch aufzuarbeiten an Schuld, an Versagen und Versäumten. Aber das kann noch nicht alles sein. Got­tes Geist muss die vermeintliche Sicher­heit des Trennenden, hinter das wir uns vor dem Anderen, Fremden so gern zu­rückziehen. um uns seiner Herausforde­rung nicht stellen zu müssen, aufbrechen. Er allein kann uns die Freiheit dazu schen­ken, dass wir nicht zuerst ängstlich nach den Grenzen fragen, die uns Christinnen und Christen von Menschen jüdischen Glaubens scheiden, sondern mit dem schöpferischen Handeln Gottes rechnen, das uns die Augen für Gemeinsames öff­net und unsere Ohren bereit macht, das Zeugnis jüdischer Menschen von ihrer Gotteserfahrung und ihrer lebendigen Hoffnung zu hören. Es könnte sehr wohl sein, dass wir uns dann einander begeg­nen in der gemeinsamen Hoffnung auf das himmlische Jerusalem, auf Gottes Handeln leibhafter Vollendung.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Gehalten auf dem Gottesdienst zur Eröffnung der Landessynode der ELKB, o.J..

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