Karl Barth, Kierkegaard und die Theologen (1963): „Ihre Verzweiflung wurde zur getrosten Verzweif­lung. Ihr Beruf und die ihnen in ihm widerfahrene Anfechtung trat in das Zeichen der Hoffnung. Sie fanden den Trost der so kümmerlichen Christen, der auch der Trost der ganzen Welt und so auch ihr eigener Trost ist, statt in irgend etwas, was der Mensch von sich aus für Gott sein und tun könnte, in dem, was Gott in der Majestät seiner freien Gnade für ihn und mit ihm getan hat, noch tut und wieder und endgültig tun wird. Sie konnten die Theologie von dort aus weder offen noch heimlich mit einer Existentialphilosophie vertauschen.“

Kierkegaard und die Theologen

Von Karl Barth

Es gibt Theologen, die von Kierkegaard wohl einiges gehört und wohl auch gelesen haben mögen, die aber nie durch seine Schule gegangen sind. Sie mußten ihm nicht standhalten. Sie kamen irgendwie an ihm vorbei. Ob sie mehr orthodox oder mehr libe­ral, mehr pietistisch oder evangelistisch oder sozial oder politisch, mehr spekulativ oder mehr aktivistisch denken, ob ihre Predigt oder der Unterricht oder die Seelsorge oder gelehrte Wissenschaft ihre Stärke ist — sie zeichnen sich aus durch eine letztlich nie ver­sagende Munterkeit ihrer Aussagen und ihrer Hal­tung. Ihr Beruf als solcher bedeutet ihnen keine An­fechtung. Sie wissen Bescheid und so kennen sie keine ernstliche Verlegenheit. Sie sehen das Christen­tum und ihre Stellung als seine Vertreter fest einge­baut in das Gefüge der sonstigen Elemente und Funktionen der menschlichen Gesellschaft. Sie freuen sich, es und damit ihr eigenes Tun von allen guten Menschen gebilligt und grundsätzlich aner­kannt zu sehen. Sie sind unter ihnen nicht in der Fremde, sondern bei ihnen als ihresgleichen zu Hause. Sie finden sich wie mit sich selbst, wie mit der Kirche, wie mit der Welt so auch mit Gott, von gelegentlichen ungefährlichen Störungen abgesehen, im besten Frieden. Kierkegaard hat für sie umsonst gelebt, gelitten, gestritten.

Es gibt andere Theologen, die haben sich in Kier­kegaard tief und immer tiefer hineingelesen: so tief, daß sie sich nicht mehr aus ihm herauslesen konnten und also in der obersten Klasse seiner Schule sitzen- blieben. Der unendliche qualitative Unterschied zwi­schen Gott und Mensch mit allen seinen Konsequen­zen hat sich in sie hineingefressen. Sie sehen sich selbst und die Anderen, die Kirche und die Welt umgeben von lauter drohenden Negationen. Ihr Be­ruf ist ihnen eine einzige Anfechtung, das wahre, das authentische Christentum ein einziger Angriff gegen alles sonstige Christentum. Ihr Thema ist die Erret­tung der menschlichen Existenz in der immer neuen Erkenntnis ihrer schlechthinnigen Fragwürdigkeit. Ihre Botschaft ist die Fülle des wieder und wieder von allen Inhalten zu reinigenden Vakuums. Ihre betrübte Lust oder lustige Betrübtheit ist die Ironie, von der sie Alle und alles überschüttet sehen und ih­rerseits überschütten: ein Emst, der ihnen nie erlaubt, ganz ernst zu werden, ein Lächeln, das nie zum La­chen werden darf. Wenn sie es dem Meister auch praktisch nicht in allem gleich tun, sich z. B. nicht nur verloben, sondern normal verheiraten, so wer­den sie doch in ihrem Wandel und in ihrer Lehre und evtl, auch in ihren Schriften und Büchern so sichtbar als möglich zu machen suchen, daß sie es weder aufs Stehen noch aufs Liegen, sondern aufs Schweben abgesehen haben und daß es sie tief ver­stimmt, wenn ihre Umgebung es nicht ebenfalls mit dem Schweben versucht. Kierkegaard ist ihnen zum System geworden.

Auch eine dritte Art von Theologen hat Kierke­gaard gelesen und ist durch seine Schule gegangen — aber eben durch sie hindurchgegangen. Auch ihnen widerfuhr durch ihn ein Erschrecken, eine Erschüt­terung angesichts der hohen Fremdartigkeit des Chri­stentums, der Neuheit seiner Botschaft und der Strenge seiner Forderung, ein Erschrecken angesichts der in ihm aufgedeckten Problematik der mensch­lichen Existenz. Auch sie konnten den von Kierke­gaard empfangenen Anstoß nicht mehr loswerden, dem Schlummer einer bloß ästhetischen Frömmig­keit nicht mehr verfallen, zu den Fleischtöpfen einer bourgeoisen Christlichkeit und Kirchlichkeit alter­tümlicher oder moderner Färbung nicht zurückkeh­ren, das im Evangelium ausgesprochene Nein zur Welt und zur Kirche nie mehr überhören und ver­schweigen. Sie konnten es aber, und das führte sie über Kierkegaard hinaus, nur noch vernehmen und bezeugen als das von Gottes Ja umschlossene Nein, als das Feuer seiner Liebe, die nicht nur auf diesen und jenen Einzelnen, sondern auf die ganze gottlose Welt zielt und als solche von der Kirche verkündigt sein will. So erst konnten sie gerade die wahrhafte Schärfe dieses Nein verstehen und geltend machen. Es verlor seinen philosophischen, seinen prinzipiellen Charakter. Es konnte, ohne darum zu verstummen, nicht mehr das ihnen selbst und den Anderen auf­erlegte Gesetz und also nicht mehr ihr Thema sein.

Ihre Verzweiflung wurde zur getrosten Verzweif­lung (desperatio fiducialis, Luther). Ihr Beruf und die ihnen in ihm widerfahrene Anfechtung trat in das Zeichen der Hoffnung. Sie fanden den Trost der so kümmerlichen Christen, der auch der Trost der ganzen Welt und so auch ihr eigener Trost ist, statt in irgend etwas, was der Mensch von sich aus für Gott sein und tun könnte, in dem, was Gott in der Majestät seiner freien Gnade für ihn und mit ihm getan hat, noch tut und wieder und endgültig tun wird. Sie konnten die Theologie von dort aus weder offen noch heimlich mit einer Existentialphilosophie vertauschen, sie weder direkt noch indirekt den Struk­turen einer solchen anpassen. Sie mußten von dort aus ebenso ganz ernst werden wie ganz hell lachen. Sie konnten von dort aus ein wenig menschlicher werden. Für die Ironie hatten sie keine Verwendung mehr. Schweben zu wollen war für sie kein Bedürfnis mehr. Dafür durften sie gehen lernen. Eben dazu mußten sie aber noch andere Schulen besuchen als die Kierkegaards.

Quelle: Kirchenblatt für die reformierte Schweiz, 119. Jg., Nr. 10, 16. Mai 1963, S. 150f.

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