Harald Weinrich, Vergeben und Vergessen (Lethe): „Die Gottvergessenen sind hier gemeint, die den Gedächtnispakt mit dem Herrn Israels brechen. Ihre Namen werden in den Staub (Luther: in die Erde) geschrieben. Dieses Schreiben dient hier also nicht der Erinnerung, sondern dem Vergessen. Es bleibt jedoch, was Jesus be­trifft, ein ambivalentes Vergessen.“

Vergeben und Vergessen

Von Harald Weinrich

Das Christentum ist, ebenso wie das Judentum und der Islam, eine Buchreligion. In seinem Zentrum steht ein Buch, die Heilige Schrift. Bemerkenswert und in gewisser Weise paradox ist jedoch die Tatsache, daß Jesus von Nazareth, der Stifter dieser Religion, selber keine ein­zige Zeile geschrieben hat. Er hat nur mündlich gelehrt und seine Heilsbotschaft ganz dem Gedächtnis anvertraut: „Tut dies zu meinem Andenken!“ Dieses Abendmahlswort kann als Stiftungsakt des Chri­stentums angesehen werden. Erst mehrere Generationen später und zunächst in beiläufiger Form ist die christliche Lehre auch schriftlich fixiert worden, und daraus ist dann im Laufe der Jahrhunderte der biblische Kanon des Neuen Testaments entstanden.

Oder hat Jesus doch einmal geschrieben? Ein einziges Mal nämlich berichtet der Evangelist Johannes von einer Begebenheit, in deren Ver­lauf Jesus schreibend vorgestellt wird. Doch ist die Szene nur bei diesem einen Evangelisten überliefert, so daß sie von den maßgebli­chen Bibel-Theologen nicht zum ursprünglichen Bestand der Evange­lien gerechnet wird. Sie ist jedoch in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen worden. Wäre das nicht der Fall, wüßten wir gar nichts von einem schreibenden Jesus.

Zu bemerken ist ferner, daß Jesus nur mit dem Finger auf die Erde schreibt, und keiner weiß, was er dort in den Sand oder in den Staub geschrieben hat. Es ist nicht einmal gewiß, ob er wirkliche Schrift geschrieben oder vielleicht nur in den Sand gemalt oder „gekritzelt“ hat. Die Szene steht bei Johannes im 8. Kapitel und hat in der Ein­heitsübersetzung den folgenden Wortlaut:

Jesus aber ging zum Ölberg. Am frühen Morgen begab er sich wieder in den Tempel. Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es. Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vor­geschrieben, solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst du? Mit dieser Frage wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn zu verklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie hartnäckig weiter­fragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie seine Antwort ge­hört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Älte­sten. Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete: Keiner, Herr. Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!

Wir können uns die Szene gut vorstellen. Jesus lehrt im Tempel, na­türlich in mündlicher Form. Nichts erfahren wir davon, daß im jüdi­schen Tempel die Thora aufbewahrt wird, die Heilige Schrift, die auch von Jesus bis zum letzten Jota als Gottes geschriebenes Wort angese­hen wird. Oft beginnt ja sonst seine eigene Lehre mit den Worten: „Es steht geschrieben …“ (zum Beispiel Matth. 21,13 – die Szene spielt ebenfalls im Tempel). Gegenüber dieser Heiligen Schrift gesteht er sich selber nur das Recht der autoritativen Auslegung zu.

Aber gerade das ist ein Ärgernis für die „Schriftgelehrten und Pha­risäer“. Mit Niedertracht und Bosheit inszenieren sie Situationen, in denen sie Jesus Fangfragen stellen können. So auch in der oben zitier­ten Johannes-Geschichte. Sie zerren, offenbar mit Gewalt, eine Ehe­brecherin herbei, die in flagranti ergriffen worden ist. Auf Ehebruch steht nach dem mosaischen Gesetzbuch unter bestimmten Bedingun­gen die Todesstrafe durch Steinigung. Das wissen natürlich die Schriftgelehrten und die Pharisäer, und das weiß auch Jesus. Wenn in diesem Fall also nach der Überzeugung der Ankläger das Delikt des Ehebruchs erwiesen ist, wie wird dann der Rabbi aus Nazareth das mosaische Gesetz auslegen, und wie wird er es vor Zeugen auf diesen Fall anwenden? Wird er also die Ehebrecherin streng nach dem Gesetz verurteilen, oder wird er der Sünderin „christlich“ verzeihen?

Dies ist die verfängliche Situation, in der Jesus seine mündliche Lehre nicht fortführt, sondern statt dessen schweigend mit dem Fin­ger auf die Erde schreibt, und zwar offenbar in einem längeren Schreibakt, der einmal durch seine mündliche Antwort unterbrochen wird. Man kann Jesu Verhalten zweifellos als eigenartig empfinden. Das wird indirekt durch ein späteres Zeugnis aus der christlichen Kir­chengeschichte bestätigt. Der hl. Jean-Baptiste de la Salle (1651-1719) lehrt nämlich einmal in einer Schrift über die Regeln christlicher Höf­lichkeit: „Wenn man irgendwo sitzt, darf man sich nicht eines Stäb­chens oder Stockes bedienen, um auf die Erde zu schreiben oder dort Figuren zu zeichnen: solches erweckt den Eindruck, daß man ver­träumt oder schlecht erzogen ist.“

Ungefähr wie hier getadelt, muß auch das Benehmen des Mannes aus der galiläischen Provinz auf seine hauptstädtischen Gegner ge­wirkt haben. Sie wollten den Rabbi provozieren und werden von ihm selber doppelt provoziert, einmal durch sein skandalös unaufmerk­sames In-den-Sand-Schreiben, dann durch sein empörend imperti­nentes An-der-Sache-vorbei-Reden, das sie als moralische Personen in Frage stellt. Dem sind sie nicht gewachsen, und so wagt es keiner der Anwesenden, mit der Steinigung zu beginnen. Niemand von ih­nen ist offenbar sündenfrei, vielleicht auch gerade von dieser Sünde nicht frei.

Jesus bleibt mit der Sünderin allein. Wird er sie nun verurteilen, wie das mosaische Gesetz es verlangt? Wird er das Gesetz vielleicht sogar, wie er es in der Bergpredigt (Matth. 5,28) getan hat, unter Einschluß des bloß in Gedanken vollzogenen Ehebruchs, moralisch verschärfen? Hier, vor dem Tempel von Jerusalem, verurteilt Jesus die Ehebrecherin nicht und begnügt sich mit der Ermahnung: „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“

Jesus und die Ehebrecherin: das ist ein archetypisches Bild christ­lichen Vergebens und Verzeihens. Denn die Litotes „nicht verurteilen“ (Luther: „nicht verdammen“) bedeutet nichts anderes als Vergeben im Sinne des Vaterunsers „Und vergib uns unsere Schuld“, mit der an­schließend gelobten Vergebensreplik: „wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“. Nicht bedingungslos ist also das Vergeben unter Chri­sten zu haben; auch bei der Ehebrecherin des Johannes-Evangeliums gilt es ja nur unter der Bedingung, daß die Sünderin ihren Lebenswan­del in Zukunft ändert. Aus all dem wird später, wie man weiß, die christliche Buß- und Beichtpraxis. Alle Sünden, selbst die „Todsün­den“, können von Gott vergeben werden, wenn der Christ sie bereut, Buße tut und auf den Weg der Tugend und Gerechtigkeit zurückkehrt.

Schließt dieses Vergeben nun auch das Vergessen ein, wie es das seit alters in der deutschen Sprache gebräuchliche Wortpaar „vergeben und vergessen“ (engl. forgive and forget) nahelegt? Das muß vor dem Hintergrund einer anderen Bibelstelle erwogen werden, an die Jesus selber wahrscheinlich gedacht hat. In einem Gebet des verfolgten Pro­pheten Jeremias steht folgendes zu lesen:

Du Hoffnung Israels, Herr! / Alle, die dich verlassen, werden zuschanden,
die sich von dir abwenden, / werden in den Staub geschrieben;
denn sie haben den Herrn verlassen, / den Quell lebendigen Was­sers. (Jer. 17,13)

Die Gottvergessenen sind hier gemeint, die den Gedächtnispakt mit dem Herrn Israels brechen. Ihre Namen werden in den Staub (Luther: in die Erde) geschrieben. Dieses Schreiben dient hier also nicht der Erinnerung, sondern dem Vergessen. Es bleibt jedoch, was Jesus be­trifft, ein ambivalentes Vergessen. Nach Jeremias ist denkbar, daß Je­sus seine Versucher dem Vergessen überantwortet hat, indem er ihre Namen in den Sand geschrieben hat. Tatsächlich sind diese Namen ja, wenn nicht von Gott, so doch von der Geschichte vergessen worden. Vielleicht hat er aber auch, und das scheint mir von seiner Botschaft her näher zu liegen, die Schuld der Sünderin vergessen wollen, sofern sie zum „Quell lebendigen Wassers“ zurückkehrt. So jedenfalls ist seine Lehre immer verstanden worden. Vergeben und Vergessen ge­hören demnach zusammen, sind zwei Seiten einer und derselben Sa­che. Mir scheint, ebendies ist in der biblischen Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin mit geradezu mnemotechnischer Eindringlich­keit (als imago agens) ins Bild gesetzt worden. Denn während das Vergeben in Worte gefaßt wird („nicht verurteilen“), ist das Vergessen, das mit dem Vergeben einhergeht und es als weiterer Begriff umfaßt, in der Geste dessen enthalten, der hier als Herr über Erinnern und Vergessen die Schuld in den Sand schreibt.

Quelle: Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München: C.H. Beck, 32000, S. 210-213.

Hier der Text als pdf.

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