Søren Kierkegaard, Die Unerklärlichkeit des Todes (Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten, 1845): „Die Unerklär­lichkeit ist die Grenze, und die Bedeutung der Aussage ist allein, dem Gedanken des Todes rückwirkende Kraft zu geben, ihn zu einem Ansporn im Leben zu machen, weil mit der Entscheidung des Todes es vorüber ist, und weil die Ungewissheit des Todes jeden Augenblick nachsieht.“

Die Unerklärlichkeit des Todes

Von Søren Kierkegaard

Endlich muß von der Entscheidung des Todes gesagt werden, daß sie unerklärlich ist. Mögen nämlich die Men­schen auch eine Erklärung finden: der Tod selbst erklärt nichts. Denn falls du ihn zu Gesicht bekommen könntest, den bleichen unfrohen Schnitter, wie er da müßig stünde auf seine Sense gestützt, und du gingest zu ihm hin, es sei nun, daß du meintest, dein Lebensüberdruß müsse dir seine Gunst eintragen, oder auch, deine brennende Sehnsucht nach dem Ewigen solle ihn rühren, du legtest deine Hand ihm auf die Schulter und sprächest: ›erkläre dich, nur ein Wort‹ – glaubst du, er gäbe Antwort? Ich denke, er würde es nicht einmal merken, daß du ihm die Hand auf die Schul­ter legtest und zu ihm sprächest. Oder wo der Tod käme, ach, so gelegen, ach, als der größte Wohltäter, als ein Erlö­ser, wo er käme und den Menschen davor rettete die Schuld auf sich zu laden, für die es im Leben keine Reue gibt, weil die Schuld dem Leben ein Ende macht, falls nun jener Un­glückliche dem Tode dankte, weil er ihm das Begehrte brächte und ihn daran hinderte schuldig zu werden, glaubst du, daß der Tod ihn verstünde? Ich denke, er würde nicht ein Wort von dem hören, was der Mensch sagte; denn er erklärt nichts. Ob er kommt als die größte Wohltat oder als das größte Unglück, ob er mit Jubel begrüßt wird oder mit verzweifeltem Widerstand, davon weiß der Tod nichts, denn er ist unerklärlich. Er ist der Übergang; über die Be­ziehung weiß er nichts, schlechthin nichts.

Siehe, diese Unerklärlichkeit bedarf ja wohl einer Erklä­rung. Aber darin liegt eben der Ernst, daß die Erklärung nicht den Tod erklärt, sondern offenbar macht, wie der Er­klärende ist in seinem innersten Wesen. O, ernste Mahnung daran, langsam zu sein zu reden. Muß man auch lächeln, wenn man die Gedankenlosigkeit die stützende Hand unter das grübelnde Haupt setzen sieht, das die Erklärung her­ausfinden soll, muß man auch abermals lächeln, wenn dieser Denker dann mit der Erklärung herausrückt; oder wenn selbst die leichtfertigsten Gedanken, so als ob es sich um ein allgemeines Aufgebot handelte, im Vorübergehen zur Hand sind mit einem erklärenden Einfall, einer erklärenden Bemerkung, indem sie die seltene Gelegenheit sich zunutze machen, da der Tod ja für alle ein unerklärliches Rätsel ist: ach, der richtende Ernst über solch Gebaren ist, daß der Er­klärende sich selbst zur Anzeige bringt, daß er verrät, wie gedankenlos, wie töricht sein Leben ist. Daher ist ein Zurückhalten mit der Erklärung bereits ein Zeichen für einigen Ernst, der doch versteht, der Tod sei, eben weil er nichts ist, nicht so etwas wie eine wunderliche Inschrift, welche jeder Vorübergehende versuchen soll zu lesen, oder wie eine Merkwürdigkeit, die jeder gesehen haben muß, über die jeder eine Meinung haben muß. Das Entscheidende an der Erklärung, das, was es hindert, daß das Nichts des To­des nicht die Erklärung zu einem Nichts mache, ist dies,daß sie rückwirkende Kraft empfängt und damit zu einer Wirk­lichkeit wird im Leben des Lebendigen, so daß der Tod ihm zu einem Lehrer wird, und ihn nicht als ein Verräter zu einer Selbstanzeige bringt, die den Erklärer als Toren an­gibt.

Als das Unerklärliche kann der Tod ja das scheinen, das alles und gar nichts ist, und die Erklärung scheint die zu sein, dies auf einmal auszusagen. Eine solche Erklärung zeigt ein Leben an, welches, an dem Gegenwärtigen sich genügen lassend, wider den Einfluß des Todes sich mit einer Stimmung wehrt, die diesen im Gleichgewicht der Unentschiedenheit hält. Der Tod erhält keine Macht, solch ein Leben zu stören, erhält dahingegen Einfluß, jedoch nicht rückwirkende Kraft dazu, solch ein Leben umzubilden. Die Erklärung wechselt nicht in verschiedenen Stimmungen, sondern der Tod wird jeden Augenblick außerhalb des Le­bens gehalten im Gleichgewicht der Unentschiedenheit, das ihn auf Abstand bringt. Und der höchste Mut des Heiden­tums ist es gewesen, wenn der Weise (dessen Ernst eben damit gekennzeichnet war, daß er mit der Erklärung sich nicht übereilte) auf die Art mit dem Gedanken an den Tod zu leben vermochte: indem er diesen Gedanken jeden Augenblick mittels der Unentschiedenheit überwand. Das irdische Leben wird also ausgelebt; der Weise weiß, der Tod ist da; er lebt nicht gedankenlos vergessend, daß der Tod da ist, er begegnet sich mit ihm in Gedanken, er macht ihn unmächtig in der Nichtbestimmbarkeit, dies ist sein Sieg über den Tod; aber der Tod kommt nicht dazu das Leben umbildend zu durchdringen.

Als das Unerklärliche könnte der Tod das höchste Glück scheinen. Eine solche Erklärung verrät ein Leben in kindi­schem Wesen, die Erklärung ist als dessen letzte Frucht: Aberglaube. Der Erklärende hatte die Vorstellung des Kin­des und Jünglings vom Angenehmen und Unangenehmen, und das Leben ging hin, er sah sich getäuscht, er ward älter an Jahren nicht an Gemüt, er ergriff nichts Ewiges: da sam­melte das kindische Wesen in ihm sich auf eine überspannte Vorstellung davon, daß der Tod kommen und alles in Er­füllung gehn lassen solle; er wurde nun der begehrte Freund, der Geliebte, der reiche Wohltäter, der alles zu verschenken habe, dessen Erfüllung der Kindische im Leben vergeblich gesucht. Bisweilen wird leichtfertig und vorwitzig von die­sem Glücke geredet, bisweilen wehmütig, bisweilen drängt sich der Erklärende sogar laut vor mit seiner Erklärung, und will andern helfen; aber sie verrät lediglich, wie der Er­klärende in seinem Innern ist, daß er nicht die Rückwirkung des Ernstes verspürt hat, sondern kindisch vorwärts hastet, kindisch auf den Tod hofft, gleichwie er es getan auf das Leben.

Als das Unerklärliche kann der Tod das größte Unglück scheinen. Aber diese Erklärung zeigt an, daß der Erklärende feige am Leben hängt, vielleicht feige wegen der Lebens­gunst, vielleicht feige wegen des Lebensleidens, so daß er das Leben fürchtet, jedoch den Tod noch mehr fürchtet. Rückwirkende Kraft empfängt der Tod nicht, das will hei­ßen, nicht vermöge der Auffassung, denn sonst allerdings ist er rückwirkend, insofern, als er dem einen die Gunst des Glückes freudenlos werden läßt, dem andern irdisches Lei­den hoffnungslos macht.

Die Erklärung hat denn auch noch andere kennzeich­nende Namen gebraucht, sie hat den Tod einen Übergang genannt, eine Verwandlung, ein Leiden, einen Streit, den letzten Streit, eine Strafe, der Sünde Sold. Jede dieser Er­klärungen enthält eine ganze Lebensanschauung. O, ernste Aufforderung an den Erklärenden! Leicht ist es sie alle aus­wendig herzusagen, leicht, den Tod zu erklären, wenn es keine Überwindung kostet, nicht verstehen zu wollen, die Rede sei davon, daß die Erklärung rückwirkende Kraft im Leben empfange. Warum doch will jemand den Tod ver­wandeln in einen Hohn über sich; denn der Tod verlangt nach keiner Erklärung, er hat sicherlich noch nie einem Denker angesonnen, ihm behilflich zu sein. Der Lebendige aber verlangt nach der Erklärung, und warum? Um nach ihr zu leben.

Wofern zum Beispiel jemand meint, der Tod sei eine Ver­wandlung, so mag dies ja durchaus wahr sein, gesetzt nun aber die Ungewißheit des Todes, die gleich einem Lehrer umhergeht und alle Augenblicke nachsieht, ob der Schüler aufmerksam ist, gesetzt nun, sie entdeckte, die Meinung des Erklärenden sei ungefähr folgende: ›ich habe ein langes Leben vor mir, dreißig Jahre, ja vielleicht vierzig, und dann kommt dereinst der Tod als eine Verwandlung‹, was mag da wohl der Lehrer von diesem Schüler denken, der noch nicht einmal die Bestimmung der Ungewißheit am Tode be­griffen hat. Oder falls jemand meint, es sei eine Verwand­lung, die einmal eintreten werde, und die Ungewißheit des Todes nun nachsieht, und entdeckt, er warte nicht ungleich einem Spieler darauf als auf ein Begebnis, das einmal ge­schehen werde, was mag da wohl der Lehrer von diesem Schüler denken, der noch nicht einmal darauf aufmerksam wäre, daß mit der Entscheidung des Todes es vorüber ist, und daß die Verwandlung nicht in Reih und Glied treten kann mit den übrigen Begebnissen als ein neues Begebnis, weil da im Tode der Schluß gemacht ist?

Siehe, man kann eine Meinung haben über ferne Begeb­nisse, über einen Gegenstand der Natur, über die Natur, über gelehrte Schriften, über einen andern Menschen, und so noch über vieles andere, und wenn man diese Meinung äußert, so kann der Weise entscheiden, ob sie richtig oder unrichtig ist. Dahingegen macht niemand dem Meinenden Ungelegenheiten damit, daß er die andre Seite der Wahrheit betrachtet, ob man nun wirklich die Meinung habe, ob sie nicht etwas sei, das man aufsage. Und doch ist diese andre Seite ebenso wichtig, denn nicht bloß der ist ja wahnsinnig, der Sinnloses sagt, sondern ebenso der, welcher eine richtige Meinung hinredet, wenn diese für ihn schlechterdings und ganz und gar ohne Sinn ist. Der eine Mensch erzeigt dem andern das Vertrauen, die Anerkennung daß er annimmt, wenn er das sage, so sei es seine Meinung. Ach, und doch ist es so leicht, so überaus leicht, eine wahre Meinung zu bekommen, ach, und doch ist es so schwer, so überaus schwer, eine Meinung zu haben und sie in Wahrheit zu haben. Da der Tod nun der Gegenstand des Ernstes ist, so ist hier es wiederum der Ernst: daß man, was den Tod an­geht, sich nicht übereilen soll, eine Meinung zu bekommen. Die Ungewißheit des Todes nimmt sich ja allen Ernstes fort und fort die Freiheit nachzusehen, ob der Meinende diese Meinung wirklich habe, das heißt, ob sein Leben sie aus­drücke. In Beziehung auf anderes kann man eine Meinung äußern, und wenn dann verlangt wird, man solle kraft dieser Meinung handeln, das heißt, zeigen, daß man sie hat, so sind unzählige Ausflüchte möglich. Jedoch die Ungewißheit des Todes ist der gestrenge Hörer des Lehrlings; und wenn dieser dann die Erklärung aufsagt, so spricht die Ungewißheit zu ihm: ›nun, ich werde untersuchen, ob dies deine Meinung ist, denn jetzt, jetzt in diesem Augenblick ist es vorüber, für dich vorüber, es ist kein Gedanke an Aus­flüchte, es ist kein Buchstabe hinzuzusetzen, so bekomme ich zu sehen, ob du wirklich gemeint hast, was du von mir sagtest‹. Ach, alles leere Erklären, und alles Wortemachen, und alles Ausputzen, und alles Aneinanderreihen früherer Erklärungen um eine noch sinnreichere zu finden, und alle Bewunderung dafür und alles sich Mühen darum: alles dies ist nichts als Zerstreuung und Geistesabwesenheit in Ge­dankenferne – was mag wohl die Ungewißheit des Todes davon denken?

Darum soll die Rede sich jeglicher Erklärung enthalten; so wie der Tod das Allerletzte ist, so soll dies das Letzte sein, das über ihn gesagt wird: er ist unerklärlich. Die Unerklär­lichkeit ist die Grenze, und die Bedeutung der Aussage ist allein, dem Gedanken des Todes rückwirkende Kraft zu geben, ihn zu einem Ansporn im Leben zu machen, weil mit der Entscheidung des Todes es vorüber ist, und weil die Ungewißheit des Todes jeden Augenblick nachsieht. Die Unerklärlichkeit ist daher keine Aufforderung Rätsel zu ra­ten, keine Einladung dazu geistreich zu sein, sondern des Todes ernste Mahnung an den Lebenden: ›ich habe keine Erklärung nötig, du bedenke, daß mit dieser Entscheidung es vorüber ist, und daß sie jeglichen Augenblick zur Stelle sein kann; siehe, dies ist für dich wohl des Bedenkens wert.‹

An einem Grabe (Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten)

Quelle: Søren Kierkegaard, Vier erbauliche Reden, 1844; Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten, 1845, GW Abt. 13/14, Düsseldorf-Köln: Eugen Diederichs, 1964, S. 199-204.

Hier der Text als pdf.

Hinterlasse einen Kommentar