Kanzelwort des bayerischen Landesbischofs Hans Meiser vom Mai 1945: „Soll es je wieder besser werden mit unserem Volk, dann nur, wenn es aller Selbstüberhebung und allem Lügenstolz, allen Ungeistern und Abgöttern den Abschied gibt und sich zu dem Herrn, seinem Gott zurückfindet. Darum rufen wir unserem Volk und unseren Gemeinden zu: kehret heim zu Gott! Lernt wieder nach seinem Willen fragen und euch seinen Ordnun­gen beugen! Hört nicht länger auf die Sirenenstimmen falscher Propheten, holt euch Rat und Weisung allein bei dem Herrn!“

Nur 15 Tage nach der bedingungslosen Kapitulation und dem damit verbundenen Ende der NS-Herrschaft in Deutschland hatte der damalige bayerische Landesbischof Hans Meiser von Ansbach aus für die Kirchengemeinden ein Kanzelwort vorgesehen. Mit einer geschichtstheologischen Gegenwartsdeutung soll das Volk zur Umkehr gerufen werden, ohne dass Geschehnisse und Mitverantwortung beim Namen genannt werden. Meisers Kanzelwort hat einige Leerstellen …

Kanzelwort des bayerischen Landesbischof Hans Meiser zum Kriegsende 1945

948 Rundschreiben Nr. 901 des Landeskirchenrats an alle Pfarrämter.

Ansbach, 22. Mai 1945

LAELKB, 101/36-212

Das nachstehende Wort ist als ein Wort des Herrn Landesbischofs an die Gemeinden der Landeskirche in sämtlichen Gemeinden im nächsten Haupt­gottesdienst unter entsprechender Verkürzung der Predigt zu verlesen.

D. Meiser.

In den hinter uns liegenden 12 Jahren habe ich mich in mancher schweren Stunde mit einem Wort an euch gewendet. Damals ging es um die Not und Bedrängnis unserer Kirche. Wenn ich heute zu euch rede, stehen vor mir das namenlose Leid und der herzzerbrechende Jammer, die über unser deut­sches Volk gekommen sind. Noch nie im ganzen Verlauf seiner Geschichte ist unser Volk so in die Tiefe gestürzt, noch nie so völlig an den Rand des Unterganges geraten.

Wo ist heute in Deutschland ein Haus, in dem nicht Sorge, Kummer, Not, Anfechtung und Verzweiflung als dunkle Gäste eingekehrt sind? Wer zählt die Millionen Namen derer, die als Opfer des Krieges draußen in fremder Erde oder auf dem Grunde des Meeres liegen oder unter Schmerzen und Qualen in Lazaretten gestorben sind? Wie lange wird es dauern, bis wir über das Schicksal der vielen, vielen Vermißten und Gefangenen Gewißheit haben? Über wie viele wird nie eine Kunde zu uns gelangen! Welches Bild grauenhafter Verwüstung bieten unsere zahlreichen Städte und Dörfer! Wo sind sie alle hingeraten, die obdach- und heimatlos Gewordenen? Wovon fristen sie ihr Leben, denen oft nur die Kleider, die sie am Leibe tragen, ge­blieben sind? Wann werden sich die auseinandergerissenen Familien wieder zusammenfinden? Wer wird unserer Jugend, die einem verwüsteten Gar­ten gleicht, wieder Reinheit und Ehrfurcht ins Herz schenken? Wer wird sich um die Einsamen, Gebrechlichen, Alten annehmen und einen Strahl des Lichtes in die Dunkelheit ihres Daseins fallen lassen? Wenn wir alles überschauen, so sehen wir uns von einem Meer des Leides umwogt, in dem Ungezählte zu ertrinken drohen.

Wohl ist jetzt Waffenruhe eingetreten. Mancher Druck und manche Sorge sind damit von uns genommen worden. Aber wir würden uns täuschen, wenn wir glaubten, schon an das Ende aller Not gekommen zu sein. Neue Nöte tauchen auf, neue Bedrängnisse künden sich an. Wir sind in eine bit­terharte Schule genommen. Niemand kann ihr entlaufen. Wir sollen ihr aber auch gar nicht entlaufen wollen. Denn es ist Gottes Schule, in der wir stehen. Wir wären mit Blindheit geschlagen, wenn wir nicht erkennen wollten, daß es Gottes Gericht ist, das jetzt über die Welt ergeht. Über die ganze Welt, auch über unser Land und über jeden von uns persönlich. Dieser Tatsache haben wir uns zu beugen. Andere Völker und andere Menschen mögen sich mit dem Gericht befassen, unter dem sie stehen. Wir dürfen dem Ernst un­serer Lage nicht dadurch ausweichen, daß wir unser Leid messen an dem ihrigen, daß wir vergleichen und damit schließlich selbst richten wollen. Nicht wir sind die Richter. Richter ist allein Gott, der Herr. Unsere Aufgabe ist es, uns seinem Gericht zu stellen. Wenn wir das aber tun, dann müssen wir mit dem Propheten Daniel bekennen: „Wir haben gesündigt, Unrecht getan, sind gottlos gewesen, abtrünnig geworden. Wir sind von seinen Rech­ten und Geboten gewichen. Du, Herr, bist gerecht, wir aber müssen uns schämen.“ (Daniel 9, 5 und 7). Worte gegen die hohe Majestät Gottes sind unter uns geredet worden, wie sie nur der Geist aus dem Abgrund ersinnen kann; Taten sind geschehen, wie nur die Hölle sie ausschäumt, Ungezählte aus dem eigenen Volk und aus fremden Völkern und Rassen werden am Tag der Rechenschaft ankla­gend aufstehen. Wer wird dann vor Gott bestehen? Heute kann jeder sehen, wohin es führt, wenn ein Volk, das früher reiche Segnungen von Gott empfangen durfte, mit den besten Überlieferungen bricht. Wird das erste Gebot, daß man Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen soll, mißachtet, so gibt es auch keine Heiligung des Sonntags mehr, keine Autorität der Eltern, keine Unverletzlichkeit der Ehe, keine Rücksicht auf des Menschen Leben, Eigentum, Ehre und Recht; dann ist der Begehrlichkeit nach dem, was der andere hat, Tür und Tor geöffnet und als gut gilt, was dem Menschen nützt, nicht was Gott geboten hat.

Darum mußte zerfallen, was so kühn gebaut war, und in Trümmer gehen, worauf viele so stolz waren. Denn Gottes Wort bleibet bestehen: „Gerech­tigkeit erhöhet ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben“. (Spr. 14, 34). „Irret euch nicht! Gott läßt sich nicht spotten. Denn was der Mensch säet, das wird er ernten“. (Gal. 6, 7)

Es hat von seiten der beiden Kirchen nicht an Versuchen gefehlt, unser Volk und die es regierten, an ihre Verantwortung vor Gott und die Menschen zu erinnern; aber es schien, als wäre alles in den Wind geredet gewesen. So ernst und dringlich die Mahnungen waren, fanden sie doch nur bei wenigen Echo. Darum werden wir nun so hart gezüchtigt. Wir haben den Wind des Bösen gesät und müssen nun den Sturm der Leiden ernten.

Soll es je wieder besser werden mit unserem Volk, dann nur, wenn es aller Selbstüberhebung und allem Lügenstolz, allen Ungeistern und Abgöttern den Abschied gibt und sich zu dem Herrn, seinem Gott zurückfindet. Darum rufen wir unserem Volk und unseren Gemeinden zu: kehret heim zu Gott! Lernt wieder nach seinem Willen fragen und euch seinen Ordnun­gen beugen! Hört nicht länger auf die Sirenenstimmen falscher Propheten, holt euch Rat und Weisung allein bei dem Herrn! Laßt euch nicht aufs neue betrügen, noch in die Irre führen durch Weltanschauungen, von irrenden Menschen erdacht, sondern laßt das heilige, ewige Gotteswort, laßt Gesetz und Evangelium nach der Offenbarung der heiligen Schrift eures Fußes Leuchte und ein Licht auf eurem Wege sein! Seid nicht länger Verächter der heiligen Sakramente! Richtet die heilige Gottesordnung des Sonntags wie­der auf, die unser Volk so lange mit Füßen getreten hat! Denn der Glaube kommt aus der Predigt (Röm. 10, 17). Zieht eure Kinder auf in der Zucht und Vermahnung zum Herrn und betrügt ihre Seelen nicht um das Beste, was ihr ihnen geben könnt: um das Eine, was not ist! Bedenkt in allem, was ihr erstrebt, das Wort des Herrn: „Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele.“ Matth. 16, 26). Erneuert und pflegt bewußte christliche Sitte in den Häusern und im öffent­lichen Leben! In keinem christlichen Hause fehle das Tischgebet, fehle der Morgen- und Abendsegen. Christliche Familien sind die Hoffnung unserer Kirche und unseres Volkes. Laßt des Schadens der Verflachung und der Verdiesseitigung genug sein und betet in dieser pfingstlichen Zeit mit der ganzen Kirche um die Erneuerung der Herzen durch die Kraft des heiligen Geistes, damit es auch über unserem Volk wieder heißen kann: „Ich will sagen zu dem, das nicht mein Volk war: „Du bist mein Volk “. Ich will mich mit dir verloben in Ewigkeit“. (Hosea 2, 25. 31).

Denn wenn Gott auch jetzt in seinem Zorn über uns dahingefahren ist und uns unter sein Gericht gestellt hat, so wissen wir doch, daß er nicht richtet wie Menschen richten. Er ist nicht ein Gott der Rache, noch ist sein Wille ein Wille der Vernichtung. Er züchtigt uns wohl, aber mit Maßen. Er sucht uns heim, aber gibt uns dem Tode nicht. Noch brennender als sein Zorn ist sein Erbarmen. Wohl muß er uns vergelten, wie wir es verdient haben. Aber über seiner Vergeltung steht seine Vergebung. Als Unterpfand seiner vergebenden Liebe hat er seinen eigenen Sohn für uns dahingegeben. Um Jesu Christi, unseres Heilandes willen sollen wir gewiß glauben, daß Gott auch eine verlorene Welt nicht preisgibt und auch ein in Schuld und Verder­ben geratenes Volk nicht völlig verstößt. „Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, so ihn fürchten.“ (Ps. 103, 13). Zu Gottes Erbarmen laßt uns fliehen, wenn die Last der Schuld und der Sorge, wenn die Bitterkeit der Armut, das Elend der Heimatlosigkeit, wenn die Trauer und das Herzeleid uns schier zu erdrücken drohen.

Von Gottes Erbarmen laßt uns lernen, barmherzig sein auch untereinander. Brecht dem Hungrigen das Brot und die, so im Elend sind, führt in euer Haus! Und so ihr Brüder und Schwestern trefft, die jetzt im Zusammen­bruch alles dessen, worauf sie bisher so fest gebaut hatten, auch die eigene Existenz zusammenbrechen sehen, helft ihnen zurecht mit sanftmütigem Geist! Haß und Rache ist zur Genüge in unserem Volk gepredigt worden. Wir wollen nicht vergessen, wes Geistes Kinder wir sind.

Und dann laßt uns zusammenstehen und die Hände ans Werk legen, das zer­störte Recht wieder aufzurichten, der Wahrhaftigkeit eine neue Heimstätte unter uns zu bereiten, die in Verwirrung geratene Ordnung wieder herzu­stellen, unsere verwüstete Heimat wieder aufzubauen und die die Wunden zu heilen, die der Krieg uns geschlagen hat. Laßt uns nicht verzweifeln, sondern auf den Herrn hoffen!

Die Güte des Herrn ist es, daß wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu und seine Treue ist groß. Der Herr verstößt nicht ewiglich; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.“ (Klagel. 3, 22. 23. 31. 32).

Quelle: Zustimmung – Anpassung – Widerspruch. Quellen zur Geschichte des bayerischen Protestantismus in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, zusammengestellt von Karl-Heinz Fix, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021, S. 1838-1841.

Hier der Text als pdf.

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