Dietrich Ritschl, Predigt zu 1. Johannes 4,17 bei der Beerdigung der Dichterin Marie Luise Kaschnitz (1974): „Ja geht denn ihre Geschichte weiter, jetzt, nach dem Tod? Sie geht doppelt weiter: einmal – und das scheint uns das Nächste – in unserer Erinnerung, aus der wir noch jahrelang Kraft und Hoffnung schöpfen können. Dann aber auch anders: nicht nur in unserer Erinnerung, sondern im Gedächtnis Gottes. Vielleicht ist Gottes Liebe und Gottes Gedächtnis dasselbe. Dort ist der Mensch bewahrt.“

Predigt zu 1. Johannes 4,17 (bei der Beerdigung der Dichterin Marie Luise Kaschnitz)

Von Dietrich Ritschl

Darin ist die Liebe bei uns zur Vollendung gekommen, daß wir Zuversicht haben am Tage des Gerichts; denn wie jener ist, sind in dieser Welt auch wir. 1.Joh 4,17

Eigentlich kann man nicht sagen, wer Gott ist, es sei denn, man erzählte seine Geschichte. Und eigentlich kann man nicht sagen, was der Mensch ist, wer diese Frau war, die wir hier beerdigen. Wer ein Mensch war und ist und uns bleibend bedeuten wird – auch das kann man nur sagen, wenn man die Geschichte erzählt. Darin sind sich Gott und Mensch ähnlich: man muß ihre Ge­schichte erzählen, sonst weiß man sehr wenig.

Von Gott kann man erzählen, daß er in Ägypten war, am Schilf­meer, am Rande der Wüste, auf der Seite der Schwachen – beim jüngeren Bruder jeweils, nicht bei den Helden, die keines Arztes bedürfen – im Exil war er, bei den Heimatlosen, bei den Suchen­den; in der Wehrlosigkeit von Jesus war er –, so ist er auch heute zu finden. So zeigt er seine Liebe.

Und die ganz andere Geschichte: diese Frau war nach dem Tod ihres Mannes unendlich intensiv verwitwet, spürte in feinsten Regungen Ungerechtigkeit und Trauer auf; auch Freude an der Welt. Wir sahen sie in der Frankfurter Wohnung, zuhörend, beobachtend, einen Weg nach vorne suchend. Wir erinnern uns, wie sie abends früher als andere in der Familie aufstand und in ihr Zimmer ging, vielleicht zum schwarzen Heft, um mit der Ver­arbeitung des Tages zu beginnen; wie sie hier im Garten saß und rauchte und gar nichts plante, nur dabei war; wie wir sie noch vor wenigen Wochen hier unter den Linden die Reise nach Rom planen hörten; wie man sich in ihrer Gegenwart genierte, etwas Triviales zu denken … So könnten wir ihre Geschichte er­zählen.

Ja, ich sagte wirklich, darin seien sich Gott und Mensch nicht unähnlich. In den Geschichten, die man erzählen kann, da steckt es. Man wird nie fertig mit dem Erzählen. Und so wird man mit dem Erinnern nie aufhören können. Die Kraft des Erinnerns zeigt uns auch, wie es weitergeht. Je stärker die Liebe, umso größer die Kraft des Erinnerns und umso größer die Zuversicht, daß die Geschichte nicht zu Ende ist. Gottes Geschichte – aber auch die des Menschen, den wir hier begraben. Wir werden nie fertig mit Gott – und nie mit den Menschen, die wir lieben. Ein heutiger Schriftsteller sagt das in einer sehr bemerkenswerten Passage: »Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Span­nende, daß wir mit den Menschen, die wir lieben, nie fertig wer­den: weil wir sie lieben; solange wir sie lieben.« Er sagt, die Liebe befreie uns von jeglichem Bildnis. Also ein festes Bild kann uns nicht helfen, weder von Gott, noch von Menschen. Man muß die Geschichte der Liebe erzählen.

Der Satz aus dem 1. Johannesbrief lädt ein zur Ausschau in die Zukunft: darin sei die Liebe vollendet, daß wir Zuversicht haben, daß wir wagen, weiterzugehen, trotz der Nöte und Schrecken, die wir um uns herum wahrnehmen. Die Geschichte Gottes geht weiter und die der Menschen soll sich daran anschließen. Es gibt manchmal Menschen, aus deren Geschichte man solche Zuversicht ablesen kann, von denen man also etwas über Gott lernen kann.

Wenn ich mich frage, worin mich die Dichterin am deutlichsten getroffen hat, dann wohl darin. Nicht die Gestaltungskraft der Sprache, die das Beobachtete in neuer Schöpfung erscheinen ließ; nicht die Sprach- und Wortspiele; nicht die faszinierenden Under­statements – ja all das auch, aber viel tiefer noch die Ehrlichkeit, die Schrecken der Gerichte zu erkennen und doch Zuversicht zu wagen: sie sprach von den mit Kalk übergossenen Leichen, von dem toten Kind, das die asiatische Mutter in einem Paket an die Königin schickt – es war alle Schwermut in ihr, aber keine Bitter­keit, alle Begegnung mit der Trauer, aber kein Verharren im schrecklichen Bild; Angstträume, ja, aber auch Visionen; die Wahrung des Privaten, aber auch die Freiheit zur Öffentlichkeit – Zuhören und Staunen – alles Einladungen an uns, wenn wir uns ihrer erinnern, vorwärts zu gehen und Zuversicht zu haben.

Ja geht denn ihre Geschichte weiter, jetzt, nach dem Tod? Sie geht doppelt weiter: einmal – und das scheint uns das Nächste – in unserer Erinnerung, aus der wir noch jahrelang Kraft und Hoffnung schöpfen können. Dann aber auch anders: nicht nur in unserer Erinnerung, sondern im Gedächtnis Gottes. Vielleicht ist Gottes Liebe und Gottes Gedächtnis dasselbe. Dort ist der Mensch bewahrt. Man hat früher wohl viel unbefangener über diese Zuversicht gesprochen, man sagte sich sogar gegenseitig, man werde sich nach dem Tode in einem neuen Leben wieder- begegnen. Was wollen wir heute sagen? Die Dichterin sagt: »Glauben Sie – fragte man mich – an ein Leben nach dem Tode – und ich antwortete Ja. Aber dann wußte ich keine Auskunft zu geben – wie das aussehen sollte – wie ich selber aussehen sollte dort …

Nur Liebe frei gewordne
Niemals aufgezehrte
Mich überflutend.«

Also kein Bild, kein Fertigwerden, sondern das Weitergehen der Geschichte der Liebe, der Liebesgeschichte. Bei uns, sowie bei Gott. Ist das nicht eine eigentümliche Verknüpfung?

Der Satz aus dem Johannesbrief schließt mit dem Hinweis: »denn wie jener ist, so sind in dieser Welt auch wir.« Das kann ja wohl nichts anderes sein als ein Hinweis auf jenen, in dem die eigen­tümliche Verknüpfung der Geschichte Gottes mit der Geschichte der Menschen ganz wesentlich geschehen ist: jener, der sich auch kein Bild machte, sondern eines darbot; jener, der den Schrecken und Gerichten nicht aus dem Weg ging und doch Zuversicht und Liebe vergab, den es am Kreuz dürstete und der doch sagte: wenn jemand dürstet, komme er zu mir und trinke, »Wie jener ist, sind in dieser Welt auch wir.« Ihm sei Lob und Ehre und An­betung und Majestät bis in Ewigkeit. Amen.

Gehalten am Bollschweil am 16. Oktober 1974.

Quelle: Dietrich Ritschl/Hugh O. Jones, »Story« als Rohmaterial der Theologie, TEH NF 192, München: Chr. Kaiser, 1976, S. 73-75.

Hier der Text als pdf.

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