Erik Peterson, Der Reiche und der Arme (1952): „Das Schlimme an der Geschichte vom Reichen und Armen ist, daß sie eigent­lich nie zu Ende gegangen ist. Denn als der Arme und der Reiche gestorben waren und in der anderen Welt sich befanden, lag der Arme noch immer vor den Augen des Reichen [nur daß keine Tür da war, die von dem einen zum andern führte], und noch immer sah der Arme nicht zu dem Reichen auf und sprach kein Wort zu ihm.“

Der Reiche und der Arme (1952)

Von Erik Peterson

Der arme Mann lag noch immer auf der Straße vor dem Eingang zum Haus des Reichen. Man weiß nicht, wie er dorthin gekommen war, aber eines Tages lag er da. Niemand wird leugnen können, daß seine Anwesenheit als lästig empfunden wurde. Er hatte zwar niemals seine Hand ausgestreckt, um ein Almosen zu emp­fangen, aber er paßte nun einmal nicht in dieses Milieu. Die Handwerker, die in derselben Straße ihre Werkstatt hatten und deren, weiß Gott, bescheidenes Ein­kommen keinen Vergleich mit dem des Reichen aushielt, wurden nicht in diesem Maß als störend empfunden, sie waren durch ihre Arbeit gleichsam nobilitiert, aber dieser Arme, der auf der Straße lag, arbeitete nicht. Hatte er überhaupt je gearbei­tet? Oder war er dafür zu entkräftet? Oder war es noch etwas anderes, das ihn am Arbeiten hinderte? Manchmal mochte es so scheinen, daß nicht so sehr die kör­perliche Erschöpfung ihn dahin gebracht hatte, sich auf die Straße zu legen, aber wenn einige Menschenfreunde sich an ihn wandten und ihn fragten, ob sie ihn nicht in ein Heim bringen sollten, wo er nach einer gewissen Zeit der Erholung Arbeit vermittelt bekäme, so hatte er niemals auf dieses Ansinnen auch nur eine Antwort gegeben. Es war sehr merkwürdig, daß er weder zu dem Reichen noch zu einem dieser Menschenfreunde jemals aufschaute. Ist es unter solchen Umstän­den verwunderlich, daß die Brosamen, die von des Reichen Tisch fielen, ihm von niemandem gereicht wurden? Der Arme blickte immer irgendwohin in das Leere, aber dieses Garnichts, das er sah, war für ihn doch wohl auch ein geheimnisvolles Etwas. Jedenfalls hatte es die Wirkung, daß niemand den Mut hatte, die Polizei zu rufen, um den Armen mit Gewalt von der Straße zu entfernen, und um den Schin­der zu rufen, war es noch zu früh.

Aber die Angelegenheit war, wie gesagt, ärgerlich, am meisten natürlich für den reichen Mann, an dessen Tür der Arme lag. Man muß nämlich wissen, daß der reiche Mann ursprünglich ein fröhlicher und gutherziger Mensch gewesen war, der vielen Bedürftigen geholfen hatte, aber seitdem der Arme vor seiner Tür lag, war er wie verwandelt. Seitdem begann er seine Verschwendung in Raffinement zu steigern, und seine Feste fingen an, in Ausschweifungen zu entarten, und keiner der Hilfsbedürftigen hatte mehr sein Ohr. Offenbar hatte die Nähe des Armen einen ungünstigen Einfluß auf den Reichen. Man kann natürlich sagen, daß der Reiche nicht sehr klug war. Er hätte es ja vermeiden können, den Armen zu sehen, indem er sich in einer anderen Straße, in der der Arme nicht lag, einen Eingang hätte anlegen können. Aber wahrscheinlich war die Anwesenheit des Armen für den Reichen schon so penetrant geworden, daß er von vornherein den Versuch aufgab, sich seiner Anwesenheit zu entziehen. Vielleicht hätte es in dieser Situation, so paradox das auch klingt, nur einen Ausweg noch geben können, nämlich den, daß der Reiche sich auf den Platz des Armen gelegt hätte und den Armen eingeladen hätte, von seinem Palast Besitz zu ergreifen.

Aber dieser Ausweg war unglücklicherweise nun auch verschlossen, da der Arme darauf bestand, auf seinem Platz vor der Tür des Reichen liegen zu bleiben, augenscheinlich um an dieser Stelle zu sterben. Weder das Angebot, mit dem Platz des Reichen zu tauschen, noch der Versuch, durch eine Organisation der Armen sein Schicksal zu lindern, hätte ihn von seiner Absicht, auf seinem Platz vor der Tür des Reichen zu sterben, abbringen können. Aber vielleicht sagt man schon zu viel, wenn man von einer Absicht in dieser Beziehung spricht, vielleicht würde es genügen zu sagen, daß es nun einmal so gewollt war. Es ist sehr merkwürdig, daß der Arme vor seinem Ende von allen Menschen verlassen war. Nur die Hunde besuchten ihn, die seine Schwären leckten, und als er starb, wurde sein Tod nur von den Engeln bemerkt, die ihn aus dieser Welt trugen. Es scheint, daß es für das Leben dieses Menschensohnes nur die Möglichkeit gab, zwischen Tier und Engel als Armer vor der Tür des Reichen zu liegen und dort zu sterben.

Jeder weiß, wie diese Geschichte ausging. Der Arme starb, er starb vor dem Reichen, aber der Reiche folgte ihm im Tode. Keiner von ihnen starb seinen eige­nen Tod, sondern wie ihr Leben in einer seltsamen Art miteinander verschlungen war, so stand auch ihr Tod in einem geheimnisvollen Bezug zueinander. Ein kluger Mann hat einmal die Vermutung ausgesprochen, der Reiche und der Arme seien Zwillinge gewesen, aber das ist nicht sehr wahrscheinlich. Jedenfalls starben sie nicht an dem selben Tag, wie das für Zwillinge nicht selten bezeugt ist, und im übrigen ergaben die polizeilichen Ermittlungen, daß der Reiche früher da war als der Arme, von dem man nicht feststellen konnte, wann und woher er gekommen war, während man in bezug auf den Reichen sagen konnte, daß sein Garten sich schon im Besitz des ersten Menschen befunden hatte.

Das Schlimme an der Geschichte vom Reichen und Armen ist, daß sie eigent­lich nie zu Ende gegangen ist. Denn als der Arme und der Reiche gestorben waren und in der anderen Welt sich befanden, lag der Arme noch immer vor den Augen des Reichen [nur daß keine Tür da war, die von dem einen zum andern führte], und noch immer sah der Arme nicht zu dem Reichen auf und sprach kein Wort zu ihm. Es ist, als ob der Arme mit den Schwären seines Leibes in der künftigen Welt wiederkehrte und zum Reichen sein: «Ich habe dich nie gekannt» spräche, obwohl er immer vor der Tür des Reichen gelegen hatte. Er hatte ihn augenscheinlich auch in diesem Leben nie gesehen. Das ist eigentlich seltsam, denn fast alle hatten den Reichen gekannt, aber nur wenige von dem Armen Notiz genommen.

Wie bekannt, ist dieses Ganze nur eine Erzählung, und viele meinen, daß es nichts weiter als eine Erzählung sei, daß es den Reichen und den Armen eigent­lich nie gegeben habe, sondern immer nur uns, die wir weder arm noch reich sind. Dann würden wir natürlich auch unser Leben in der andern Welt nicht so beschließen wie der Arme und der Reiche, sondern alles würde immer so bleiben, wie es heute ist. Aber vielleicht kann man es doch nicht ungeschehen machen, daß der Arme sich eines Tages auf der Straße vor die Tür des Reichen gelegt hat, um dort zu sterben; wie will man es sonst erklären, daß die Menschen sich noch heute so leidenschaftlich für das Schicksal des Armen und des Reichen interessieren?

Quelle: Erik Peterson, Marginalien zur Theologie und andere Schriften. Mit einer Einführung von Barbara Nichtweiß, Würzburg: Echter 1995, S. 41-43.

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