Rainer Oechslen über Kristlieb Adloff (1934-2023). Anwalt der hebräischen Bibel: „Adloff hat seine Loyalität zum ‚Ju­dentum als Religion und als Volk‘ theologisch und politisch durch­gehalten. Er hat dadurch Abstand gewonnen zum theologischen, kirchlichen und politischen Betrieb unserer Tage, war fähig zu radikaler Ideologiekritik und zu Entdeckun­gen in der Bibel, die seinen Schü­lern und Schülerinnen, Freunden und Freundinnen ganz neue Hori­zonte eröffnet haben. Seine Stim­me wird fehlen.“

Kristlieb Adloff (1934-2023). Anwalt der hebräischen Bibel

Von Rainer Oechslen

Briefe schreiben konnte er, wun­derbar altmodische Briefe, seiten­lang in seiner schönen, gleich­mäßigen Handschrift, hebräische und griechische Buchstaben dabei. Manchmal gab ein Wort dem Leser zu denken, weil es nicht leicht zu entziffern war. Dann stellte sich heraus, dass es nicht an der Schrift lag, sondern daran, dass der Leser zu konventionell gedacht hatte. Nach dem Lesen war ich getröstet, angeregt, mein Blickwinkel erwei­tert. Bibelzitate blieben zurück, die ich immer überlesen hatte, Gesangbuchverse, die ich verges­sen oder noch nie gesungen hatte. Oder ich rief bei der Buchhandlung an und bestellte ein Buch, das ich unbedingt auch lesen wollte.

Es muss Mitte der 1990er Jahre ge­wesen sein, als das Telefon schell­te: Kristlieb Adloff, den ich nur aus den Göttinger Predigtmeditationen kannte. Er hätte meinen letzten Beitrag in dieser Zeitschrift gele­sen und wolle meine Stimme dazu hören. Mit dem Anruf in Schwein­furt begann eine Freundschaft, die bis in den Dezember 2023 reich­te. Am 20.12.2023 ist Kristlieb Adloff neunundachtzigjährig in Wolfenbüttel gestorben. Ich habe die Briefe nicht gezählt, die mich in dieser Zeit erreicht haben, aus Hermannsburg zuerst, wo Adloff am Missionsseminar Neues Testa­ment lehrte, später aus Wolfenbüt­tel, dem Ort des Ruhestandes, der kein Ruhestand war, sondern ein stetes Arbeiten, Lesen und Schrei­ben: Briefe, Vorträge, Bücher.

Adloff ist als Sohn eines Pfarrers in Danzig geboren. Bei einem Vortrag im Jahr 2002 erzählte er: „Januar 1945: Als ich zehn Jahre alt war, flüchtete meine Mutter mit mei­nem Bruder und mir beim Heran­nahen der Roten Armee von einem Tag zum anderen aus Danzig. Ein Schock für das kindliche Gemüt. Später träumte ich in vielen Näch­ten immer denselben Traum: Ich irrte durch die zerstörte Stadt und suchte, über Trümmerberge klet­ternd, vergeblich nach unserem Haus. 1974 reiste ich mit meiner Frau zum ersten Mal wieder in die Heimatstadt. Ich kannte mich trotz aller Veränderungen – ganze Straßen waren nicht mehr vorhan­den – erstaunlich gut aus und fand mich unversehens vor dem intakt gebliebenen elterlichen Pfarrhaus neben der Kirche. Und nun müss­te meine Frau erzählen, wie ich zu ihrem nicht geringen Erstaunen urplötzlich von einem nicht enden wollenden Lachkrampf geschüttelt wurde und dabei unentwegt mur­melte: ‚Das gibt’s nicht! Das gibt’s doch nicht!‘ Den bewussten Traum habe ich seitdem nicht mehr geträumt.“[1]

Neben dieser Befreiungserfahrung steht – eingeflochten in eine Pre­digt zum Totensonntag – die Erin­nerung an die Großmutter, die in Danzig blieb, von der dann keine Nachricht mehr kam und die ir­gendwann 1945 oder 1946 schlicht verhungert sein muss.

In den Wirren der Nachkriegszeit fand Adloffs Vater eine Anstellung in der Kirche von Hessen-Nassau. Sein Sohn aber kam als Internats­schüler nach Fürth – und damit in die bayerische Landeskirche. Das Studium der Theologie begann er dann auch als bayerischer Kandidat in Neuendettelsau. Seine Frau Ing­rid, geborene Krämer, mit der Adloff über 60 Jahre verheiratet war, kam aus einem fränkischen Pfarrhaus.

Die beiden waren schier unzer­trennlich. Gestorben ist Adloff erst, als er seine Frau für die Zeit seines eigenen Krankenhausauf­enthaltes in einer Kurzzeitpflege untergebracht hatte. Ingrid Adloff hat seine Manuskripte getippt, ihn soweit irgend möglich auf jede Vortragsreise und zu jeder Gast­predigt begleitet. Lange war sie auch die Chauffeurin, denn Adloff ist aufgrund einer starken Beein­trächtigung seiner Augen fast nie Auto gefahren. Es gab keinen Brief, in dem er nicht am Schluss von Ingrids Ergehen berichtet hätte.

Mit beiden Adloffs konnte man wunderbar von der Vergangenheit der Evangelisch-Luthe­rischen Kir­che in Bayern erzählen. Eine von Ad­loffs ersten Veröffentlichungen, der Beitrag „‚Als die Verführer und doch wahrhaftig‘. Schönheit und Wahr­heit in der Sprache des Glaubens bei Thornton Wilder“ – erschien 1962 in der maschinengeschriebenen Fest­schrift für Hugo Maser. Maser war in jungen Jahren Studieninspektor Hans Joachim Iwands im Prediger­seminar der Bekennenden Kirche in Bloestau/Ostpreußen. In den 1950er Jahren war er Rektor des Prediger­seminars Bayreuth, in das auch Adloff „einberufen“ war. Später wurde er Personalreferent der Lan­deskirche, der wegen seiner umfas­senden Kenntnisse von Gemeinden und Pfarrerschaft legendär wurde. Wir schmunzelten über Masers Vorgänger als Personalreferent Lic. Schmidt, der wegen seiner Ähnlich­keit mit dem sowjetischen Außen­minister „Molotow“ genannt wurde, und erzählten allerlei Geschichten von Hermann Dietzfelbinger, von Gerhard Schmolze, einem fränki­schen Original, das sein Weg nach Bremen geführt hat, und von Theo­dor Heckel. Heckel war von 1928 bis 1945 Präsident des Kirchlichen Außenamtes in Berlin. Ab 1950 war er Dekan von München, wurde je­doch oft noch mit dem ihm 1934 verliehenen Titel „Bischof“ angere­det. Adloff wusste ihn trotz seiner problematischen Vorgeschichte we­gen seiner souveränen Leitung des riesigen Dekanats und seiner theologischen Klarheit zu schätzen.

Allzu lange jedoch währte Adloffs Zeit als Vikar und Pfarrer (in Pul­lach bei München) der bayerischen Kirche nicht. Es zog ihn zur wis­senschaftlichen Arbeit an die Ruhr-Universität, von da in ein Pfarramt in Bochum. Auch das Gebetbuch „Erhebungen“[2] mit Fürbittgebeten für die Sonntage des Kirchenjahrs verdankt sich dieser Zeit. Es ging weiter als Lektor zum Neukirchener Verlag und schließlich als Dozent nach Hermannsburg.

Ein für Adloffs Denken kennzeich­nendes Zitat findet sich in einem Vortrag über Maria, „eine jüdische Frau“: „Wir scheinen ja in unserer geistigen Situation nur die Wahl zu haben zwischen zwei Weisen des Umgangs mit der Bibel: ent­weder den fundamentalistischen oder den kritisch-aufgeklärten. Im ersten Fall sucht man sich mit Hil­fe heiliger Schriften Sicherheiten zu schaffen, die es im Leben nicht geben kann: Religion als Illusion. Im anderen Fall durchschaut man vermeintliche Sicherheiten und sucht hinter den Texten, wie es denn eigentlich’ gewesen sei, un­zweifelhaft, um nicht zu sagen: wissenschaftlich todsicher. Damit zeigt sich aber, dass die vermeint­liche Alternative keine ist und auch keine Vermittlung zulässt. In bei­den Fällen zerstört der gewaltsame Zugriff den Text, der doch, wie der Wortsinn von Text, lateinisch textus, besagt, ein kunstvolles Gewebe ist, ein unauflösliches Ganzes. Wer hier noch etwas anderes wollte …, der müsste schon den Text anzie­hen als ein wunderbar-fremd­arti­ges Gewand, im Falle der Bibel als ein antimythisches Ganzes, weil in der Bibel Fäden einer fremden Got­tesgeschichte den Text durchwir­ken und so den Schleier des Mythos durchsichtig machen für Wort und Weisung des Gottes Israels. Den biblischen Text anziehen, hieße: in der Bibel leben.“[3]

Zentrum von Adloffs theologi­schem Nachdenken war die Frage nach dem Volk Israel, nach der he­bräischen Bibel und nach dem Versagen der Christenheit angesichts der Schoa. Damit verbunden ist die Frage nach einem heutigen Verste­hen der ganzen Bibel.

In Adloffs vermutlich letztem Vor­trag ging es um „Das Judentum als Religion und als Volk[4]. Er hat die Ereignisse vom 7. Oktober 2023 und die Entwicklungen danach nur noch am Anfang zur Kenntnis neh­men können. Da mag ein Zitat aus dem Vortrag vom Mai 2018 umso eindrücklicher wirken:

„Wie in biblischen Zeiten zwischen Königen und Propheten unterliegt auch heute die Politik Israels der radikalen Kritik durch selbstkriti­sche Juden aus der Diaspora wie aus der israelischen Zivilgesell­schaft, durch Intellektuelle und Schriftsteller wie die hierzulande gerne gelesenen Autoren Amos Oz und David Grossman. Das gibt indes Außenstehenden, uns, nicht das Recht, sich unter Berufung auf jüdische Selbstkritik ein selbstge­rechtes Urteil anzumaßen. Wir sind nicht in der Situation der Betrof­fenen. Hinter der beliebten ‚Israelkritik‘, die sich moralisch über das jüdische Volk erhebt, verbirgt sich oft der alte Antisemitismus. Gerade die christliche Kirche sollte nicht vergessen, dass sie die aufregend selbstkritische jüdische Bibel – ein­zigartig unter den heiligen Schrif­ten der Völker – immer wieder zum Vorwand für ihre Verachtung und Verfolgung von Juden genommen hat.“[5]

Ich habe mich an Adloffs Maxime in den Monaten seit dem Oktober 2023 nicht gehalten. Bei aller Trau­er um Kristlieb Adloff bin ich auch ein wenig froh, dass ich dieses The­ma nicht mehr mit ihm besprechen muss. Er gehörte zu denen, die das Erschrecken über den in Deutschland und im Christentum tief ver­wurzelten Antisemitismus für ihr Leben und Denken entscheidend geprägt hat. Keine andere Erfah­rung seines Lebens hatte nur an­nähernd die gleiche Bedeutung für ihn.

Adloff hat seine Loyalität zum „Ju­dentum als Religion und als Volk“ theologisch und politisch durch­gehalten. Er hat dadurch Abstand gewonnen zum theologischen, kirchlichen und politischen Betrieb unserer Tage, war fähig zu radikaler Ideologiekritik und zu Entdeckun­gen in der Bibel, die seinen Schü­lern und Schülerinnen, Freunden und Freundinnen ganz neue Hori­zonte eröffnet haben. Seine Stim­me wird fehlen.

Quelle: Korrespondenzblatt 139, Heft 6 (Juni 2024), S. 125-127.


[1] Kristlieb Adloff, Humor in der Seelsorge, Vortrag am 13. November 2002 in Augsburg. Manuskript. Adloffs Vortragsmanuskripte, die ich auf­bewahrt habe, sind ebenso ungezählt wie seine Briefe.

[2] Kristlieb Adloff, Erhebungen. Gemeindegebete für das Kirchenjahr, Göttingen 1978.

[3] Kristlieb Adloff, Eine jüdische Frau als Namenspatronin der lutherischen Hauptkirche Beatae Mariae Virginis in Wolfenbüttel, Vortrag am 21. August 2008, Manuskript, S. 4.

[4] Kristlieb Adloff, Das Judentum als Religion und als Volk, Vortrag am 15. Mai 2018 in Wolfenbüttel. Ma­nus­kript.

[5] a. a. O., S. 11.

Hier der Text als pdf.

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