Von Johann Baptist Metz
I. Akzentuierung des Themas
Der theologische Pluralismus, zuweilen nicht mehr als Ausdruck einer begriffslosen Unterwerfung unter das gegenwärtige Elend der Theologie und inzwischen selbst starrer und steriler geworden als alle Systeme, die man in seinem Namen bekämpft: dieser Pluralismus kann m. E. in Bewegung geraten und die zur Standpunktfrage herabgedeutete Wahrheitsfrage neu in Gang setzen, wenn die eine theologische Position sich gerade dessen annimmt, was die andere bei ihr vermißt oder doch vernachlässigt sieht, und umgekehrt; wenn also bei dem Thema „Erlösung und Emanzipation“ ein „Theologe der Welt“ oder gar – was immer dies heißen mag – ein „politischer Theologe“ sich nicht um die Erörterung der Substanz christlicher Erlösungslehre herumdrückt und anderseits freilich auch eine sorgsam auf das „spezifisch Christliche“ bedachte und – falls es sie geben sollte – „reine“ Theologie der Erlösung sich redlich den Herausforderungen durch das Emanzipationsthema stellt; denn schließlich macht es die Pointe des Christentums aus, daß man in seinem Namen nicht nur das Heilige, sondern auch die Welt mit ihrer Leidensgeschichte keineswegs um ein Linsengericht verschleudern darf. Damit habe ich mir die Akzentuierung meines Themas selbst zugespielt. Sie möchte ich auch nicht dadurch wieder verwischen, daß ich mich in meiner Eigenschaft als Fundamentaltheologe zu sehr von der Arbeit des Dogmatikers absetze. Schließlich gehören in meinen Augen beide Disziplinen eng zusammen, ja ineinander: Dogmatik als eine Art materialer Fundamentaltheologie und Fundamentaltheologie ihrerseits als formale Dogmatik. „Formal“ wird deshalb zwar, so fürchte ich, im folgenden manches bleiben, aber doch nicht, so hoffe ich, der Bestimmtheit und Eindeutigkeit entbehren.
II. Emanzipation, universal und total
Erlösung und Emanzipation. Zu einer ersten Präzisierung des Themas und seiner inneren Spannung beziehe ich mich auf den Untertitel unserer Tagung, der da lautet: Die christliche Erlösungsbotschaft im Horizont heutiger Welterfahrung. Ich verstehe in diesem Zusammenhang Emanzipation als eine Art epochales Stichwort für unsere heutige Welterfahrung, als universale, gewissermaßen geschichtsphilosophische Kategorie zur Charakterisierung jener neuzeitlichen Welt und ihrer Freiheits- und Aufklärungsprozesse, in deren Verhältnissen (nicht einfach: unter deren Bedingungen!) wir die christliche Erlösungsbotschaft zu artikulieren und zu verantworten suchen. Gewiß, dieser hiermit nahegelegte universale Gebrauch von Emanzipation ist so selbstverständlich und so unbedenklich nicht. Überall lauert die Gefahr der Ideologisierung. Und kaum ein anderes Wort scheint in der gegenwärtigen Diskussion so überlegitimiert, so übergebraucht und in jedem Fall so affektiv überbesetzt zu sein; man mustere nur einmal die pädagogische, speziell die religionspädagogische Literatur daraufhin durch. Gleichwohl scheint es mir wenig sinnvoll und wenig hilfreich, Emanzipation auf ihren ursprünglichen Geltungsbereich im Recht zu beschränken, wo sie bekanntlich die huldvoll gewährte Freilassung von Sklaven und Leibeigenen oder die dem Vater verdankte Freisprechung des Sohnes bezeichnete. Denn erst das Zurücktreten der hoheitsvollen Gewährung und das Hervortreten der Autonomie im Emanzipationsgeschehen, also das Verständnis von Emanzipation als Selbstbefreiung menschlicher Gruppen und Klassen in der neuzeitlichen Revolutions- und Aufklärungsgeschichte bringt jene Spannung und jenen Kontrast in das Verhältnis von Erlösung und Emanzipation, dem sich unsere Überlegungen zuzuwenden haben. Im folgenden ist deshalb (und ich meine, in Übereinstimmung mit dem Tenor unserer Tagung) Emanzipation universal, als quasi geschichtsphilosophische Grundkategorie neuzeitlicher Freiheitsgeschichte gebraucht, die entsprechend im Kontext einer Geschichtstheologie der Erlösung erörtert werden soll.
Diese Festlegung ist folgenreich genug. Sie zwingt die Theologie zunächst, dem nüchtern Rechnung zu tragen, was ich hier das Totale und Kompromißlose der so verstandenen emanzipatorischen Freiheitsgeschichte nennen möchte. Dies hat seine erste programmatische Formulierung bei Marx gefunden, wird in dieser Allgemeinheit aber auch von Emanzipationstheoretikern ganz anderer Couleurs geteilt; Marx: „Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse auf den Menschen selbst.“ Diese Emanzipationsgeschichte ist gewissermaßen nicht nur kategorialer, sondern transzendentaler Art; sie tangiert und revolutioniert schließlich die Wurzeln menschlichen Freiheitsverständnisses überhaupt. In der Selbstbefreiung einzelner Gruppen und Klassen von Bevormundung, Unterprivilegierung und sozialer Unterdrückung bahnt sich die „allgemein menschliche Emanzipation“ (Marx) an, die im Marxismus pointiert gegen jede Form gewährter, befreiter, erlöster Freiheit steht, deren Freiheitsschein den Menschen davon ablenkt, reale Freiheit zu gewinnen.
Nun wurden zwar im Verlauf der jüngeren Geschichte die Widersprüche immer deutlicher, die innerhalb der Geschichte universaler menschlicher Selbstbefreiung auftreten. Es wurde sichtbar, daß Revolutionsgeschichte in neue Gewalt- und Unterdrückungsgeschichte ausartet; daß innerhalb emanzipatorischer Gesellschaften neue Leidensgeschichten entstehen; daß Industrialisierung und Technologie einen neuen, geradezu ins Planetarische erhobenen Mechanismus der Anpassung und der Unmündigkeit in Gang setzen usw. Bezeichnend hierfür mag immer noch jenes Wort von Ernst Bloch von 1930 sein: „Im Citoyen der Französischen Revolution steckte der Bourgeois; gnade uns Gott, was im Genossen steckt.“ Dies führte indes in den emanzipatorischen Geschichts- und Freiheitstheorien nicht etwa zur Zurücknahme eines zu hoch, zu abstrakt angesetzten Emanzipationsbegriffs, sondern zu dem, was ich hier abgekürzt die „Dialektik der Emanzipation“ nennen möchte, wie sie vor allem im Umkreis der Frankfurter Schule entfaltet wurde. Diese Dialektik entschärft nicht etwa das Totale und Kompromißlose am Emanzipationsbegriff, sie macht ihn im Gegenteil unangreifbarer, undurchlässiger, immuner gegen externe Bestreitung, indem sie die im Emanzipationsprozeß auftauchenden gesellschaftlichen Widersprüche selbst noch einmal in ihn aufzunehmen sucht. Dies möchte ich ebenso bescheiden wie bestimmt allen zu bedenken geben, die in der Dialektik der Emanzipation eine offene Flanke für christlich verstandene Erlösungsgeschichte sehen wollen – es sei denn, man deute diese Erlösungsgeschichte herab zu einem Remedium für verzögerte Emanzipationsgeschichte oder fasse Erlösungsgeschichte als emphatische Verdoppelung dieser Emanzipationsgeschichte auf. Die in der Dialektik der Emanzipation entfalteten Unterscheidungen zwischen Arbeit und Interaktion, zwischen Technik und Praxis, zwischen Empirie und Antizipation usw. sind keine theologischen Differenzen; sie sind Instrumentarium der dialektischen Verarbeitung gesellschaftlicher Widersprüche im Interesse totaler Emanzipation. Dies gilt schließlich und gerade auch für die in dieser Dialektik vorkommenden theologischen Begriffe, wie „Erlösung“ bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, wie „Resurrektion der gefallenen Natur“ bei Ernst Bloch, bei Herbert Marcuse und Jürgen Habermas und vermutlich auch wie die Forderung einer neuen Dämonologie und Satanologie beim alten Ernst Bloch.
Zwischen diese Dialektik der Emanzipationsgeschichte ist kein theologischer Fuß zu bekommen! Sie kann allenfalls als ganze zur Diskussion stehen, aber sie kann nicht theologisch halbiert werden. So würde man etwa das Negativ-Kritische dieser Emanzipationsdialektik gründlich verkennen, wollte man meinen, es wäre durch das Affirmative einer christlichen Erlösungslehre zu „ergänzen“. Solche Obenhin- Versöhnungen unterschätzen das (negativ-kritisch vermittelte) Totale dialektischer Emanzipationsgeschichte ebenso wie das Unverzichtbare christlicher Erlösungsgeschichte. Hier scheitern m. E. auch die beachtlichen Versuche, „die Sache (Jesu) in den emanzipatorischen Prozeß einzubringen“ und Erlösungsgeschichte als Übersteigerung, Überbietung und Vervollkommnung von Emanzipationsgeschichte zu interpretieren. Emanzipation ist eben nicht einfachhin Immanenz der Erlösung und Erlösung nicht einfachhin Transzendenz der Emanzipation, wie es eine bekanntgewordene Versöhnungsformel wahrhaben möchte. Sie scheitert, wenn an nichts anderem, so wiederum am Totalen der dialektischen Emanzipationsgeschichte, die auch die transzendentalen Wurzeln der Freiheit in sich hineinzieht. Sie scheitert daran ähnlich wie auch alle theologischen Versuche zur schiedlich-friedlichen Scheidung von Erlösungsgeschichte und Emanzipationsgeschichte – im Sinn etwa einer abstrakt durchgehaltenen Zwei-Reiche-Lehre oder im Sinn einer Paradoxsoteriologie transzendentaler oder existentialer Provenienz, die alle in ihrer extremen Geschichtslosigkeit den Bann emanzipatorischer Totalität, der über die neuzeitliche Freiheitsgeschichte verhängt scheint, nicht brechen, sondern – ungewollt – bestätigen.
Resümierend möchte ich dies sagen: Eine Theologie der Erlösung ist nicht etwa dann kritisch, wenn sie die „Kritische Theorie“ übernimmt, sich ihr ein- oder (vermeintlich) überordnet. Sie bliebe dann in unkritischer Manier bewußtlos gegenüber der Totalität des Ansatzes neuzeitlicher Emanzipationsgeschichte. Nur indem sie diesen als ganzen vor sich zu bringen sucht, in seinen Voraussetzungen und Intentionen, in seiner dialektischen oder auch evolutiven Version, kann sie sich mit ihm so auseinandersetzen, daß sie dabei weder regressiv-entdifferenzierend hinter neuzeitliche Fragestellungen zurückfällt noch sich von vornherein durch abstrakte geschichtslose Distinktionen in ihrem Erlösungsverständnis den Anfechtungen durch diese Emanzipationsgeschichte entzieht noch auch den Erlösungslogos einfach dem Logos emanzipatorischer Vernunft unterwirft. Der Nachweis christlicher Legitimität der neuzeitlichen Emanzipationsgeschichte mag dabei eine wichtige Voraussetzung sein; er ersetzt jedoch nicht die Verhältnisbestimmung von Erlösung und Emanzipation in sich und entkräftet nicht schon den Verdacht, die christliche Erlösungsbotschaft habe wirkungsgeschichtlich eine Situation mit heraufgeführt, in der sie sich am Ende selbst überflüssig macht und Erlösung nun von Emanzipation erfolgreich beerbt wird.
III. Erlösungsgeschichte – Freiheitsgeschichte – Leidensgeschichte
Ich möchte deshalb vorschlagen, befreiende Erlösung in und durch Jesus Christus und emanzipatorisch-revolutionär-kritische Selbstbefreiung des Menschen, soteriologische und emanzipatorische Befreiungsgeschichte im Blick auf das zu erörtern, was ich hier etwas großflächig und nicht unbedenklich die menschliche Leidensgeschichte nennen will, wohl wissend, daß es sie eigentlich als „plurale tantum“ gibt: als jäh abbrechende und abstürzende Leidensgeschichten, die man allenfalls betroffen erzählen, aber nicht argumentativ systematisieren kann. Davon wird noch zu sprechen sein. Hier sei diese Leidensgeschichte etwas unvorsichtig als Medium für erlösende und emanzipierende Befreiungsgeschichte angesprochen. Und dies zunächst, um Bestimmtheit und Differenz in das Verhältnis von Befreiung durch Erlösung und Selbstbefreiung durch Emanzipation zu bringen und um nicht in jene Orgie von Äquivokationen hineinzutreiben, in der gegenwärtig über der dünnen Decke eines unbestimmten Freiheits- und Befreiungsbegriffs rasche Versöhnungen (oder auch Entzweiungen) zwischen Erlösung und Emanzipation gesucht werden, zum Schaden beider, wie ich meine. Diese Leidensgeschichte sei hier nämlich so umfassend verstanden, wie sie in den Leidensgeschichten auch tatsächlich erfahrbar wird. Sie wird hier also nicht von vorn- herein eingeschränkt auf soziale Unterdrückungsgeschichte und politische Gewaltgeschichte, als welche sie auch in der emanzipatorischen Befreiungsgeschichte thematisiert wird; sie umfaßt hier vielmehr auch und unzertrennlich Leidensgeschichte als Schuldgeschichte und als Geschick der Endlichkeit und des Todes. Erst so wird sie im ganzen zu jener Leidensgeschichte, der gegenüber sich christliche Erlösung als Befreiung artikulieren läßt: als gewährte Befreiung vom Leid der Schuld und der sündigen Selbstverfallenheit des Menschen, wie sie besonders in der sogenannten staurologischen (satisfaktorischen) Soteriologie herausgearbeitet wird, und als gewährte Befreiung vom Leid der Endlichkeit, der Sterblichkeit, des inwendig fressenden Nihilismus der Kreatur, wie sie vor allem die sog. inkarnatorische Soteriologie akzentuiert. Ich sehe nicht, wie man von christlicher Erlösung als Befreiung sprechen kann und dabei diese gnädige Befreiung von der Leidensgeschichte als Geschichte der Schuld und der tödlichen Endlichkeit suspendiert oder auch nur hintanstellt. Dies ist indes nicht um einer wohlfeilen „Unterscheidung der Geister“ willen gesagt, die sich einen Teufel darum schert, wie von solcher Erlösung zum Menschen im Zeitalter der Emanzipation geredet werden könne. Es ist – im Gegenteil – gesagt, um dadurch den Blick freizubekommen auf durchaus reale geschichtliche und gesellschaftliche Vorgänge, auf jene tatsächliche und umfassende Leidensgeschichte, an der der dialektische und evolutionistische Begriff emanzipatorischer Totalität immer wieder strandet, an der sich moderne Emanzipationstheorien mit geschichtsphilosophischer Universalität als abstrakt, ja als Theorien einer irrational halbierten Freiheitsgeschichte erweisen und an der freilich auch, wie ich meine, jede rein argumentative Soteriologie in die Krise gerät. Dies möchte ich in drei Überlegungen andeuten, um dann noch kurz von jener memorativen und narrativen Soteriologie, von jener erzählenden gefährlichen Erinnerung des erlösenden Leidens Jesu reden zu können, die mir am Herzen liegt und in der letztlich die theologische Kritik der abstrakt-totalen Emanzipation gründet.
Leidensgeschichte als Schuldgeschichte und der Entschuldigungsmechanismus einer abstrakt-totalen Emanzipation
1. Diese konkrete Leidensgeschichte war bekanntlich die Crux jeder Theodizee, solange Gott selbst als Subjekt der Geschichte angesehen wurde, und sie war schließlich einer der entscheidenden Anstöße dafür, wenn ich das einmal so nennen darf, Gott selbst in den neuzeitlichen Geschichts- und Freiheitstheorien aus der Mitte der Geschichte abzuberufen und anstelle des Deus Salvator den Homo Emancipator zum universalen Geschichtssubjekt zu erheben. Doch da der Mensch nun sein geschichtliches Schicksal selbst in die Hand nahm, verschwand die anklagende Instanz der Leidensgeschichte nicht; Unglück und Not, Schlimmes und Böses, Unterdrückung und Leid blieben, steigerten und steigern sich zuweilen gar ins Planetarische. Wer ist schuld, wem ist dies alles zuzuschlagen? Angesichts dieser Frage setzt in den emanzipatorischen Geschichtstheorien in Analogie zur Theodizee eine Art Anthropodizee ein – mit einem diffizilen Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsmechanismus, der alles argumentative Raffinement der klassischen Theodizee weit in den Schatten stellt. Da Gott als Zurechnungssubjekt nicht mehr zur Verfügung steht, scheint nun alle Schuld angesichts der Leidensgeschichte auf den Menschen als Geschichtstäter selbst zurückzufallen. Der Homo Emancipator müßte sich eigentlich dadurch „rechtfertigen“, daß er als verantwortlicher Geschichtstäter Schuld und Versagen auf sich nimmt. Der Homo Emancipator müßte eigentlich als Homo Peccator leben und sich verstehen. Doch da er die vermeintliche Heteronomie der Schuld so sehr fürchtet, schafft er sich lieber selbst neue Heteronomien. Er halbiert seine geschichtliche Verantwortung, er will als Geschichtssubjekt nun doch nicht so ganz ernstgenommen sein. Angesichts der Leidensgeschichte schleicht er sich wieder fort vom Thron des Geschichtssubjekts. Ihr gegenüber entwickelt er trickreich „die Kunst, es nicht gewesen zu sein“, wie das Odo Marquard in einschlägigen Überlegungen formulierte[2]. Dieser Entschuldigungsmechanismus läßt sich an den dominierenden geschichtsphilosophischen Emanzipationstheorien illustrieren, seien sie nun idealistisch-liberaler, marxistischer oder positivistischer Herkunft.
So findet man in liberalen und auch in liberal temperierten marxistischen Emanzipations- und Aufklärungstheorien eine Theorie subjektloser Geschichtsprozesse; oder deutlicher: als universales Geschichtssubjekt wird hier, etwa im Gefolge von Hegel, der „Weltgeist“ benannt oder – etwa mehr im Anschluß an Schelling – die „Natur“, und dies besonders, in immer wieder durchschlagender Vorliebe, bei den Emanzipationstheoretikern der Frankfurter Schule. Solche und ähnliche Wesenheiten fungieren wie transzendentale Geschichtssubjekte, denen man gewissermaßen folgenlos die Nachtseite der Emanzipation, die Schuldgeschichte, zuschlagen kann, während natürlich die Erfolge, die Siege, die Fortschritte „auf der Erde“ bleiben und der emanzipatorischen Geschichtstat des Menschen zugerechnet werden. Emanzipationsgeschichte ohne Erlösungsgeschichte entlarvt sich so als abstrakte Erfolgsgeschichte, als abstrakte Siegergeschichte – sozusagen als halbierte Freiheitsgeschichte mit einem perfekten Rechtfertigungs- und Entschuldigungsmechanismus für den Homo Emancipator als Geschichtssubjekt.
Demgegenüber scheut sich bekanntlich die klassische marxistische Version von Emanzipationsgeschichte nicht, durchaus ein konkretes, bestimmtes Subjekt dieses emanzipatorischen Handelns zu benennen, nämlich das Proletariat. Doch auch hier ist und bleibt, extrem abgekürzt gesagt, Emanzipationsgeschichte, soweit sie diesem konkreten Geschichtssubjekt zugeschlagen wird, reine Erfolgsgeschichte, reine Siegergeschichte, in einer unwirklich-unmenschlichen Weise eine Geschichte mit reiner Weste. Denn für das Versagen, für die Schuld angesichts der Leidensgeschichte, werden nun ausschließlieh die anderen, die Gegner, die Feinde dieses Geschichtssubjekts haftbar gemacht. Auch hier funktioniert also der Entschuldigungsmechanismus. Das Alibi ist allemal der Feind mit den Restbeständen seiner Geschichtsmächtigkeit. Und er wird als Alibisubjekt überdesavouiert. Auch eine revolutionäre Emanzipationstheorie ohne Soteriologie ist dem Entschuldigungszwang unterworfen; er manifestiert sich hier im Zwang zur zwischenmenschlichen Verfeindung.
Aber auch dort, wo — wie in den positivistisch-technokratischen Geschichts- und Freiheitskonzeptionen – die Frage nach Sinn und Subjekt der Geschichte als ideologisch demaskiert und überhaupt fallengelassen wird, ist dieser Entschuldigungszwang angesichts der Leidensgeschichte nicht etwa abgebrochen, sondern vielleicht in seiner unheimlichsten Gestalt am Werk. Emanzipationsprozesse werden hier mit technologisch-ökonomischen Fortschrittsprozessen synchronisiert. In diesen Prozessen aber werden die handelnden Mächte immer subjektloser, immer anonymer, Freiheitsgeschichte wird in neuer Weise zur „Naturgeschichte“, zum Zwangsmechanismus des technologischen Fortschritts, zum „Schicksal zweiter Ordnung“, zum Posthistorie, zum gesellschaftlichen Strukturalismus mit einer geradezu subjektlosen Teleologie der Emanzipation. Der Entschuldigungsmechanismus führt hier zur Auflösung eines zurechnungsfähigen geschichtlichen Handlungssubjekts überhaupt. So wie eine gewisse Theodizee der Aufklärung Gott angesichts der menschlichen Leidensgeschichte dadurch zu „rechtfertigen“ suchte, daß sie seine Existenz einfachhin bestritt, führt der Entschuldigungsmechanismus der Anthropodizee innerhalb einer abstrakten Emanzipationsgeschichte schließlich dazu, den Menschen angesichts dieser Leidensgeschichte dadurch zu rechtfertigen und zu entschuldigen, daß sein Tod als Subjekt insinuiert oder gar (wie gehabt) proklamiert wird.
Mit diesen allzu knappen und allzu großflächigen Hinweisen möchte ich vor allem dies eine erläutern: Emanzipation in universalgeschichtlicher Totalität ist in gefährlicher Weise abstrakt und widersprüchlich. Eine universale Emanzipationstheorie ohne Soteriologie bleibt einem irrationalen Entschuldigungs- bzw. Schuldverdrängungsmechanismus unterworfen. Emanzipationsgeschichte ohne Erlösungsgeschichte unterwirft das geschichtliche Subjekt angesichts der konkreten Leidensgeschichte neuen irrationalen Zwängen: entweder dem Zwang zur transzendentalen Suspendierung der eigenen geschichtlichen Verantwortung oder dem Verfeindungszwang oder schließlich dem Zwang, sich selbst überhaupt als Subjekt zu negieren. In der Verweigerung der Schuldannahme wird nicht bestimmte anschauliche Freiheit, sondern mühsam kaschierte Heteronomie gefördert. Die Autonomie und Mündigkeit totaler Emanzipation ist voll innerer Widersprüche. Sie basiert auf partiell oder schließlich total suspendierter Identität des Handlungssubjekts, und am Ende ist diese Autonomie und Mündigkeit, wo sie aus verdrängter Schuld bzw. zu Lasten von Alibisubjekten lebt und sich deshalb ohne Sehnsucht nach Erlösung und Versöhnung begreift, genau das, was Adorno hellsichtig befürchtete: banal. Ausdruck abstrakt halbierter Freiheit. Endgeschichte der Freiheit als Apotheose der Banalität.
Christliche Soteriologie rückt demgegenüber unerbittlich Leidensgeschichte als Schuldgeschichte in den Blick. Sie enthält, wie Karl Rahner das formulierte, immer auch die „Anleitung, den Menschen in die Anerkennung seiner Schuldsituation mystagogisch einzuweihen“. Dies freilich nicht, um neue Unterdrückung in Gang zu setzen, um durch Indoktrination von Schuldgefühlen kaltblütig menschliche Herrschaftsinteressen durchzusetzen oder zu stabilisieren, nicht um die Ohnmächtigen mit mehr Schuld und die Mächtigen mit noch mehr unschuldiger Macht auszustatten, nicht um durch die Schuldpredigt die Privilegierten und die sich selbst Privilegierenden um so erfolgreicher zu entschuldigen und das Mysterium der Schuld als einen kalkulierten Faktor subtiler Ausbeutung einzusetzen. Dies sind alles keine abstrakten Gefahren, sie sind oft genug innerhalb der Geschichte des Christentums aufgetaucht und wirklich geworden. Jede Soteriologie hat sich in aller Redlichkeit und in aller Bestimmtheit, aber auch mit einer bisher unbekannten Sensibilität dem einschlägigen ideologie- und religionskritischen Verdacht zu stellen. Sie kann von der Leidensgeschichte als Schuldgeschichte nicht ohne Rücksicht auf die Mechanismen der Unterdrückungs- und Machtgeschichte reden und Gebrauch machen. Und darum kann man, so meine ich, sinnvoll von Soteriologie als politischer Theologie der Erlösung sprechen. Aber gerade als solche kann und darf sie sich das unbeliebte, für viele längst ausgetrocknete Thema „Schuld“ nicht ausreden lassen und es nicht auf dem Altar eines abstrakten Emanzipationsideals opfern. Wovon spräche sie sonst, wenn sie „Erlösung“ sagt? Und wie vermöchte sie sonst jene kritische Befreiungsarbeit zu leisten, die innerhalb der neuzeitlichen Emanzipationsgeschichte zu tun ist und die darin besteht, dem Entschuldigungsmechanismus einer abstrakt totalen Emanzipation zu widerstehen und den heimlichen Unschuldswahn, der ihn begleitet, als das zu entlarven, was er ist: das neue Opium der Totalemanzipierer angesichts der konkreten und umfassenden Leidensgeschichte.
Leidensgeschichte als Geschichte der Besiegten und emanzipatorische Fortschrittsideologie
2. Die tatsächliche und umfassende Leidensgeschichte, die im christlichen Erlösungsgedächtnis im Blick steht, enthält das Leid der Endlichkeit und des Todes, das vergangene Leid, das Leid der Toten. Ihm gegenüber artikuliert sich das Befreiende und Sinnspendende christlicher Erlösungsbotschaft. Nun ist diese Dimension der Leidensgeschichte den erfahrbaren Leidensgeschichten keineswegs nachträglich angesonnen, ist nicht von christlicher Soteriologie ad usum delphini hinzugedacht. Vielmehr bleibt Freiheitsgeschichte allemal auch Leidensgeschichte. Es bleibt der Schmerz, die Trauer, die Melancholie, es bleibt vor allem das oft sprachlose Leiden am ungetrösteten Leid der Vergangenheit, am Leid der Toten, denn auch die größere Freiheit künftiger Geschlechter macht vergangenes Leid nicht wieder gut und macht es nicht frei. Keine innerweltliehe Besserung der Freiheitsverhältnisse reicht aus, den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, keine rührt verwandelnd an das Unrecht und den Unsinn vergangener Leiden. Eine emanzipatorische Freiheitsgeschichte, die diese Gestalt der Leidensgeschichte unterschlägt oder verdrängt, wird selbst zur halbierten, abstrakten Freiheitsgeschichte; ihr „Fortschritt“ wird am Ende zum Einmarsch in die Inhumanität. Denn wiederum erweist sich diese abstrakte Freiheitsgeschichte als eine reine Erfolgsgeschichte, eine reine Siegergeschichte. Der Freiheitssinn der Geschichte ist hier eine den Siegern, den Durchgekommenen reservierte Kategorie: Vae Victis! Vae Victis aber ist kein Sinnprinzip für Freiheitsgeschichte, sondern die genaue Definition des Darwinismus in der Natur. Darum ist solche abstrakte Freiheitsgeschichte schließlich nichts anderes als imitierte Naturgeschichte. Hier wie dort gilt das Recht des Stärkeren, das Selektionsprinzip des Überlebens; solche Freiheit vermehrt sich und schreitet voran auf dem Rücken der Massa damnata der Toten. Das Leid der Väter findet Trost allenfalls im Glück der Enkel, vergangenes Leid düngt die künftige Harmonie, wie es Iwan Karamasoff bitter formulierte; es herrscht ein Darwinismus zweiter Ordnung, ein objektiver Zynismus gegenüber dem vergangenen Leid und gegenüber der Freiheit der Toten und der Besiegten. An dieser ungeheuren Halbierung des Freiheitsthemas zergeht aber am Ende Freiheitsgeschichte überhaupt; sie züchtet sich in dieser Abstraktion zurück in Naturgeschichte (und nicht umsonst insinuieren die Propheten einer abstrakt-totalen Emanzipation „Natur“ als Geschichtssubjekt!).
Dagegen bietet das Christentum in seiner Erlösungsbotschaft nicht einen noch so ausgelaugten Sinn für die ungesühnten Leiden der Vergangenheit auf; es erzählt dagegen vielmehr eine bestimmte Freiheitsgeschichte: Freiheit aus erlösender Befreiung durch Gott im Kreuz Jesu. Und diese Befreiungsgeschichte enthält nicht zufällig den „Abstieg zu den Toten“, den „descensus ad inferos“. Bei ihm handelt es sich keineswegs um einen mythologischen Topos, den man schleunigst auszuscheiden oder doch als nachträgliche Interpolation in das christliche Erlösungsgedächtnis zu relativieren hätte, da er nicht zur genuinen Sache Jesu gehöre. Auf diese Weise hat man der christlichen Soteriologie jeden apokalyptischen Stachel gezogen; auf diese Weise wird man auch ihren entscheidenden Freiheitssinn verdunkeln. Dieser „Abstieg“, dieser „descensus“, dieses „Mitsein des Gekreuzigten mit den Toten“ zeigt nämlich die originäre Befreiungsbewegung der Erlösungsgeschichte an, ohne die jede Freiheitsgeschichte sich auf Naturgeschichte zurückstuft und in ihr sich tendenziell stilllegt: Endgeschichte der Freiheit als Apotheose der Natur!
Dies alles ist wiederum nicht zur Beschwichtigung bemerkt, nicht als Opium für gegenwärtiges Leiden. Diese Erlösungsgeschichte nimmt uns ja nicht aus der Solidarität der geschichtlich Existierenden heraus, sie fügt vielmehr eine verdrängte Gestalt dieser Solidarität hinzu. Sie will uns freimachen, auf die Leiden und Hoffnungen der Vergangenheit zu achten und uns der Herausforderung der Toten zu stellen, die doch ebenso zum „Bund“ unserer Geschichte gehören wie die noch ungeborenen Enkel. Es gibt im Licht dieser Erlösungsgeschichte nicht nur eine „Solidarität nach vorn“, mit den kommenden Geschlechtern, sondern auch eine „Solidarität nach rückwärts“, mit den tödlich Verstummten und Vergessenen; es gibt für sie nicht nur eine „Revolution nach vorn“, sondern gewissermaßen auch eine solche nach rückwärts – zugunsten der Toten und ihrer Leiden. Sie blickt nicht vom Standpunkt der Sieger, der Durchgekommenen und der Arrivierten, sondern von dem der Besiegten und der Opfer auf das öffentliche Welttheater unserer Geschichte. Darin ist sie kategorial der Literatur, der Tragödie zumal, nahe, die gegen den Zwang unserer Fortschrittsgeschichte die Antigeschichte ungesühnten Leidens erzählt und wachhält. Doch entlarvt sie nicht nur den Un-Sinn der Geschichte gegen den forschen Optimismus der Sieger. Für sie hängt das Sinnpotential unserer Freiheitsgeschichte nicht nur an den Überlebenden, den Erfolgreichen und Durchgekommenen. Sie erzählt den Gegen-Sinn der Erlösung.
Obsolet ist dieser Gegensinn der Erlösung nur für eine Vernunft, die sich aus lauter Angst vor Heteronomie den Respekt vor dem geschichtlich akkumulierten Leiden versagt und deshalb sogar die „Autorität der Leidenden“ im Interesse abstrakter Autonomie zerstört. Wo Vernunft sich indessen diesen Respekt bewahrt, da macht er sie in einer Weise „vernehmend“, die in der Entgegensetzung von „Autorität und Erkenntnis“, in der das Autonomieproblem der Vernunft zumeist diskutiert wird und an der auch das Verständnis von Emanzipation als apriorischem Vernunftinteresse orientiert scheint, eben nicht ausgedrückt werden kann. In diesem Vernehmen gewinnt Geschichte – als erinnerte Leidensgeschichte – für Vernunft allemal die Gestalt „gefährlicher Überlieferung“; deren Vermittlung geschieht nie rein argumentativ, sondern anfänglicher narrativ, in „gefährlichen Geschichten“, die den Bann emanzipatorischer Totalreflexion der Geschichte immer wieder sprengen und als abstrakt desavouieren.
Leidensgeschichte als Krise argumentativer Soteriologie
3. Angesichts der tatsächlichen und umfassenden Leidensgeschichte der Menschen gerät nun aber auch jede rein argumentative Soteriologie in die Krise. Dies ist kurz auszuführen, um dabei gleichzeitig sichtbar zu machen, daß wir in all unseren bisherigen Überlegungen Leidensgeschichte nicht als ein „Drittes“ über Erlösung und Emanzipation verstehen. Ich frage also: Kann christliche Soteriologie ihrerseits wirklich der Leidensgeschichte und der darin sich manifestierenden schmerzlichen Nicht-Identität alles geschichtlichen Lebens und aller geschichtlichen Erfahrungen standhalten? Entzieht sie ihrerseits durch ihre Rede von der „redemptio objectiva“, von der in Jesus Christus geschehenen und nun (nicht nur in uns, sondern bei und unter uns) anwesenden Erlösung den Menschen nicht von vornherein dem Wagnis und dem Risiko der Nicht-Identität geschichtlicher Existenz? Treibt sie nicht ein geschichtsloses und deshalb immer auch mythologieverdächtiges Wesen über den Köpfen der durch ihre Leidensgeschichte gebeugten, gedemütigten, zerstörten Menschen? Mündet sie angesichts des geschichtlich angehäuften Leidens schließlich nicht ihrerseits in einen objektiven Geschichtszynismus mit umgekehrtem Vorzeichen? Gibt es eine theologische „Vermittlung“ zwischen Erlösung und Geschichte, die als Leidensgeschichte überhaupt erst in ihrer Geschichtlichkeit ernst genommen ist? Gibt es diese theologische „Vermittlung“, ohne daß sie zu einer steilen, hochfliegenden und am Ende sich selbst betrügenden spekulativen Versöhnung mit dieser Leidensgeschichte gerät oder aber Erlösungsgeschehen selbst wieder angesichts dieser Leidensgeschichte suspendiert? An diesem Vermittlungsproblem, das sich relativ leicht als Zentralproblem gegenwärtiger Theologie überhaupt formulieren ließe, scheitert m. E. jede rein argumentative Theologie. Es gibt gegenwärtig, wenn ich recht sehe, im Blick auf diese Problematik vor allem zwei Trends von theologischen Lösungsversuchen.
Der eine tendiert auf eine Konditionierung des Heils und der Erlösung angesichts der Leidensgeschichte. Heil und Erlösung werden extrem futurisiert, sie bleiben — im Respekt vor der Nicht-Identität der Geschichte als Leidensgeschichte – „auf dem Spiel“. Was aber ist eine auf dem Spiel stehende Erlösung am Ende anderes als Erlösungsutopie, von der man allenfalls einen heuristischen Gebrauch im Gang menschlicher Freiheitsgeschichte machen kann? Was ist konditioniertes Heil anders als Chiffre für die gesuchte Selbstbefreiung und Selbsterlösung der Menschheit, die wieder in jene Aporien stürzt, von denen wir bereits gesprochen haben? Diese Konditionalsoteriologie löst sich schließlich in jene Formen einer praktischen Geschichtsphilosophie auf, die in der Beerbung der christlichen Erlösungsidee zwar — etwa seit der Aufklärung – utopische und politische Elemente in sich aufgenommen haben, denen aber z. B. Habermas die Unfähigkeit bescheinigt, „die faktische Sinnlosigkeit des kontingenten Todes, des individuellen Leidens, des privaten Glücksverlustes, überhaupt die Negativität lebensgeschichtlicher Existenzrisiken durch Trost und Zuversicht so zu überspielen (oder zu bewältigen?), wie es die Erwartung des religiösen Heils vermocht hat“.
Die andere Lösungsrichtung sei hier etwas ausführlicher erwähnt und beim Namen genannt. Sie behandelt Soteriologie von vornherein nicht rein präzisiv, sieht also Erlösung nicht als ein bestimmtes (kategoriales) „Werk“ Gottes in Jesus Christus. Sie bindet die Soteriologie — mit Recht – stärker in die Mitte der Theologie überhaupt zurück, nicht nur in die Inkarnationstheologie, nicht nur in die Eschatologie, sondern in die spezifische Bestimmung des christlichen Gottesverständnisses überhaupt, d. h. in die Trinitätstheologie. Leid wird nun zum „Leid zwischen Gott und Gott“ (J. Moltmann); die Nicht-Identität menschlicher Leidensgeschichte wird, im Blick auf Gottes Kenose in Jesu Kreuz, hineingenommen in die trinitarische Gottesgeschichte. Solche Versuche finden sich im Bereich evangelischer Theologie im Anschluß an Karl Barth z. B. bei Eberhard Jüngel und vor allem in Jürgen Moltmanns jüngstem Buch über den „gekreuzigten Gott“ [3]. Im katholischen Raum können solche Überlegungen anknüpfen an Karl Rahners Vorschläge zur Einheit von immanenter und ökonomischer Trinität; sie finden sich ansatzweise z. B. in Hans Küngs Rede von der Geschichtlichkeit Gottes im Zusammenhang seiner Interpretation der Hegelschen Christologie[4] („rechte“ Hegelianer sind die Genannten allemal!), am eindringlichsten meines Wissens jedoch bei Hans Urs von Balthasar und seiner Interpretation des Mysterium Paschale im Horizont der trinitarisch verstandenen Selbstentäußerungsgeschichte Gottes[5]. Viel Rühmendes wäre zu diesen und ähnlichen Ansätzen zu sagen. Hier möchte ich indes ein zentrales Bedenken formulieren, abgekürzt freilich nur und in extrem formalisierter Gestalt: Die Nicht-Identität menschlicher Leidensgeschichte kann auch in einer theologischen Dialektik trinitarischer Soteriologie nicht unter Wahrung ihres Geschichtscharakters „aufgehoben“ werden. Denn diese schmerzlich erfahrene Nicht-Identität des Leidens ist gerade nicht identisch mit jener Negativität, die zu einem dialektisch verstandenen Geschichtsprozeß gehört, und sei es jener der trinitarischen Gottesgeschichte. Wo immer der Versuch gemacht wird, die in Jesus Christus vollbrachte Erlösungsgeschichte und die menschliche Leidensgeschichte nicht einfach geschichtslos paradoxal gegeneinanderzusetzen bzw. das eine sub contrario im anderen zu behaupten, sondern die Entzweiung menschlicher Leidensgeschichte selbst noch einmal in der Dialektik der trinitarischen Gottesgeschichte zu deuten und zu begreifen, liegt die genannte Verwechslung zwischen der Negativität des Leidens und der Negativität des dialektisch vermittelten Begriffs des Leidens vor. Eine begrifflich-argumentative Vermittlung und Versöhnung zwischen geschehener und wirksamer Erlösung einerseits und menschlicher Leidensgeschichte anderseits scheint mir ausgeschlossen; sie führt entweder zur dualistisch gnostischen Verewigung des Leidens in Gott oder zur Herabdeutung des Leidens auf dessen Begriff; tertium non datur. Das Dilemma kann m. E. nicht durch eine noch subtilere spekulative Argumentation gelöst werden, sondern allein durch eine andere Art, geschehene und wirkende Erlösung in der Nicht-Identität der Leidenszeit zur Sprache zu bringen.
IV. Für eine erinnernd-erzählende Erlösungstheologie
Soteriologie, dies ist die These, Soteriologie, die weder das Erlösungsgeschehen konditioniert oder suspendiert noch die Nicht-Identität der Leidensgeschichte ignoriert bzw. dialektisch überfährt, kann nicht rein argumentativ, sie muß narrativ expliziert werden; sie ist fundamental memorativ-narrative Soteriologie. Die Einführung der erzählenden Erlösungserinnerung scheint mir so wenig ein Anzeichen für regressive Entdifferenzierung der geschilderten Problematik zu sein, daß sie allererst die Möglichkeit bietet, Erlösung in Geschichte, die allemal Leidensgeschichte ist, ohne gegenseitige Verkürzung auszusagen. Die Kategorie der erzählenden Erinnerung läßt m. E. das Erlösungsthema weder in die Geschichtslosigkeit der reinen Paradoxie zurückfallen noch unterstellt sie es dem logischen Identitätszwang einer dialektischen Vermittlung von Erlösungsgeschichte und Leidensgeschichte. Dieser gegenüber wirkt Erzählung „klein“ und unprätentiös. Sie hat nicht den dialektischen Schlüssel, auch nicht aus der Hand Gottes, mit dem alle dunklen Gänge der Geschichte ins Licht hinein zu öffnen sind, ehe man sie überhaupt betreten und durchschritten hat. Doch auch sie ist nicht ohne Licht.
Und darum ist zum Abschluß versuchsweise noch einiges zur erzählenden Erinnerung der Erlösung zu sagen – in einer knappen Aufreihung von Gesichtspunkten, die nur in ihrer vollen Entfaltung und um vieles ergänzt ein zureichendes Plädoyer für diesen memorativ-narrativen Ansatz christlicher Soteriologie wie vielleicht der Theologie überhaupt sein könnten[6].
1. Die Einführung der erzählenden Erinnerung und die Betonung ihres kognitiven Primats in der Soteriologie ist keine ad-hoc-Konstruktion zur Lösung des geschilderten Dilemmas argumentativer Soteriologie. Sie aktualisiert vielmehr jenen Vermittlungsvorgang zwischen Erlösungsgeschehen und menschlicher Leidensgeschichte, wie er uns in den Testamenten unseres Glaubens begegnet. Christentum als Gemeinschaft der in Jesus Christus Erlösten ist von Anfang an nicht primär eine Interpretations- und Argumentationsgemeinschaft, sondern eine Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft: erzählende Erinnerung der Passion, des Todes und der Auferweckung Jesu. Der Logos des Kreuzes und der Auferweckung hat indispensable Erzählstruktur. Der Austausch von Glaubenserfahrung wie von jeder ursprünglichen Erfahrung des Neuen, nie Dagewesenen, hat nicht die Gestalt des Arguments, sondern der Erzählung. Der Glaube an die Erlösung der Geschichte und an den „neuen Menschen“ tradiert sich angesichts der menschlichen Leidensgeschichte in gefährlich-befreienden Geschichten (unter denen der von ihnen betroffene Hörer zum „Täter des Wortes“ wird). Wo Soteriologie die erzählende Erinnerung zu einer mythologischen Vorstufe des in ihr verhandelten Erlösungslogos herabdeutet, erweist sie sich nicht etwa als kritisch, sondern in einem spezifischen Sinn als unkritisch-bewußtlos gegenüber den Möglichkeiten und Grenzen, christliche Erlösungsbotschaft in der Erfahrung der Nicht-Identität geschichtlichen Lebens affirmativ zur Sprache zu bringen. Die Kritik an Mythen hatte allen Grund; aber sie vergißt leicht, daß Erzählung aller kritischen Argumentation der Theologie innewohnt als vermittelndes Moment ihrer Inhalte. Dies gilt es auch gegenüber der historischen Kritik in der Theologie festzuhalten! Es ist etwas anderes, ob man die historische Frage und die ihr zugeordnete „historische Wahrheit“ als eine dem Christentum neuzeitlich aufgedrängte, in diesem Sinn unerläßliche Problemgestalt ansieht oder als das Medium, in dem sich die Wahrheit des Christentums und seiner Erlösungsbotschaft ursprünglich ausdrückt und identifiziert. So kommt es darauf an, das Erinnerungs- und Erzählpotential des Christentums nicht aus lauter Angst vor Unwissenschaftlichkeit zu verstecken oder zu leugnen, sondern es zu schützen und in neuer Weise zu mobilisieren gegen den Bann einer vermeintlich postnarrativen Zeit.
2. Eine rein argumentative Soteriologie, die sich ihren Ursprung in erzählender Erinnerung verbirgt und ihn nicht ständig neu aktualisiert, führt angesichts der menschlichen Leidensgeschichte zu jenen tausend Modifikationen in ihrer Argumentation, unter denen unversehens jeder identifizierbare Inhalt christlicher Erlösung erlischt. Dies ist nicht rundweg gegen das Argumentieren in der Soteriologie gesagt. Der Standpunkt „Erinnern-Erzählen versus Argumentieren“ wäre in der Tat rein regressiv-entdifferenzierend. Es geht vielmehr um die Relativierung und Konditionierung der argumentativen Soteriologie. Sie ist nicht die Sprache der Erlösung! Sie (wie eigentlich alle argumentative Theologie) hat allein eine „apologetische“ Funktion, nämlich die erzählende Erinnerung der Erlösung in unserer wissenschaftlich-emanzipatorischen Welt zu schützen und selbst immer neu zu einem Erzählen anzuleiten, ohne das die Erfahrung der Befreiung in und durch Jesus Christus sprachlos bliebe und schließlich unter dem Logos der wissenschaftlichen Welt abbräche; die Anzeichen dafür sind Legion! Ich habe in diesen Überlegungen einen kleinen Versuch einer solchen Apologetik vorgetragen. Andere und andersartige sind nötig. So z. B. auch eine theologische Theorie des Erzählens und des Erinnerns, nicht in einer wohlfeilen Anbiederung an die sprachanalytische Auflösung der Erzählvorgänge oder an die Depotenzierung der Erinnerung im Historismus, sondern mit der Absicht, das Erinnern und Erzählen gerade als indispensablen Vorgang der Kommunikation und der Handlungsorientierung herauszuarbeiten und damit nicht zuletzt auch einer Geschichtswissenschaft und einer historischen Vernunft beizustehen, die sich durch die Verbergung ihrer eigenen Narrativität und die theoretische Ächtung des Erzählens und der Erinnerung langsam, aber sicher selbst abschaffen.
3. An anderer Stelle[7] habe ich versucht, die erzählende Tiefenstruktur jenes „apriorischen“ Freiheitswissens herauszustellen, von dem sich das praktische Interesse emanzipatorischer Vernunft geleitet weiß und auf das diese Vernunft sich erinnernd beziehen muß, wenn sie sich der Frage nach der Wahrheitsfähigkeit ihrer eigenen praktischen Interessen und ihres Freiheitswillens nicht versagt.
Auch davon (wie von so vielem anderen) müßte ausführlich die Rede sein, wenn schließlich der Gedanke hinreichend erläutert sein sollte, den ich hier nur unter sehr begrenzten Gesichtspunkten ausführen konnte: Soteriologie führt die christliche Erlösungsbotschaft nicht nachträglich, als „Lückenbüßer“, in die neuzeitliche Freiheitsgeschichte ein; sie sucht vielmehr das christliche Erlösungsgedächtnis als gefährlich-befreiendes Gedächtnis erlöster Freiheit erzählend wachzuhalten und argumentativ zu schützen in den Systemen unserer sogenannten emanzipatorischen Welt.
Quelle: Stimmen der Zeit 191, Nr. 3 (März 1973), S. 171-184.
[1] Es handelt sich hier um den vor allem im Anmerkungsteil gekürzten Abdruck eines Referats, das der Verfasser bei der Tagung der Kath. Dogmatiker und Fundamentaltheologen in München (27. – 30. 12. 1972) vorgetragen hat und das in vollständiger Fassung erscheinen wird in: Erlösung und Befreiung, hrsg. v. L. Scheffczyk (Freiburg: Herder 1973; „Quaestiones disputatae“).
[2] Wie irrational kann Geschichtsphilosophie sein?, in: Phil. Jahrbuch 79 (1972) 2, 241-253.
[3] Der gekreuzigte Gott (München 1972).
[4] Vgl. H. Küng, Menschwerdung Gottes (Freiburg 1970).
[5] Vgl. H. U. v. Balthasar, Mysterium Paschale, in: Mysterium Salutis 3,2 (Einsiedeln 1969) 133-326.
[6] Wichtige Anregungen zur Narrativität in der Theologie verdanke ich einschlägigen Überlegungen des Linguisten H. Weinrich, vorgetragen auf einer Tagung des „Zentrums für interdisziplinäre Forschung“ der Universität Bielefeld; sie erscheinen in: Concilium, Heft Mai 1973. Vgl. dort auch: J. B. Metz, Kleine Apologie des Erzählens.
[7] Vgl. J. B. Metz, Erinnerung, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hrsg. v. H. Krings, H. M. Baumgartner u. Ch. Wild I (München 1973).