Ernstpeter Maurers Predigt über Römer 11,33-36: „Die Tiefe Gottes – das ist kein gähnender Abgrund, sondern die unerschöpfliche Kreativität, die spielerische Phantasie, die überschäumende Vielfalt der Ideen, die Gott zu einer wunderbaren Schöpfung gestaltet hat wie ein Kunstwerk, das an jeder Stelle auch anders sein könnte und doch gerade so gelungen ist. So ist alles von Gott her. Die Weisheit Gottes leuchtet auf in den Scheidungen, die schon in der Schöpfung – Licht und Finsternis, Himmel und Erde, Land und Meer – und erst recht in der Geschichte für die besondere Gestalt der Geschöpfe sorgen.“

Predigt über Römer 11,33-36

Von Ernstpeter Maurer

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemein­schaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerspürlich seine Wege! Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Oder wer hat ihm zuvor gegeben, dass Gott ihm zurück­geben müßte? Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist Alles. Ihm sei Ehre in Ewigkeit. Amen. (Römer 11,33-36)

Liebe Gemeinde,

„wie unergründlich seine Entscheidungen und wie unerspürlich seine Wege!“ (v.33b). Wäre dies das letzte Wort, so könnten wir uns getrost alle Predigten und auch alle Theologie sparen. Vielleicht könnten wir noch über den Widerspruch spotten: Woher sollen wir überhaupt wissen, ob es Entscheidungen sind, wenn wir sie doch nicht ergründen können? Was sind das für Wege, die keine aufweisbaren Spuren hinterlassen? Von Gott müssten wir dann schweigen – und wir wüssten nicht einmal, ob wir von Gott schweigen. Welch eine freudlose Aussicht!

Nun findet sich der Halbvers in einem ganz bestimmten Zusammenhang, eben am Ende einer stellenweise verzweifelten und jedenfalls vertrackten Grü­belei. Paulus ringt mit der Frage, warum Israel, das erwählte Volk Gottes, sich nicht zu Jesus Christus bekehrt. Dieses Ringen führt zunächst einmal in das gedankliche Labyrinth der Kapitel 9 bis 11 des Römerbriefs. Und doch kommt es am Ende zu einem Durchbruch: Die Verweigerung Israels gegenüber dem Bekenntnis zu Christus entspringt dem Geheimnis Gottes, sie bereitet die Erfül­lung vor, sie folgt einem Plan und ist daher weise, sie ist geistreich wie ein Spiel, wo jeder Zug das Spielfeld ändert. Israel als erwähltes Gottesvolk und der Leib Christi bleiben aufeinander bezogen, es gibt keine Schnittmenge, sondern den Streit um Gott, der beide bis ans Ende der Tage aneinander bindet. Das ist geist­reicher als ein kleinster gemeinsamer Nenner. So bringt Paulus es auf den Punkt:

Wie ihr zuvor Gott ungehorsam wart, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehor­sams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch wider­fahren ist, damit auch sie Barmherzigkeit erlangen (v.30 f.).

Der menschliche Ungehorsam und die Barmherzigkeit Gottes schaukeln einan­der hoch, verbinden Israel und den Leib Christi unauflöslich miteinander und lassen in alledem die Fülle Gottes erahnen. Das ist ein geistreiches Spiel. Ich denke an ein Drama, wo immer tiefere Konflikte aufbrechen und gerade darin die Protagonisten immer intensiver aufeinander bezogen sind. Von Euripides bis hin zu Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch wird dabei der Abgrund der menschlichen Existenz bloßgelegt. Das führt entweder zu einer Tragödie oder zu einer Komödie, je nachdem, ob zuletzt alle tot – oder verheiratet sind. Das Gegenüber Israels zum Leib Christi ist allerdings eine göttliche Komödie, in der die Tiefen Gottes aufgerissen werden.

So kommt Paulus zu einem Durchbruch aus seiner Grübelei – und an dieser Stelle wandelt sich die Atmosphäre seiner Gedanken und Sätze. Er wird von der Freude an seiner Erkenntnis so überwältigt, dass er zu singen anfängt. Die ganze vergrübelte Argumentation mündet in den Jubel angesichts der glanzvollen Tiefe des göttlichen Reichtums. So formuliert Paulus einen poetischen Lobgesang, ein musikalisches Spiel mit Begriffen, das keine unverbindliche Spielerei ist und die Fülle Gottes aufleuchten lässt. Es geht im gesamten Römerbrief um das Evan­gelium, um eine freudige Mitteilung. Passt es da nicht gerade, wenn selbst noch das letzte und bedrängende Problem – die sogenannte „Israel-Frage“ – gründ­lich behandelt, am „Ende vom Lied“ aber doch „mit gutem Humor“[1] aufgelöst wird? Wenn sogar die Verstockung Israels auf Gott hin geordnet ist, was sollte sich diesem drive denn entziehen?

Das Spiel hat seinen theologischen Ort sogar im ewigen göttlichen Leben. Natürlich ist es eine poetische Zuspitzung, wenn die Weisheit davon erzählt, wie sie vor Gottes Angesicht gespielt hat. „Ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit“ (Spr 8,30). Die Weisheit ist in Ewigkeit geboren aus Gott. Das spielerische Gegenüber setzt die Schöpfung überhaupt erst frei. Dieser poetische Blick in die Tiefen des göttlichen Lebens ist kostbar. Alles ist aus Gott, nicht etwa als Ausfluss, sondern in der spielerischen Freiheit Gottes gegründet. Ein Spiel hat Regeln – und es ist umso interessanter, je weniger wir den Verlauf vorher­sehen können. Das bildet der Lobpreis am Ende von Römer 11 nach: Er ist klar gegliedert, und doch lockt er uns in ein semantisches Labyrinth.

Wie es sich für einen Lobgesang gehört, ist dieser Jubel streng geformt. Auch ein Kanon wird zwar gespielt, ist aber keine Spielerei, weder für den Komponis­ten noch für die Musiker noch für die Hörer. Das Gotteslob des Paulus könnte ich mit einem solchen Kanon vergleichen, wo die Stimmen identisch, allerdings gegeneinander verschoben sind und gerade dadurch sinnvolle Zusammenklänge ergeben. Auf den ersten Blick erinnert das an ein magisches Quadrat, wo in jeder Zeile und in jeder Spalte die Summe der Zahlen gleich ist. In einem Kanon ist jede Stimme eigenständig und eine charakteristische Melodie, zugleich tra­gen die Stimmen einander und bilden einen harmonischen Raum. Raffiniert ist ein Kanon, weil die Stimmen identisch sind. Was die Melodie war, wird zur Gegenstimme – oder umgekehrt, und dann gibt es möglicherweise noch mehr als zwei Stimmen. Wer das aufmerksam hört, kann schon an manchen Stellen die Orientierung verlieren – wo ist jetzt „oben“ und „unten“? -, aber auf ange­nehme Weise, denn alles bleibt in einer geistreichen Balance. Im Lobgesang am Ende von Römer 11 stoßen wir auf drei Begriffe, die unterschiedlich aufeinander bezogen werden können: „Reichtum – Weisheit – Erkenntnis“. Am Ende sind diese drei Wörter keine Begriffe mehr. Sie bezeichnen keine festen Vorstellun­gen, eher setzen sie unser Denken in Bewegung. Denn jedes der drei Wörter umgreift auf seine Weise die beiden anderen und hebt sich von ihnen ab, indem es in die beiden anderen übergeht. So können die drei Wörter auch als Präposi­tionen formuliert werden: „von Gott her – durch Gott – auf Gott hin“. Alles wird durchsichtig für Gott, und zwar in drei Perspektiven. Darin leuchtet das Leben Gottes auf, auf Griechisch: die doxa – also Gottes Herrlichkeit oder vielleicht treffender: Gottes Schönheit.

Begriffe und feste Vorstellungen werden verwandelt in bewegte Gedanken, aus Substantiven werden Präpositionen, aus „Reichtum – Weisheit – Erkennt­nis“ wird „von Gott – durch Gott – auf Gott hin“. Diese Verwandlung formu­liert Paulus in zwei Sätzen, die kunstvoll ineinander verschlungen sind. Der erste Satz: Gottes Entscheidungen sind unergründlich. Das demonstriert Paulus gerade am Gegenüber Israels zum Leib Christi: Die Scheidung geht nicht ein­fach auf. Der Leib Christi übergreift den Unterschied, denn die Gemeinde Jesu Christi wird zusammengefügt aus Juden und Heiden. So gerät die Scheidung in Bewegung, sie wird dynamisch und geistreich. Der Leib Christi steht „quer“ zum Gegenüber von Juden und Heiden. Das verlockt zum „Querdenken“ und lässt die göttliche Fülle erahnen. Die Weisheit, in der Gott unterscheidet, führt immer wieder zu neuer Erkenntnis, überschreitet unsere Festlegungen. – Der zweite Satz: Gottes Wege sind unerspürlich. Wir können Gottes Spuren nicht „feststellen“. Wir dürfen sie aber mitgehen, werden von der Bewegung Gottes mitgerissen und sind mitten darin. In dieser geistreichen Bewegung kommt es zu einem Reden von Gott, das nicht eindeutig und doch präzise ist. Gottes Geist durchdringt unsere Erkenntnis und kehrt unseren Geist um: Wir erken­nen Gott, so wie wir erkannt sind (1Kor 13,12). Wir begreifen Gott nicht, weil wir von Gott umgriffen sind. Das ist die Weisheit Gottes, im Unterschied zur Weisheit der Welt, die auf eindeutige Festlegungen, auf „objektive Feststellungen“ drängt und letztlich sogar Gott festnagelt, wenn auch ohne bleibenden Erfolg.

Am Kreuz Jesu Christi verdichtet sich die Weisheit Gottes und macht die Weisheit der Welt lächerlich. Die Mächte der Welt können es nicht ertragen, wenn sie nicht ernst genommen werden, daher reagieren Diktatoren aggressiv auf Satire. Das ändert nichts daran, dass Gott hier das Spiel der göttlichen Weis­heit auf die Spitze und ein Spiel mit der Weisheit der Welt getrieben hat. Es bleibt den Mächten verborgen, uns aber ist es enthüllt. Wir werden in die Tiefen des göttlichen Geistes hineingerissen und ergriffen von der Selbsterkenntnis Got­tes. Von einem unergründlichen Gott dürfen wir reden, er setzt unser Denken in Bewegung. Die Tiefe Gottes – das ist kein gähnender Abgrund, sondern die unerschöpfliche Kreativität, die spielerische Phantasie, die überschäumende Vielfalt der Ideen, die Gott zu einer wunderbaren Schöpfung gestaltet hat wie ein Kunstwerk, das an jeder Stelle auch anders sein könnte und doch gerade so gelungen ist. So ist alles von Gott her. Die Weisheit Gottes leuchtet auf in den Scheidungen, die schon in der Schöpfung – Licht und Finsternis, Himmel und Erde, Land und Meer – und erst recht in der Geschichte für die besondere Gestalt der Geschöpfe sorgen. Alles hat durch Gott seinen Bestand. Diese Scheidungen sind aber keine digitalen „Schwarz-Weiß“-Definitionen. Sie gehen nicht einfach auf und sorgen immer wieder für frische Bewegung – so wie das unauflösliche Gegenüber von Israel und Leib Christi. Sie sind wie ein Spielfeld, das ein geist­reiches Spiel möglich macht und sich im Verlauf des Spiels ändern kann. Dieses Spiel hält die Freude an Gott lebendig und macht unser Leben durchsichtig für die Fülle Gottes. So ist alles auf Gott hin. Fülle, Weisheit und Erkenntnis gehen ineinander über, in jedem der Begriffe stecken die beiden anderen.

Ich habe den Lobpreis am Ende von Römer 11 mit einem Kanon verglichen, auch mit einem magischen Quadrat. Treffender könnte ich von einer „magi­schen Brezel“ sprechen. Die drei Wörter „Fülle – Weisheit – Erkenntnis“ gehen ineinander über und bilden einen Bogen, einen einzigen Zusammenhang, der nicht einfach wie ein Kreis in sich selbst zurückläuft, sondern zunächst in zwei Gedankensträngen weiterläuft. Gottes Scheidungen sind unergründlich, seine Wege sind unerspürlich. Beide Gedanken verknoten sich ineinander und mün­den dann wieder in den Bogen ein (es ist gar nicht so einfach, eine Brezel mit Wörtern zu beschreiben). So wird eine Brezel zu einer in sich geschlossenen, aber doch – anders als ein Kreis – nicht gleichförmigen, sondern in sich gegliederten Figur. Die Kurven, Bögen und Knoten sind wichtiger als die Einzelteile – wer eine Brezel auseinandernimmt, hat die Teile in der Hand, es fehlt dann nur das geistige Band. Das ist sicherlich ein Hinweis auf die Lehre von der Dreieinigkeit, die nicht den scheinbaren Widerspruch zwischen der Einheit Gottes und der Dreiheit der Personen behauptet, sondern die dreifache und darin unerschöpf­liche Einheit Gottes formuliert. Es ist raffiniert, dass Paulus die Dreiheit in der Einheit am Ende nur noch ganz sparsam mit den drei Präpositionen skizziert: „Alles aus ihm und durch ihn und zu ihm hin“ (v.36). Wenn alles durchsichtig wird für das göttliche Leben, können wir auch unser freudiges Reden irgend­wann auslaufen lassen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als eine jede Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Gehalten im Baseler Münster am Sonntag Trinitatis, 22. Mai 2016.


[1] Robert Schumann überschreibt das letzte der Fantasiestücke für Klavier op. 12 mit „Ende vom Lied“ und setzt als Vortragsbezeichnung hinzu: „Mit gutem Humor“.

Hier die Predigt als pdf.

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