Pfingstpredigt (In festo Pentecostes, 1520)
Von Martin Luther
Was und auf welche Weise am Pfingsttag geschehen sei, erzählt Lukas in der Apostelgeschichte (Apg 2,1 ff). Bevor wir diese Geschichte erklären, scheint es der Mühe wert, ein paar Bemerkungen über den Grund und den Ursprung des Pfingstfestes vorauszuschicken.
Unter den Festen, die von den Juden alljährlich gefeiert zu werden pflegten, haben das Pascha und fünfzig Tage darauf das Pfingstfest einen festen Platz. Das erste Fest von den beiden, nämlich das Pascha, wurde gefeiert zum Gedenken an jenen Tag, an dem der Herr sie aus Ägypten herausgeführt hatte. Das andere Fest, nämlich Pfingsten, gedachte des 50. Tages nach der Flucht aus Ägypten, an dem Mose auf dem Berge Sinai vom Herrn die Gesetzestafeln entgegennahm. Die gleichen Feste feiern auch wir, aber mit anderer Begründung: Die Juden feiern sie im Fleisch, wir begehen sie im Geist. Denn wie die Juden dem Leibe nach aus Ägypten in das verheißene Land zogen, so ziehen wir im Geist aus der Ungläubigkeit in das Leben des Glaubens und der Tugenden. Und wie die Juden zum Gedenken an ihren Auszug das Lamm aßen, so werden wir zum Zeichen unseres Glaubens mit Christi Leib gespeist.
Also am fünfzigsten Tag empfingen die Juden das Gesetz, durch Gottes Finger auf steinerne Tafeln geschrieben Auch wir empfangen ein Gesetz, aber auf Tafeln von Fleisch, d.h. die Caritas und die göttliche Liebe (dilectio) eingeschrieben in unser Herz. Hier liegt zugleich der Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Testament: Das alte dem Buchstaben nach auf Steine geschrieben (auf das ich zurückgreifen muß), sobald ich bedenken oder sagen will, was alles durch das Gesetz befohlen wird; das neue ist hingegen eingegraben in unsere Herzen, so daß ich das Gesetz mit innerer Beteiligung (cum affectu) war- nehme, und daß ich das so wahrgenommene Gesetz liebe. Der alte Bund macht uns zu Sündern und zu Söhnen des Zorns; der neue bewirkt Gnade und macht uns zu Söhnen der Versöhnung. Das Unterpfand des alten Bundes ist das Gesetz, das des neuen der Geist. Der alte Bund befiehlt, was ich nicht zu tun vermag. Denn ich habe das Gesetz nicht erfüllt, soviel ich auch darüber erzähle oder nachdenke. Der neue Bund hingegen bringt uns Hilfe, damit wir erfüllen können, indem es unsere Herzen mit himmlischem Feuer in Brand setzt.
Wer das Gesicht eines Menschen den Linien und Schatten nachzeichnet, der hat den wahren Menschen nicht vor sich, sondern eben nichts anderes als ein totes Bildnis, nur ein Schattenriß des lebendigen Menschen. So aber ist es auch mit dem Gesetz: Wenn es auch zeigt und vorschreibt, was zu tun ist, damit ich lebe, in Wirklichkeit gibt es nichts, was mich dazu befähigte — ja, zum Tod führt es eigentlich. Der Geist aber vermittelt just dies, daß du mit lebendiger Hingabe tust, was das Gesetz befiehlt.
Die Buchstaben können in den Stein nur mit äußerster Gewalt und hartem Schlag eingemeißelt werden. Ja mit Gewalt erreichst du nichts, es sei denn es ist dir vorher gelungen, den Stein durch Kunst ein wenig weich zu machen. So wird auch das menschliche Herz das Gesetz immer abweisen, es sei denn es ist vorher durch den heiligen Geist bereit gemacht worden. Darum rufen die Propheten (Jer 31,33): „Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres legen, in ihr Herz will ich es schreiben — spricht der Herr.“ Und darauf zielen ab alle Verheißungen Christi das ganze Evangelium hindurch. Dies also wird uns vom Heiligen Geist als Wohltat geboten, daß wir das göttliche Gesetz erfüllen könnten. Dabei gibt es vor allem zwei Sünden gegen den Heiligen Geist: Die Anmaßung, die darin besteht, daß ein jeder meint, aus eigenen Kräften leisten zu können, was befohlen wird, ohne dazu auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, handlungsfähig durch unseren Willen.
Ausgerechnet wird aber diese schwerste aller Sünden lange Jahre hindurch von denen gelehrt, die für die Unterweisung im Glauben verantwortlich sind, d. h. von denen, die sich der Willensfreiheit verschrieben haben. Anmaßung ist es, just das Gott durch eigene Kraft darbringen zu wollen, was du von ihm empfangen sollst. Gib also acht, daß du dich nicht auf deine eigenen Kräfte verläßt. Bekenne Gott vielmehr, daß du dem Gesetz mit Haß gegenüberstehst, und bitte ihn dann inständig, daß dir das neue Gesetz ins Herz geschrieben und dir die Liebe zum Gesetz geschenkt werde. Dann endlich wird der Heilige Geist in dir die Kräfte frei machen, mit denen du das Gesetz erfüllen kannst. Er wird in deinem Herzen die Flamme der Liebe entzünden, damit du im Gesetz deine Lust, Freude und Liebe findest — im Gesetz, das vorher dein Schrecken war, das du gehaßt hast und das dich vorher ständig quälte. So ist zu lesen von einigen schwachen Jungfrauen, denen plötzlich ihre Keuschheit so teuer war, daß sie zu ihrem Schutz ohne jede Furcht den Tod auf sich nahmen. Das Gegenteil solcher Anmaßung ist dabei die Sünde der Verzweiflung. Ihr sind verfallen, die meinen, daß sie nicht einmal den Buchstaben des Gesetzes aus sich zu erfüllen vermöchten, und die trotzdem nicht die Hilfe des Geistes erflehen, so daß sie daran verzweifeln, je die Gabe des himmlischen Geistes zu empfangen. Es gibt also keine andere Art, den Heiligen Geist zu empfangen, als vorbei durch den Glauben aus Ägypten auszuziehen. Dem göttlichen Wort ist Gehör zu schenken; wenn wir es gehört haben, dann müssen wir ihm anhängen in sicherem Vertrauen. Sobald ich höre, daß Christus für mich gestorben sei, und ich daran glaube, kommt der Heilige Geist in mich. Denn jener Glaube weckt in mir die Liebe; die Liebe aber ist der Heilige Geist.
Ostern ist ziemlich weit weg von Pfingsten — dennoch kommen wir von Tag zu Tag dem Feste immer näher. So verhält es sich auch mit Glaube und Liebe. Wenn du beide auf ihre Vollendung hin betrachtest, dann sind sie immer weiter auseinander. Dennoch schreiten sie täglich voran und auf einander zu. Wie könnte es sonst möglich sein, daß Glaube, Hoffnung und Liebe miteinander verbunden sind.
Deswegen gilt umgekehrt: Wo das Evangelium nicht gepredigt wird, da wird auch Christus nicht erkannt; wo aber Christus nicht verkündigt wird, da gibt es auch keinen Glauben; wo es schließlich keinen Glauben gibt, gibt es auch keine Liebe, d.h. keinen Heiligen Geist. Und es gibt keinen anderen Fortschritt, gleichgültig, welche Versuche du unternimmst. Nur dieser Weg führt dem Heiligen Geist entgegen.
Deshalb sind diejenigen, in denen die Liebe — d.h. der Heilige Geist — schon ist, bereits in der Lage fertig zu bringen, was durch das Gesetz befohlen wird. Christus selbst hat dies im Evangelium keineswegs dunkel erklärt, indem er sagt (Joh 14,23 f): „Wenn jemand mich liebt, dann wird er meine Gebote halten“, und wenig später: „Wer mich nicht liebt, der hält auch meine Gebote nicht.“ Mit diesen Worten zeigt er aufs klarste: Was immer die menschlichen Kräfte und Versuche zur Erfüllung des Gesetzes unternehmen, das verfällt schließlich alles der Ungültigkeit. Gegen die göttliche Liebe und die von ihr erfaßte Menschenliebe (= contra hanc dilectionem sive amorem) stehen vor allem zwei Versuchungen: Die erste besteht darin, daß man aus natürlicher und knechtischer Furcht vor Strafe solche Liebe vortäuscht und dem Anschein nach tut, was der Gesetz befiehlt, obgleich man es in Wirklichkeit (reipsa) haßt und in Wahrheit kein Häkchen des Gesetzes erfüllt. Die andere Versuchung aber besteht darin, daß man es um zeitlicher Güter willen und aus dem Streben nach Vorteil liebt, solange die Dinge günstig stehen und der Erwartung entsprechen. Solche Liebe aber ist äußerst unbeständig. Denn sobald sie in Anfechtungen geraten, fallen sie auch aus der Liebe heraus. Denn nur die lieben aufrichtig und ehrlich, die allein im Blick auf Gott lieben; so daß sie nicht weniger lieben würden, auch wenn das Gesetz es nicht verlangte, und wenn es keinen Lohn und keine Strafe in Aussicht stellen würde. Denn nachdem Christus gesagt hat, „wer mich liebt, der wird meine Gebote halten“, fügt er gleich hinzu: „Und auch mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen“ (Joh 14,24). So schenkt der großzügige Fürst seine großzügige Gabe! Die göttliche Gabe aber ist der Heilige Geist, der den Gebrauch aller Dinge gewährleistet. Christus lehrt die Weisheit; den Gebrauch der Weisheit gewährleistet der Heilige Geist. Der Vater verleiht diese ewige Gabe, was Gott allein schenken kann und was zu schenken ihm allein zusteht. Dadurch aber wird uns der rechte Gebrauch des ganzen Gesetzes geschenkt. Sobald uns diese Gabe geschenkt wird, entsteht aus dem Buchstaben der Geist des Gesetzes. Bei den Liebenden bleibt Gott, bei denen, die zu aufrichtiger Liebe entflammt sind. Sie leben gut auf solide Weise, indem sie für immer Gottes Gegenwart spüren. Die Gerechtigkeit des Liebenden ist eine solide Sache und frei von jeder Scheinheiligkeit.
Alles, was ich gesagt habe, ist ausgezeichnet durch das Wort vom Heiligen Geist, abgeleitet von seinem Werk und seiner Kraft, die er in uns bewirkt. Geist bedeutet Wind und Wehen, wobei diese Bezeichnung vielen Erscheinungen zukommt. Nicht selten wird unsere Seele Geist genannt, denn wie der Wind ist auch die Seele niemals in Ruhe, niemals ist sie nicht in Bewegung, immer wird sie irgendwohin getragen, immer haßt oder liebt sie. Geist wird aber auch das genannt, wodurch unsere Seele bewegt wird. Dieser Geist ist nicht selten gut, manchmal aber auch schlecht und unrein. Da die Seele von beiden bewegt wird, verhält sie sich entsprechend. Und hier ist kein Raum für die freie Entscheidung des Willens, wo immer der Heilige Geist die Seele inspiriert. Er inspiriert so, daß er die menschliche Seele zur Liebe entflammt und zum Guten hinreißt. So kommt es dazu, daß es ihr unmöglich wird, das Gesetz nicht in Liebe zu umfangen. So ist alles in Bewegung zwischen dem neuen Oster- und Pfingstfest wie zwischen dem Pascha der Juden und dem alten Pentecostes.
Damit wir aber auch die Aussage des Evangeliums besser verstehen, wollen wir erneut jenes Wort hervorheben, das besagt: „Wenn jemand mich liebt …“ und: „Mein Vater wird ihn lieben“. Kann man doch zweifeln, ob dies nicht eher sagen soll: Wenn mein Vater jemanden liebt, dann wird er auch meinen Vater lieben. Steht doch fest, daß Gott uns Menschen als erster geliebt hat. Auch fehlt es nicht an Autoren, die aus dieser und aus ähnlichen Stellen die Freiheit des Willens zu folgern versuchen.
Zwar wird zuerst in uns durch den Heiligen Geist die Liebe zu Gott entzündet, weshalb feststeht, daß Gott uns zuerst geliebt hat. Freilich ist dabei wahr, daß ich — wenngleich ich Gott schon liebe — noch keineswegs sicher bin, daß er selbst mich auch liebt. Es ist also notwendig, daß wir die sichere Verheißung haben, durch die bestärkt wir dann nicht mehr zweifeln, daß wir von Gott geliebt werden. Gott handelt also mit denen, die er liebt, so, daß sie über die Liebe Gottes zu ihnen offensichtlich nicht mehr anders zu urteilen vermögen. Und es gibt keine Kreatur, der dies anders erschiene. Deswegen ist es notwendig, daß er die Guten durch sein Wort erhält und ihnen gleichsam ein Zeichen gibt, damit sie — wenn sie daran festhalten — sicher seien, von Gott in Liebe umfangen zu werden. Ein solches Wort und ein solches Versprechen ist der Inhalt der Wendung: „Wer mich liebt, den wird auch mein Vater lieben.“ Dasselbe lautet bei den Propheten: „Bekehrt euch zu mir, und ich will mich zu euch hinwenden“ (Sach 1,3). Es ist dies, als ob er sagte: Es steht bevor, daß ihr wenn ich meine Liebe in euch gießen werde, zahlreiche Widerwärtigkeiten und Anfechtungen erleidet. Und all dies wird vor der Welt und euch selbst so erscheinen, als ob ich euch mit meinem Haß verfolgte. Wahrlich, ich warne euch im vorhinein, damit ihr nicht von mir abfallt, und ich verspreche euch, daß ich euch dann am meisten liebe, wenn ihr unter Verfolgungen leiden werdet, und wenn ihr die Schmerzen des Todes und der Unterwelt erfahrt. Ihr dürft meiner Liebe vor allem dann gewiß sein, wenn ich von euch dann und da geliebt werde, wo alles meiner Liebe zu euch zu widersprechen scheint.
So sind diese Verheißungen nichts anderes als die Lehre vom Glauben. Gott macht uns durch all das deutlich, daß er uns liebt. Und deswegen sagt er, er gehe zum Vater, damit der heilige Tröster-Geist herabsteige, uns zu ermahnen, uns alles zu lehren und die bedrückten Gewissen zu trösten etc.
Gehalten auf Latein am 27. Mai 1520.
WA 9,461-465.
Quelle: Peter Manns (Hrsg.), Predigten Martin Luthers durch das Kirchenjahr I: Fastenzeit, Oster, Pfingsten, Mainz: Matthias Grünewald, 1983, S. 106-112.