Fridolin Stier über die Psalmen: „Geschah dieses an die Sinaigeschichte erinnernde Geschehen real? Wurde es irgendwie durch eine mechanische Vorrichtung dargestellt? Oder war die Phantasie des Psalmdichters so genährt, so durchtränkt von der Erscheinung JHWHs am Sinai, daß sie erzeugte und zu sehen bekam, was sie erfüllte?“

In manchen Psalmen, die zur Gattung der Klagelieder des Volkes und des Einzelnen gehören, spricht JHWH durch den Mund einzelner, eines Priesters oder Kultpropheten sein richtendes und aufrichtendes Wort. Es geschieht, es ereignet sich etwas zwischen dem Ich-Bin-Da-Gott und den Menschen Israels – nicht nur in der dialogischen Beziehung von Anruf und Antwort – im Medium des Wortes. „Laß dein Antlitz über uns leuchten!“ ruft die Tempel-Kult-Gemeinde. Erscheine! Begehren wir wirklich seiner Theophanie?

„Von sich erscheint er strahlend, es kommt unser Gott und schweigt nicht, Feuer frißt vor ihm her, rings um ihn stürmt es gewaltig … Höre mein Volk, ich will reden“ (Psalm 50). Geschah dieses an die Sinaigeschichte erinnernde Geschehen real? Wurde es irgendwie durch eine mechanische Vorrichtung dargestellt? Oder war die Phantasie des Psalmdichters so genährt, so durchtränkt von der Erscheinung JHWHs am Sinai, daß sie erzeugte und zu sehen bekam, was sie erfüllte?

Auf diese Frage gibt es keine Antwort, nur Vermutung, Diskussion. Was hätten denn die Bibelwissenschaftler zu tun, wenn sie nichts mehr zu erfragen, zu forschen, zu phantasieren oder zu streiten hätten.

Quelle: Fridolin Stier, Mit Psalmen beten, hrsg. von Eleonore Beck, Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk, 2001, S. 77.

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