Der Kampf gegen die Irrlehrer in den Pastoralbriefen
Von Jürgen Roloff
Ein eigentümlicher Schatten, der allgegenwärtig ist, dessen Konturen jedoch kaum greifbar sind, liegt über den Pastoralbriefen: Es ist der Schatten der Gegner, mit denen sich der Verfasser auseinandersetzt. Der Gedanke an sie begleitet ihn auf Schritt und Tritt. Auch da, wo er ganz andere Themen zu verhandeln scheint, wie etwa die innere Ordnung der Kirche, die Aufgaben des gemeindeleitenden Amtes oder die Treue zur apostolischen Überlieferung, geht es ihm darum, sie zurückzudrängen, Dämme gegen ihren Einfluß auf die Kirche aufzurichten. Und doch nimmt er sie nie direkt ins Visier, kommt er nirgends auf konkrete Konfliktfälle zu sprechen. Fast beiläufig, nur in unbestimmten Andeutungen, erwähnt er sie, ganz so, als wollte er den Eindruck erwecken, sie seien einer direkten Auseinandersetzung nicht wert: »Gewisse Leute« sind von gutem Gewissen und Glauben »abgeirrt, um leerem Geschwätz zu verfallen« (1 Tim 1,6); »manche« haben das gute Gewissen »von sich gestoßen, und darum erlitten sie Schiffbruch im Glauben« (1 Tim 1,19; vgl. 4,1); »solche Menschen«, die gottloses Geschwätz verbreiten, »geraten immer tiefer in die Gottlosigkeit« (2 Tim 2,16); »gewisse Leute« schleichen sich in die Häuser ein, um dort auf »gewisse Frauen« Einfluß zu gewinnen (2 Tim 3,6). Zwar fallen hin- und wieder einige Namen: Hymenäus, Alexander und Philetus (1 Tim 1,20; 2 Tim 2,17; 4,14), doch auch durch sie gewinnt das Gegnerbild keine klareren Konturen. Deutlich ist lediglich, daß sie in den Augen des Verfassers Irrlehrer sind, die sich von der »rechten Lehre« abgewandt haben (Tit 3,10) und durch die der Gemeinde eine Spaltung droht.
Wer sind die Gegner?
Will man diese Irrlehrer genauer identifizieren, so muß man versuchen, die verstreuten Hinweise und Anspielungen gleich den Klötzchen eines Puzzles zusammenzusetzen. Dabei ist allerdings Vorsicht am Platze. Zuweilen ist die Forschung dadurch in die Irre geleitet worden, daß sie abfällige Bemerkungen und negative Urteile über die Gegner für reale Charakteristika nahm, statt zu erkennen, daß es sich zum Teil um stehende Klischees handelte, die der Verfasser aus seiner hellenistischen und frühchristlichen Umwelt übernahm. Wenn er ihnen subjektive Unwahrhaftigkeit (1 Tim 1,19; 4,3; 2 Tim 3,5 u. ö.), betrügerische Absichten und Handeln aus Gewinnsucht (1 Tim 6,5; 2 Tim 3,2; Tit 1,11) unterstellt, so überträgt er damit einen aus der zeitgenössischen Polemik gegen fragwürdige philosophische Lehrer geläufigen Vorwurf auf sie, und entsprechendes gilt auch von den Aussagen über ihren unmoralischen Lebenswandel (1 Tim 1,9f; 2 Tim 3,2ff) und ihre Neigung zu fruchtlosen Debatten (1 Tim l,4ff; 4,2; 6,4; 2 Tim 2,14ff.23; Tit 1,10; 3,9).[1] Zurückhaltung ist auch gegenüber jenen Aussagen geboten, die die Gegner als Juden kennzeichnen (Tit 1,10.14) und ihre falsche Lehre als Spekulation über das jüdische Gesetz darstellen (1 Tim 1,7; Tit 1,14; 3,9). Nichts deutet nämlich darauf hin, daß für die heidenchristlichen Gemeinden der Pastoralbriefe die Auseinandersetzung über die Geltung der Tora noch aktuell gewesen wäre,[2] so daß die Gefahr einer Verstärkung jüdischen Einflusses bestanden hätte. Hier dürfte der Verfasser vielmehr, bedingt durch die literarische Fiktion der Briefe, an die Polemiken der echten Paulusbriefe, die sich vorwiegend gegen judaisierende Tendenzen richteten, anknüpfen[3]. Zuweilen hat man angesichts solcher schematischer Züge sowie des fiktiven Charakters der Briefe in Frage stellen wollen, daß hier überhaupt eine konkrete gegnerische Front im Blick ist, und stattdessen eine Zusammenschau verschiedener, vom Verfasser für typisch angesehener häretischer Phänomene, ein »apologetisches Vademecum« jeglicher Häretikerbekämpfung[4] vermutet. Doch das ist unbegründet. Aus der Zusammenschau der kritisch ausgewerteten Einzelangaben ergibt sich nämlich doch ein in sich schlüssiges, weil der vorauszusetzenden Gemeindesituation unmittelbar entsprechendes, Gesamtbild.
Zunächst ist deutlich; Die Irrlehrer sind nicht von außen in die Gemeinden eingedrungen. Darin unterscheiden sie sich von den Gegnern, deren Einfluß Paulus im Galater- und 2. Korintherbrief bekämpft. Sie sind vielmehr aus der Mitte der Gemeinden hervorgegangen. Dies läßt sich aus der Verbindung der Irrlehre mit jenen erwähnten Personen – Hymenäus, Alexander, Philetus – folgern, die der Verfasser offensichtlich deshalb nennt, weil sie in den Gemeinden bekannt waren. Es durfte sich bei ihnen um christliche Lehrer handeln. Nur so ist es zu erklären, daß der Verfasser – wenn auch widerwillig – ihre Zugehörigkeit zur Kirche anerkennt: Sie gehören zu den »hölzernen und tönernen«, d. h. minderwertigen Gefäßen, mit deren Vorhandensein man im Hauswesen der Kirche zu rechnen hat (2 Tim 2,20). Mehr noch: Sie scheinen in dieser Kirche ein gewisses Ansehen zu genießen. Es beruht zum einen darauf, daß sie sich auf Paulus berufen, wenn schon nicht aufgrund unmittelbarer persönlicher Schülerschaft, so doch zumindest im Sinne des Stehens in der von ihm ausgehenden Lehrtradition. Das geht indirekt aus den auf ein früher bestehendes, nunmehr zerbrochenes persönliches Verhältnis zu Paulus anspielenden Bemerkungen (1 Tim 1,20; 2 Tim 4,14) hervor. Zum anderen dürften sie eine anerkannte Stellung als christliche Lehrer haben, die aufgrund prophetischer Vollmacht in der gottesdienstlichen Versammlung öffentlich reden, wie das dem von Paulus ausdrücklich sanktionierten Brauch der Gemeinden entspricht (1 Kor 12,28; 14,3-5). Der den Gottesdienst leitende Episkope muß damit rechnen, daß sie dabei öffentlich gegen ihn Stellung nehmen, wie einst die legendarischen ägyptischen Zauberer Jannes und Jambres sich gegen Mose stellten (2 Tim 3,8), und daß es dabei zu öffentlichen Auseinandersetzungen kommt (Tit 3,9). Dieses Ansehen öffnet ihnen aber auch die Türen zu den Häusern der Gemeindeglieder. Und hier dürfte ihr wichtigstes Tätigkeitsfeld liegen. Es gelingt ihnen, Einfluß auf für religiöse Fragen aufgeschlossene Frauen zu gewinnen, die man sich als den oberen, gebildeten Schichten angehörig zu denken hat. Sie haben dabei Erfolg: Ganze Familien können sie von ihren Lehren überzeugen (Tit 1,11), ganz abgesehen davon, daß sich die wohlhabenden Damen ihren Lehrern gegenüber materiell erkenntlich zeigen und deren Lebensunterhalt sichern; hierin mag der reale Hintergrund des – im übrigen klischeehaften – Vorwurfs der Gewinnsucht (1 Tim 6,5; 2 Tim 3,2) bestehen.
Der Inhalt der Lehre
Es ist sicher kein Zufall, daß dort, wo die Lehre der Gegner andeutend umkreist wird, immer wieder von »Erkennen« und »Erkenntnis« die Rede ist. Sie geben vor, »Gott zu erkennen, verleugnen ihn jedoch in ihren Werken« (Tit 1,16); die unter ihrem Einfluß stehenden Frauen können trotz allen Bemühens »nicht zur Erkenntnis der Wahrheit kommen« (2 Tim 3,7); Timotheus soll die Redensarten der »fälschlich so genannten Erkenntnis« fliehen (1 Tim 6,20), und die Glieder der rechtgläubigen Gemeinde werden – sicher nicht ohne polemische Spitze – als die bezeichnet, die »zur Erkenntnis der Wahrheit gelangt sind« (1 Tim 4,3). Nach alledem muß der Begriff »Erkenntnis« (= gnosis) für die Irrlehrer eine hervorgehobene Bedeutung haben. Und zwar treten diese mi t dem Anspruch auf, Träger und Vermittler besonderer, geheimer Erkenntnis hinsichtlich der göttlichen Welt zu sein, wie aus den Andeutungen über von ihnen propagierte esoterische Geheimlehren spekulativen Charakters hervorgeht, die der Verfasser freilich abschätzig als »Mythen und unendliche Genealogien« (1 Tim 1,4), »gottlose Altweibermythen« (1 Tim 4,7; vgl. 6,20; 2 Tim 2,16) oder als »jüdische Mythen und Menschensatzungen« (Tit 1,14) charakterisiert. Dem außenstehenden Beobachter bot sich anscheinend diese Lehre als ein wirres Gemisch aus biblischen Elementen-wobei man vor allem an spekulative Ausdeutungen der Stammbäume der Urgeschichte der Genesis zu denken hat (1 Tim 1,4) –, Spekulationen über die Entstehung von Welt und Mensch sowie ethischen Anweisungen dar. Alttestamentliche Elemente spielten dabei wohl eine gewisse Rolle, wurden jedoch mit anderen Elementen nicht-biblischer Herkunft verquickt.
Der zweite deutliche Zug ist eine asketische Tendenz. Die Irrlehrer fordern Verzicht auf Ehe und Geschlechtsverkehr sowie Enthaltung von Speisen (1 Tim 4,3; Tit 1,15). Dabei geht es weder um die Rückkehr zu jüdischen Speisegesetzen und Reinheitsgeboten, noch die Bindung an den durch die radikale Ausrichtung auf die Nähe der Gottesherrschaft motivierten Lebensstil der Jesusjünger und der palästinischen Wandermissionare,[5] sondern um eine grundsätzliche Abwertung der bestehenden Welt. Diese wird nicht mehr als Gottes gute Schöpfung, sondern als Bereich gottfeindlicher dunkler Mächte gesehen. Es gibt zwar keinen direkten Anhaltspunkt dafür, daß die Irrlehrer das Schöpfungswerk einem antigöttlichen dämonischen Wesen zugeschrieben und den Gegensatz zwischen höchstem Gott und Weltschöpfer lehrmäßig fixiert hätten. Deutlich ist jedoch, daß sie einen schroffen Trennungsstrich zwischen Gott und Schöpfung zogen (1 Tim 4,1-5). »Erkenntnis« des höchsten Gottes, wie sie durch Christus erschlossen ist, hatte für sie die Distanzierung von der Schöpfung zur Voraussetzung. Als der Sphäre Gottes zugehöriger Pneumatiker erweist man sich, indem man sich so weit wie möglich von der Materie löst und sich von den Gegebenheiten geschichtlicher und gesellschaftlicher Existenz distanziert. Hier liegt auch der Sinn der asketischen Forderungen: Man verzichtet auf gewisse Speisen und Getränke, um so seine Distanz zum Leib, der sich durch Essen und Trinken immer wieder regeneriert, zum Ausdruck zu bringen. Man verwirft die Ehe, weil man sich dem dämonischen Zwang, durch leibliche Fortpflanzung die der Sphäre des Materiellen verfallene Menschheit zu perpetuieren, entziehen möchte.
Man wird von daher in den Irrlehrern Vertreter einer Frühform der christlichen Gnosis zu sehen haben. Die sich vom frühen 2. Jahrhundert n. Chr. an vehement im ganzen Mittelmeerraum ausbreitende gnostische Bewegung war ein vielschichtiges religiöses Phänomen. Auf dem Nährboden eines zutiefst pessimistischen Daseinsgefühls verbanden sich Motive aus dem iranischen Dualismus, der griechischen Philosophie – vorab der des Platon – und der Mysterienreligionen.[6] Von entscheidender Bedeutung war jedoch die Begegnung dieser Motive mit dem Christentum und der von diesem vermittelten biblischen Tradition. Die jüdische Religion war gegen die Gnosis relativ immun, denn die für sie konstitutive positive Bewertung der Schöpfung als eines Heilshandelns Gottes richtete hier einen Damm auf. Allenfalls in sektiererischen jüdischen Randgruppen konnten sich gnostisierende Gedanken verbreiten. Für das Christentum lag hier jedoch eine ernsthafte Gefährdung vor. Der kritische Punkt war das Kreuz Jesu. Wurde es als Ausdruck eines Welt und Geschichte verneinenden Erlösungsgeschehens gesehen, gelang es nicht, die Einheit des Heilshandelns Gottes in Schöpfung, Erlösung und endzeitlicher Neuschöpfung zu verdeutlichen, so war der Damm gegenüber der Gnosis gebrochen.
Daß die Irrlehre der Pastoralbriefe im Zeichen eines solchen Dammbruchs steht, läßt sich unschwer an ihrer Lehre, daß »die Auferstehung schon geschehen« sei (2 Tim 2,18) erkennen. Diese besagt nämlich nichts anderes, als daß der Glaubende aufgrund seiner durch Askese erlangten »Erkenntnis« (möglicherweise in Verbindung mit der Taufe) der vollen Auferstehungswirklichkeit teilhaftig sei. Dabei ist Auferstehung im Sinne der Lösung des pneumatischen Selbst aus Leib und Materie verstanden. Der für die neutestamentliche Auferstehungshoffnung zentrale Gedanke einer zukünftigen leibhaften Auferstehung der an Christus Glaubenden im Gefolge der endzeitlichen Neuschöpfungstat Gottes am Gekreuzigten ist hier ausdrücklich negiert. Das hat erhebliche Folgen für die Christologie: Für die Irrlehrer ist Jesus nicht mehr der, in dessen Weg und Geschichte Gott der Schöpfer sein Recht gegenüber seiner Schöpfung endgültig durchsetzt und sein Ziel einer neuen, leibhaften Welt ankündigt. Er wird stattdessen zum Träger und Repräsentanten einer rein spirituellen, Welt und Geschichte verneinenden Heilsbotschaft.
Die Frage, ob die Irrlehrer sich der Abweichung von der paulinischen Lehrtradition bewußt waren, wird man trotz des vom Verfasser der Pastoralbriefe erhobenen Vorwurfs der subjektiven Unwahrhaftigkeit nachdrücklich verneinen müssen. Man darf sie sich als wache, lebendige Zeitgenossen vorstellen, die als solche Anteil hatten an der Grundstimmung ihrer Epoche und die von dem Drang erfüllt waren, von der christlichen Botschaft her Antworten zu finden auf diejenigen Existenzfragen, welche die Menschen in ihrer Umgebung akut bedrängten. Theologie, die sich auf die Herausforderung engagierter Zeitgenossenschaft einläßt, war schon immer ein riskantes Unternehmen, denn sie setzt sich der Möglichkeit aus, im Bemühen um die zeitgemäße Neuinterpretation der Botschaft deren Mitte aus den Augen zu verlieren. Man darf getrost unterstellen, daß diese kühn »modernen« Lehrer subjektiv überzeugt waren, treue Wahrer und Interpreten des paulinischen Erbes zu sein. Bot doch die Lehre des großen Heidenapostels eine Reihe von Themen, die sich unschwer für eine gnostisierende Interpretation reklamieren ließen, so etwa die Taufe als Sterben und Auferstehen mit Christus (Röm 6,1-11), Jesu Tod als Überwindung von Gesetz und widergöttlichen Mächten (Gal 3,13), Jesus als zweiter Adam und Himmelsmensch (Röm 5,12-21), der Ausschluß von »Fleisch und Blut« (verstanden als dem Materiellen verfallene Menschen) von der Gottesherrschaft (1 Kor 15,50) sowie die Zugehörigkeit der Glaubenden zur Sphäre des Geistes (Röm 8,9). Und ähnliches gilt von der Lebenspraxis des Paulus: Seine asketische Lebenshaltung (1 Kor 9,25f) sowie sein Eheverzicht (1 Kor 7,8) ließen sich, sofern man sie unter einer bestimmten Perspektive sah, unschwer als Belege für eine Sicht der materiellen Welt als eines gottfernen Bereiches anführen.[7]
Wie wird die Auseinandersetzung geführt?
Der Vergleich mit den Auseinandersetzungen des Paulus mit seinen Gegnern im Galater- und 2. Korintherbrief ist aufschlußreich: Zwar zieht der Apostel dort alle Register polemischer Rhetorik, etwa indem er die Gegner ironisiert (2 Kor 10,5), ihre Parolen verzerrt wiedergibt (2 Kor 10,12) und ihnen Konsequenzen aus ihrer Botschaft vorhält, die sie selbst wohl so nie gezogen haben, um sie ad absurdum zu führen (Gal 5,12), aber er nimmt dabei doch immer die Position der Gegner in der Weise ernst, daß er sich von ihr zu leidenschaftlicher theologischer Gegenargumentation herausgefordert sieht. Anders die Pastoralbriefe. Soweit ich sehe, begegnen sie nur an einer einzigen – allerdings gewichtigen – Stelle den Parolen der Irrlehrer, mit einem theologischen Sachargument. Deren Aufforderung zur asketischen Enthaltung von bestimmten Speisen und zum Eheverzicht widerlegen sie mit der These: Gott hat die Speisen dazu erschaffen, »daß sie von den Glaubenden und zur Erkenntnis der Wahrheit Gekommenen unter Danksagung genossen werden, Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, wenn es mit Danksagung empfangen wird; denn es wird geheiligt durch Gottes Wort und durch Gebet« (1 Tim 4,3b-5). Aber auch hier kommt es nicht zu einer Argumentation im eigentlichen Sinn. Der Verfasser beschränkt sich im wesentlichen darauf, traditionelle Lehraussagen ins Feld zu führen. Zunächst spielt er auf die paulinische Regel gegen die Nahrungsaskese (1 Kor 10,30f) an, um ihr einen, auf weisheitlichen Gedanken (Sir 39,16.25-27) gründenden Lehrsatz über den rechten Gebrauch der guten Gaben des Schöpfers folgen zu lassen.[8] Von der naheliegenden Möglichkeit, diese vorgegebenen Traditionen argumentierend auf die gegenwärtige Kontroverssituation hin zu entfalten, macht er keinen Gebrauch. Ihm genügen das Bewußtsein, die Tradition auf seiner Seite zu haben, sowie die Überzeugung, daß diese Tradition klar und eindeutig ist.
Eben dies aber ist kennzeichnend für sein Verhalten gegenüber den Irrlehrern. Sie sind in seinen Augen Menschen, die von dem offen und klar zutage liegenden »Wort der Wahrheit« (2 Tim 2,15) abgeirrt sind. Ihr Grundfehler besteht darin, daß sie nicht beim bewährten Alten geblieben sind, sondern sich Neuem zugewandt haben. Dieses Alte besteht einerseits in den von Gott selbst seiner Kirche zum Gebrauch übergebenen »heiligen Schriften« des Alten Testaments, andererseits in der von den Aposteln, vorab von Paulus begründeten Glaubenstradition – der Verfasser bezeichnet sie als »Hinterlassenschaft« (parathéké), die unversehrt bewahrt werden muß (1 Tim 6,20) –,[9] in deren Licht die Schriften auszulegen sind (2 Tim 3,16).[10] Weil Gott darin die Kirche auf einen festen Grund gestellt hat (1 Tim 3,15), darum ist die dem Christen einzig angemessene Haltung die des Bleibens bei dem Überkommenen und Gelernten (2 Tim 3,15). Alles Neue gilt demgegenüber schon allein deshalb, weil es neu ist, als fragwürdig, wenn nicht gar als illegitim (2 Tim 4,3). Zuverlässig ist die Tradition aber auch hinsichtlich ihrer Klarheit und Eindeutigkeit. Wer auf ihrem Grund steht, weiß, woran er ist. Das Neue hingegen ist unklar, wirr und absurd; es besteht aus »Fabeleien« (1 Tim 1,4; Tit 3,9) und »gottlosem Geschwätz« (2 Tim 2,16; vgl. 1 Tim 6,4).
Vor dem Hintergrund solchen unbegrenzten Vertrauens auf die kirchliche Lehrtradition sind jene beiden Hauptvorwürfe zu sehen, die die Irrlehrerpolemik wie ein roter Faden durchziehen und die auf den heutigen Leser besonders befremdlich wirken. Der erste lautet: Die Gegner vertreten vorsätzlich und wider besseres Wissen ihre neuen Lehren. Sie sind gottlos und haben es auf die Zerstörung des Glaubens abgesehen (2 Tim 2,18); sie wahren nur den äußeren »Schein der Frömmigkeit« (2 Tim 3,5), sie sind Schwindler und Betrüger (2 Tim 3,13), ihr Denken ist durch ihre unlauteren Absichten pervertiert (2 Tim 3,8). Sie erweisen sich als Handlanger des Teufels, der darauf abzielt, Menschen in sein »Netz« zu »fangen« und sich gefügig zu machen (2 Tim 2,26). Der zweite Vorwurf unterstellt ihnen als Motive neben persönlicher Eitelkeit vor allem Geltungsbedürfnis und Herrschsucht: Sie wollen »den Ohren schmeicheln« (2 Tim 4,3), um Einfluß zu gewinnen, vor allem auf Frauen von fragwürdiger moralischer Lebensführung (2 Tim 3,6). Dazu fügt sich gut das in solchem Zusammenhang naheliegende polemische Motiv der Geldgier (1 Tim 6,5).[11]
Dies alles läuft letztlich hinaus auf die Bestreitung der Notwendigkeit einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der gegnerischen Lehre. Der innergemeindliche Lehrstreit wird umgedeutet zu einem Fall moralischen Fehlverhaltens in der Kirche. Zu seiner Bewältigung bedarf es nach Meinung des Verfassers in erster Linie der Einsicht in die sittliche Verwerflichkeit des Verhaltens der Irrlehrer bei der Mehrheit der Gemeindeglieder, die er durch seine betont abwertende Darstellung zu erwecken hofft.
Die moralische Diffamierung wird flankiert durch institutionelle Abwehrmaßnahmen, zu denen er die Gemeinden auffordert. Ja, es hat den Anschein, als sei der Vorfall für ihn ein willkommener Anlaß, um die angeschriebenen Gemeinden von der Notwendigkeit einer Stärkung der institutionellen Kräfte zu überzeugen. Solche Stärkung der Institution hat er im Blick, wenn er das gemeindliche Leitungsamt konsequent als Lehramt deutet: Der Episkope ist der maßgebliche Träger der Lehre und Bewahrer der vom Apostel überkommenen Lehrtradition. Kraft dieser Autorität soll er den Irrlehrern gegenübertreten, sie ermahnen und zurechtweisen (1 Tim 1,3; 2 Tim 2,14), aber im Fall der Erfolglosigkeit solcher Mahnung auch endgültig abweisen (Tit 3,10). Dies ist freilich nicht im Sinn eines Lehrgesprächs, sondern in dem der Unterstellung des Irrlehrers unter das scheidende und richtende göttliche Wort zu verstehen. Daß der Verfasser der Pastoralbriefe hier nicht nur den paulinischen Grundsatz, daß Gemeindeleitung sich durch Lehre vollzieht, neu zur Geltung bringt, sondern daß er darüber hinaus eine Monopolisierung der Lehre in der Hand der Gemeindeleiter anstrebt, um so aus gegebenem Anlaß die freie prophetische Lehre zurückzudrängen und ihren Einfluß auszuschalten, ist eine naheliegende Vermutung.[12]
Dieselbe Tendenz dürfte auch hinter der Befürwortung einer einheitlichen, auf den Gemeindeleiter ausgerichteten Gemeindestruktur stehen, wie sie in dem ekklesiologischen Leitbild der Kirche als eines Hauswesens mit dem Episkopen als Hausvater zum Ausdruck kommt (1 Tim 3,4.15). Denn die Wirkungsstätte der Irrlehrer waren ja die einzelnen »Häuser« gewesen, in denen sie lehrten und Anhänger um sich sammelten (2 Tim 3,6; Tit 1,11). Ist die Gemeinde aber ein einziges Haus, so kann es in ihr auch nur eine einzige Lehrversammlung geben, nämlich die, in deren Mittelpunkt der Gemeindeleiter steht. Mit einigem Recht könnte man von einem zentralistischen Gemeindemodell sprechen, das hier entwickelt wird.
Zurückgedrängt wird in diesem Zusammenhang auch der Einfluß der Frauen, Wenn der Verfasser sich rigoros und nicht ganz ohne abwertende Untertöne gegen jedes öffentliche Wirken von Frauen in der Kirche ausspricht und sie auf ihren häuslichen Lebenskreis verweist (1 Tim 2,12-15),[13] so ist dies aller Wahrscheinlichkeit nach eine Reaktion auf die Tatsache, daß die Irrlehrer, vermutlich nicht zuletzt wegen gewisser emanzipatorischer Tendenzen ihrer Verkündigung, unter den Frauen eine breite Anhängerschaft gewonnen hatten.
Ausblick
Der Versuch eines abschließenden Urteils über die Irrlehrerbekämpfung der Pastoralbriefe muß notwendig zwiespältig ausfallen. Zunächst ist festzustellen, daß das Auftreten der Irrlehrer mit ihrer gnostisierenden Neuinterpretation der christlichen Heilsbotschaft eine ernste Krisensituation für die Kirche der Pastoralbriefe heraufführte. Auf dem Spiel stand nicht nur die innere Einheit der Gemeinden, sondern vor allem auch das zentrale Verständnis des Christusgeschehens in seinem Bezug auf Welt und Geschichte. Dabei ist davon auszugehen, daß das Auftreten der Irrlehrer mit ihrer gnostisierenden Neuinterpretation der christlichen Botschaft eine ungemein kritische Situation heraufführte. Der Verfasser der Pastoralbriefe hat dies klar erkannt, und er hat auch gesehen, daß die Grundlage, von der aus der Kampf zu führen war, einzig das der Kirche anvertraute apostolische Zeugnis sein konnte.
Er blieb freilich bei einer bloßen Bekräftigung und Wiederholung dieses Zeugnisses stehen, und darin liegt seine entscheidende Schwäche. Denn das genügte nicht, um neuen Erfahrungen und Fragestellungen, die sich auf dem Weg der Kirche durch die Geschichte einstellten, gerecht zu werden. Dazu hätte es eines theologischen Instrumentariums bedurft, das in der frühen nachapostolischen Zeit noch nicht ausgebildet war. Die Pastoralbriefe beschränken sich bei ihrem Kampf gegen die Irrlehrer einerseits auf das starre Behaupten der eigenen Position, andererseits auf Diffamierung und institutionelle Ausgrenzung. Zu einer eigentlichen Wahrnehmung der Gegner und ihrer Position stoßen sie nicht vor. Damit bleiben sie noch diesseits der für die Kirche ebenso notwendigen wie hilfreichen Erfahrung, daß die Wahrheit des Evangeliums die Kraft hat, sich im offenen Ringen der Argumente, im kritischen Bedenken des Strittigen durchzusetzen, und daß nur jene Wahrheit, die diese kritische Prüfung bestanden hat, auf Dauer Bestand hat, und dies allein aufgrund dessen, daß sie zu überzeugen vermag. Heute kirchliche Auseinandersetzungen nach dem Modell der Pastoralbriefe zu führen, hieße, in hoffnungslos anachronistischer Weise hinter diese Erfahrung zurückzufallen.
Quelle: Bibel und Kirche 46 (1991), Heft 3, S. 114-120.
[1] Belege und Material hierzu bei M. Dibelius/H. Conzelmann, Die Pastoralbriefe, 31955 (HNT 13) 53; R. J. Karris, The Background and Significance of the Polemic of the Pastoral Epistles, JBL 92 (1973) 549-564.
[2] S. hierzu J. Roloff, Der Erste Brief an Timotheus, 1988 (EKK XV) 71-73.
[3] Ähnlich W. Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, hrsg. G. Strecker, 21964 (BHTh 10); P. Trummer, Die Paulustradition der Pastoralbriefe, 1978 (BET 8) 165.
[4] So Dibelius/Conzelmann, HNT 13, 54.
[5] Gegen U. B. Müller, Zur frühchristlichen Theologiegeschichte, Gütersloh 1976, 58-58, der zwei verschiedene Gruppen von Gegnern annimmt und die asketischen Tendenzen einer von beiden, nämlich einer Gruppe von juden-christlichen, dem Herkunftsmilieu der Offb entstammenden Wandermissionaren zuschreibt. Doch dagegen Roloff, EKK XV, 234.
[6] Aus der nahezu unüberschaubaren Literatur zum Ursprung der Gnosis seien hier nur genannt: R. McL. Wilson, TRE 13, 535-550 (mit ausführlicher Bibliographie!); K.-W. Tröger (Hrsg.), Gnosis und Neues Testament, Gütersloh 1973; ders., Altes Testament – Frühjudentum – Gnosis, Gütersloh 1980.
[7] Analogien dazu bietet die Paulus-Exegese des späteren christlichen Gnostizismus in reichem Maße; s. hierzu K. Koschorke, Paulus in den Nag-Hammadi-Texten, ZThK 78 (1981) 177-205.
[8] Zur Begründung im einzelnen s. Roloff, EKK XV, 223-227.
[9] Zur spezifischen Ausprägung des Traditionsgedankens im parathéké-Begriff der Pastoralbriefe s. Roloff, EKK XV, 371-373.
[10] Vgl. P. Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments, :1987 (GNT 6) 54.
[11] Vgl. 1 Thess 2,5; 2 Kor 12,16-18; Did 12,5. Vom 2. Jh. an war der Vorwurf, Frömmigkeit als Erwerbsquelle zu nut-zen, Standardrepertoire kirchlicher Ketzerpolemik; vgl. Irenäus, Haer, I 4,3; 13,3; II 31,3; 32,4.
[12] Sie wird durch die Beobachtung untermauert, daß die Pastoralbriefe die gemeindliche Prophetie mit Schweigen übergehen.
[13] In denselben Zusammenhang dürfte auch sein Versuch, die Institution der Gemeindewitwen so weit als möglich auszuschalten (1 Tim 5,6-16), gehören: Das Wirken der Witwen in den Häusern ist ihm suspekt (1 Tim 5,13), er bringt es anscheinend in Verbindung mit der Irrlehre und ihrer Verbreitung.