Von Joseph Wittig
Unsere liebe Erde ist eine merkwürdige Erscheinung. Selbst wenn man schon einige Jahrzehnte darauf gelebt hat, kommt man noch nicht zu einem einheitlichen Urteil über sie. Bald nennt man sie ein „Tal der Tränen“, ja sogar ein „Elend“, das heißt nach dem ursprünglichen Sinn des Wortes ein Ausland, ein Land der Ferne, ein Land der Verbannung, bald singt man: „Es muß ein Stück vom Himmel sein!“ Bald sprechen wir mit Inbrunst die Verse Schillers nach: „Ach, aus dieses Tales Gründen, die der kalte Nebel drückt, könnt ich doch den Ausgang finden!“ und wir fühlen uns überall fremd auf der Erde und suchen und sehnen uns nach einer anderen Heimat, bald nennt sich uns irgendein Winkel dieser Erde, vielleicht bloß der Wiesengrund zwischen dem Allerheiligenberge bei Schlegel und den Achtseligkeiten auf der Roterlehne, unsere allersüßeste Heimat, und wir glauben es und sind selig darüber. Wir sind also entweder Narren, die nicht wissen, was sie suchen, sagen und singen, oder es ist ein besonderes Geheimnis um die Erde; die Erde hat etwas mit dem Himmel zu schaffen. Schon am frühen Morgen öffnet sich die Erde mit tausend Kelchen nach dem Himmel. Ich meine natürlich die Blumen und Blüten, aber früher sollen auch Menschenherzen darunter gewesen sein, und mein Herz hat es immer noch an sich, daß es sich nach dem Himmel öffnen möchte. „Kein Hälmlein wächst auf Erden, der Himmel hat’s betaut“, die Erde lebt offenbar ganz vom Himmel. Sonnenschein und Tau, das ist ja vielleicht noch das wenigste! Und alles auf der Erde hat, wenn es noch so ganz ursprünglich und frisch ist, einen kleinen Zug und eine große Lust, ein wenig auf den Himmel zuzuspringen. Ich denke an die Zicklein, die ich dereinst auf dem Habichthübel gehütet habe. So ganz unnötig, so ganz nur aus reiner Lust, sprangen sie immer wieder empor. Und jetzt sehe ich es auch an meinen Kindern. Ich sage euch, das ist der ganzen Kreatur und auch des Menschen ursprüngliche Anlage zur Himmelfahrt! Wer von euch spürt mit mir die Lust, am Himmelfahrtstage noch einmal einen solchen Sprung zu tun? Ich glaub’s, die Knochen sind schon zu hart; wir haben zu wenig Sport getrieben; und außerdem genieren wir uns. Aber drinnen haben wir doch noch etwas Junges, und da sieht’s auch niemand!
Wir wissen, daß im Gottessohne noch einmal die volle, reine, ursprüngliche Menschheit auf die Erde gekommen ist, der es am Ende ihrer irdischen Laufbahn nicht bestimmt war, zur Erde, sondern zum Himmel zu fahren. Als er von der Erde scheiden wollte, blickte er noch einmal von Bergeshöhe über Jerusalem, Judäa und Samaria hinweg bis an die Grenzen der Erde und also auch bis in unser liebes Land und sprach: „Ich sende die Verheißung meines Vaters auf euch herab; ihr aber bleibet in der Stadt, bis daß ihr ausgerüstet seid mit der Kraft aus der Höhe!“ So schied er segnend von seinen Jüngern und fuhr auf in den Himmel.
Das ist nicht nur heilige Geschichte; das ist die Geschichte des Heiligen und Ewigen und Ursprünglichen in uns, in unserem Leib und unserer Seele. Unser ursprüngliches Wesen ist Himmelfahrt. Darum jauchzt und jubelt etwas in uns am Himmelfahrtstag Christi.
Quelle: Anca Wittig (Hrsg.), Mit Joseph Wittig durch das Jahr, Leimen/Heidelberg: Marx Verlag, 1973, S. 73f.