Hans Joachim Iwand über Taten der Nächstenliebe: „Durch die Liebe wird der Mensch so ausgeliefert an die Not des Nächsten, dass diese Not Hände und Arme, Geist und Gemüt bis ins Letzte und Innerste be­wegt, dass die Taten nichts anderes sind als die Zeichen unseres Bewegtwerdens von der Not des Nächsten. Die Not des Nächsten regiert uns. Wir haben nicht mehr ein steinernes Herz, sondern ein fleischernes Herz, wir fühlen die Not mit, wir leiden unter ihr, zer­brechen unter ihr, und sie schafft durch uns Werke, die dem Näch­sten helfen.“

Über Taten der Nächstenliebe

Von Hans Joachim Iwand

Tat heißt: Der Nächste braucht mich. Tat heißt: Wenn es niemand gäbe, der mich braucht, dann wäre ich der elendeste von allen Menschen. Tat heißt nicht: Ich muß etwas tun, um Gott wohlzugefallen und so einen Menschen zu suchen, den ich zum Objekt meiner christlichen Werke mache, sondern Tat heißt geradezu: Die Not meines Nächsten erlöst mich aus meiner Tatenlosigkeit, sie ist der Sinn meines irdischen Daseins. Von da sieht Luther, daß die Liebe unzählige, große, gewaltige, unablässige Werke tut. Das heißt einfach, daß durch die Liebe der Mensch so ausgeliefert wird an die Not des Nächsten, daß diese Not Hände und Arme, Geist und Gemüt bis ins Letzte und Innerste be­wegt, daß die Taten nichts anderes sind als die Zeichen unseres Bewegtwerdens von der Not des Nächsten. Die Not des Nächsten regiert uns. Wir haben nicht mehr ein steinernes Herz, sondern ein fleischernes Herz, wir fühlen die Not mit, wir leiden unter ihr, zer­brechen unter ihr, und sie schafft durch uns Werke, die dem Näch­sten helfen.

Es ist ganz wunderbar: Dadurch, daß die Not ein Herz findet, das sie bewegt, schafft die Not gute Werke, durch die sie sich be­grenzt. Dadurch, daß die Not vom Nächsten her uns anrührt und anfaßt und keine Ruhe läßt, setzt sie Hände und Füße in Bewe­gung, der Not zu steuern. Es ist eigentlich ganz erklärlich: Dadurch, daß die Not einbricht in einen Lebensbezirk, wo Menschen leben, deren Herz davon betroffen wird, hebt sie sich selber auf. Niemals werden wir mit äußeren Machenschaften, mit Werken des Gesetzes die Not aufheben können. Wir können die Not feststellen und können demgegenüber Abhilfswerke für die Not organisieren, es wird vieles gelingen, aber an anderen Stellen wird die Not neu aufbrechen, denn das Gesetz richtet Zorn an. Aber wenn es so kommt, daß die Not Herzen in Bewegung setzt und von da aus nun Taten entstehen, so zahlreich, daß niemand sie nennen und organisieren kann, so treffend, so echt, so wirklich der Not ent­gegengesetzt, daß sie unmittelbar der Not wehren, dann hebt sich die Not selber auf.

So daß in einer christlichen Gemeinschaft Not sein muß und Not sein wird, damit die Taten entstehen, durch die die Not selber überwunden wird, und immer neu Not kommen wird und immer neu Taten entstehen werden, Werke der Liebe. — Das sollte an­deutungsweise gesagt werden über die Bedeutung, die die Lehre von Gesetz und Evangelium für die Kirche, ihre Gründung, das Gesetz ihrer Gemeinschaft und das Wissen von Ich und Du in dieser Ge­mein­schaft hat und bedeutet.

Quelle: Hans Joachim Iwand, Nachgelassene Werke, Bd. 4: Gesetz und Evangelium, hrsg. v. Walter Kreck, München: Chr. Kaiser, 1964, S. 215f.

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