Reinhold Schneider, Das Vaterunser (1941): „Schwerlich wird unser Gebet so viel gelten wie das Gebet einer glaubensstarken Zeit; es kommt aus einer großen Tiefe und es hat wohl nicht die Kraft, die Not dieser Tiefe emporzutragen. Es ist nur ein Rin­gen. Aber ringen sollen wir vor allem um Dank und danken können wir nur durch den ge­lebten Glauben. Es ist keine Not so groß, dass sie unsere Dankbarkeit herabstimmen, keine Bürde so schwer, dass sie unsere Freude erdrücken dürfte.“

Das Vaterunser

Von Reinhold Schneider

Das kleine Buch hat eine merkwürdige Geschichte. Ich schrieb es in Berlin während einer Krankheit, ich glaube im Juni 1941. Offiziell konnte es natürlich nicht erscheinen; so brachten wir die erste Auflage zu Weihnachten 1941 in Kolmar. Aber von den Zeitungen wurde es kaum besprochen und wir legten auch keinen Wert darauf. In den folgenden Jahren wurden die kleinen Feldausgaben gedruckt, einige hunderttausend, aber illegal. Diese wurden von der kirchlichen Kriegshilfe an die Armeegeistlichen versandt; schließlich, als das immer schwerer wurde, unter meiner Privatadresse. Ich hatte ganze Koffer Soldatenbriefe als Antwort, erschütternde Zeugnisse des religiösen Geschehens unter der Oberfläche des Krieges. — Keine meiner Schriften hat eine solche Antwort gefunden. (Reinhold Schneider an den Verlag)

Das aus gläubigem Herzen gesprochene Vater­unser ist weit mehr als eine Auslegung und irgendein Gedanke, der sich daran knüpft. Aber auch eine Auslegung wird hier nicht gewagt; es möchte nur daran erinnert werden, daß im Gebet des Herrn das ganze Bild irdischer Ordnung enthalten ist, und zwar der irdischen Ordnung als einer Spiegelung der himmlischen. Die Ehrfurcht des Sohnes vor dem Vater hat uns dieses Bild der Ordnung enthüllt. Nur die Ehr­furcht wird es verstehen, nur der Glaube kann es verwirklichen, nur die Liebe würde die Wege der Verwirklichung finden. Aber das Vaterunser ist vor allem Gebet, und es will immer wieder gebetet werden: wahrscheinlich erschließt es seine Wahrheit auch nur dem Betenden. Wer es ein Leben lang mit immer größerer Inbrunst gebetet hätte, würde vielleicht ahnen, was darin enthalten ist. Nur betend dringen wir weiter; wo das Gebet stillsteht, endet auch das Verständnis. Es ist, als ob wir den Weg nur finden könnten, solange wir mit geschlossenen Augen gehen und dabei die heiligen Worte sprechen; dann weichen die Türen zurück, und wir gelangen weiter. Würden wir ein Licht entzünden wollen, so schlösse sich der Raum. So ist der Gedanke nicht zu lösen vom Gebet. Aber wie das Gebet, obgleich es mit allen und für alle gesprochen wird, doch von der Glaubenskraft des einzelnen Herzens zeugt, so auch von der Zeit, aus der es kommt. Es möchte ja die Not der Zeit vor die Ewigkeit tragen. Vielleicht stellt eine jede Zeit den Betern eine besondere Aufgabe; die Gefahren, mit denen sie ringen müssen, verändern sich; ein jedes Zeitalter ist auf eine besondere Weise versuchbar, hat ein besonderes Anliegen an Gott. Schwerlich wird unser Gebet so viel gelten wie das Gebet einer glaubensstarken Zeit; es kommt aus einer großen Tiefe und es hat wohl nicht die Kraft, die Not dieser Tiefe emporzutragen. Es ist nur ein Rin­gen. Aber ringen sollen wir vor allem um Dank und danken können wir nur durch den ge­lebten Glauben. Es ist keine Not so groß, daß sie unsere Dankbarkeit herabstimmen, keine Bürde so schwer, daß sie unsere Freude erdrücken dürfte. Wir können um mehr nicht bitten als darum, daß wir danken dürfen durch ein gläubiges Leben. Ein solches Leben ginge weit über das persönliche hinaus: es müßte zur Fürbitte werden um das tägliche Brot der Welt im heiligen Sinne dieses Wortes.

VATER UNSER, DER DU BIST IN DEM HIMMEL

Das Vaterunser beginnt mit einem großen Trost; wir dürfen Vater sagen. In diesem einen Wort ist die ganze Erlösungs­geschichte enthalten. Wir dürfen Vater sagen, weil der Sohn unser Bruder war und uns den Vater geoffenbart hat; weil wir durch die Tat Christi wieder Kinder Gottes geworden sind. In­dem wir Gott unsern Vater nennen, befehlen wir Ihm alles an, unser Sein und unsere Unrast, unsere Sorgen und Erwartungen und unsere Ar­beit; es kann nichts sein im Leben des Kindes, das der Güte des Vaters nicht anvertraut werden soll, keine Not, die nicht die Hoffnung auf Seinen Beistand hat. Da wir beten wollen, blicken wir auf, und es ist, als ob auf dieses eine Wort hin, das noch kaum über unsere Lippen kam, eine Überfülle des Lichtes auf uns niederstrahlte. Nun ist alles gut; der Himmel antwortet uns, Gott ist unser Vater; wir sind beschützt. Warum haben wir nicht schon früher zu beten begonnen? Warum beten wir nicht immer? Es bedarf nur dieses geringen Aufschwunges unserer Seele, um unser Leben wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Das Leid, die Sorge, die uns aus der Mitte des Daseins drängten, werden beschwichtigt, das Unten ist mit dem Oben verbunden. Und wie das Wort aufsteigt und gleichsam das Licht her­niederruft, breitet sich auch schon das Licht über die Erde aus; wir sind nicht allein, denn Gott ist unser aller Vater; wir beten auch niemals allein, sobald wir den Vater anrufen. Die Stimmen der Kinder Gottes vereinigen sich mit unserer schwa­chen Stimme und lassen sie stärker werden. Vor allem betet der Heiland Selber mit, unter uns, Er, durch Den wir, solange Er in unserer Mitte weilt, immer aufs neue wieder Kinder Gottes werden. Unser Gebet breitet sich über die Erde aus, und die ganze Erde scheint mitzubeten; so werden die stillen Worte groß und feierlich. Wie sich der Himmel in seiner Unendlichkeit öffnet — denn der Vater erhört die Bitten der Kinder, es kann nicht anders sein —, so entschleiert sich nun die Erde unter der Güte des Vaters; Licht geht durch die ganze Schöpfung; die Völker beten mit. Dieses eine Wort stellt alle Zusammenhänge wieder her: die Welt fügt sich in Gottes Hände. Wir sind mit der göttlichen Liebe verbunden, da­mit wird auch unsere Liebe stark. Und wie die Stimmen Ungezählter unsere Stimme verstärkten, so bringen wir nun auch ihr Anliegen vor. Auch die persönlichste, die einsamste Not ist eine Not aller; Jeder Not wird wieder ein Weg geöffnet ins Licht.

Wie könnte es anders sein? Mit den ersten Wor­ten des Gebets setzt sich der Glaube ein; wir müssen in Christus der Wahrheit begegnet sein, wenn wir sie sprechen wollen. Wir bekennen uns zum Sohn, indem wir den Vater anrufen, und wir danken dem Sohn, der uns wieder zu Kindern ge­macht. Das Gebet ist ein immerwährendes Empor­steigen und Sichniedersenken; die Fülle der niederströmenden Gnade ist aber um Unendliches reicher als die aufsteigende Bitte. Beten heißt viel­leicht, dieses Strömen der. Gnade fühlen; wir er­schließen uns, indem wir uns beugen und anbe­fehlen, dann wird alles gut. Ein Hereinwirken ereignet sich; es ist nicht mehr sehr wichtig, ob wir unser Anliegen nennen, unsere Sorgen aus­sprechen; im Grunde übersteigt unsere Not doch unser Vermögen, zu sprechen; denn in unserem ganzen Sein, in unserem Tun und Denken sind wir auf Gott angewiesen und ohne Ihn verloren. Alle Bedrängnis ist eine Erscheinung dieser ur­sprünglichen Abhängigkeit; wir müßten in einem Gebet ohne Ende begriffen sein, wenn wir ihr wirklich entsprechen wollten. Das ist ja das gött­liche Geheimnis des Vaterunsers, daß es unser ganzes Sein und unsere ganze Not und Hoffnung umfaßt; es schließt alle Anliegen ein, weil es ausgeht von unserem eigentlichen, unveränder­lichen Verhältnis zu Gott. Der Vater, der Mittler und das Geschöpf werden durch das Vaterunser vereinigt: die göttlichen Personen in Ihrem gan­zen Wesen und das Geschöpf in seiner Hilfs­bedürftigkeit, aber im Bereich der Gnade.

Warum scheuen die Menschen gerade den Vaternamen Gottes? Würden sie Ihn immer Vater nennen, so könnten sie Ihn nicht verkennen, Sein Wesen nicht verfehlen. Aber sie suchen Um­schreibungen, und in diese drängen sich die Vor­stellungen, die ausgehen vom Menschen, ein er­dachtes, erwünschtes Bild Gottes; vielleicht auch ein Bild, das des Menschen eigenmäch­ti­ger Vor­stellung von der Welt entsprechen soll. Diese Umschreibungen sind leicht in Gefahr, mit der Welt oder gar mit der Erde zu beginnen und zu ihr ein passendes Bild Gottes zu suchen. Der Name Vater aber ist geoffenbart; er kann nicht mißverstanden, nicht mißbraucht werden. Er ist unvereinbar mit der Eigenmächtigkeit des Men­schen, aber er ist die Antwort auf des Menschen tiefstes Bedürfnis nach Erlösung. Der Name „Va­ter“ läßt sich nur aussprechen in Demut, Ehr­furcht und Zuversicht; es ist der Name der Liebe. Wer Gott als seinen Vater erkennt, dessen Han­deln ist bestimmt wie das des Kindes, das sich einen jeden Augenblick unter den Augen des Vaters fühlt. Und wie vom ganzen Gebete her, so könnte und müßte sich schon von seinem ersten Worte her die Welt verändern. Der Vater ist; es gibt für Ihn keine Zeit; Sein Sein währt unver­änderlich im Himmel, über dem Geschehen der Erde. So wußte es der Sohn, der allein den Vater geschaut hat; so hat Er es uns verkündet; wir sprechen diese Worte aus der Kraft des Wissens, das der Sohn uns geoffenbart hat, und im Glau­ben an Ihn. Der Sohn war die Wahrheit selbst; wenn Er Sich an den Vater wandte, so geschah es nicht aus dem Glauben, der unser Teil ist; es geschah aus der Wirklichkeit göttlichen Lebens, in der Gegenwart des Vaters, im Einssein mit Ihm. Das Gebet des Sohnes ist Offenbarung, Zeugnis der Wahrheit aus dem Munde der Wahr­heit. Wir dürfen Gott nicht anders nennen, als Er Ihn genannt hat. Und es ist kein Name Gottes gültig, der den Vaternamen nicht einschließt.

Dieser Name Gottes verpflichtet uns auch im irdischen Sinne; indem wir Ihn anrufen, möchten wir um die Kraft bitten, deren wir zur Erfüllung dieser Verpflichtung bedürfen. Vatertum und Sohnschaft der göttlichen Personen sind die heili­gen Bilder, die leitend und fordernd über dem Vatertum und der Sohnschaft des Menschen stehen; gehorsam sollen wir sein wie der Sohn, der Sich aller Macht und der äußeren Zeichen der Hoheit begab, um den Willen des Vaters zu er­füllen. Alle echte Demut des Menschen ehrt den Herrn und den himmlischen Vater. Das Vatertum auf Erden muß einen Widerschein der wissen­den Liebe des himmlischen Vaters tragen, die mit dem Sohne sich selber opferte; der Liebe, die in all ihrer Macht nichts ergreifen wollte, son­dern dem Menschen die Freiheit ließ, den Weg der Liebe, der Heimkehr, der Kindschaft zu finden. Dieses Opfer will sich unter den Menschen wiederholen, nicht in Wahrheit, aber in seinem wahren Bilde; zwischen Sohn und Vater wird immer ein Opfer stehen und warten; es will er­griffen werden im Bewußtsein der Erlösertat. Wo kein Ausweg des Verstehens mehr ist, da rettet das Opfer im Namen Christi. Vater ist auch der Regent, dessen höchste Aufgabe nicht die Pflicht, sondern die Liebe, nicht der Dienst, sondern die Fürsorge ist; ein Schimmer der alten geheimnis­vollen Würde des Vatertums umspielt die Krone. Wohl dem Regenten, der ihn wahrnimmt, wohl dem Volke, das sich ihm beugt! Sonst müssen Liebe und Vertrauen zerreißen; die Macht ver­liert ihre bindende Kraft und wird zur Gewalt; statt des Vaters und der Kinder stehen einander Tyrannen und Knechte, Gewalthaber und Auf­rührer gegenüber. Das heilige Bild des Vatertums will auch zwischen Meister und Jünger, Schüler und Lehrer walten; es leuchtet in alle Beziehungen hinein, die eine Verantwortung für Menschen be­deuten, Vertrauen zu Menschen fordern. Unser Gebet soll ein Loben und Preisen sein, aber es soll uns zugleich auch wandeln; je näher wir Gott kommen im Gebet, um so mehr wird die Kraft der Wahrheit in unser Leben dringen; wer die Wahrheit anruft, den muß sie ergreifen und umbilden.

Aber wir lassen die Gedanken zurück; das Gebet des Herrn ist unerschöpflich; wir kommen seiner Fülle am nächsten, indem wir aus Herzensgrund beten. Du bist unser Vater; es wird uns nichts zustoßen, das Deine väterliche Güte uns nicht bestimmt; wir kennen die Wege nicht, die Du uns führen willst. Wir wissen nur das eine, daß Du unser Vater bist, der uns nicht verlassen wird. Vater unser, der Du bist in dem Himmel, laß uns tief unten auf der Erde die Probe un­seres Lebens bestehen; Du wohnst in dem Him­mel, Dein Wesen ändert sich nicht. Hier unten aber verwandelt sich alles; geliebte Vermächtnisse vergangener Zeiten werden zerstört über Nacht, die Freunde werden uns entrissen, und unver­sehens bricht in das letzte Tal des Friedens gren­zenlose Verwirrung herein. Die Mächte der Tiefe erheben sich gegen uns und nehmen fast alle Be­zirke des Lebens in Besitz; Trugbilder der Wahr­heit, des Rechtes schweifen umher und ziehen uns vom Rechte und von der Wahrheit fort; Haß verfälscht das Wesen der Menschen; keiner er­kennt mehr Dein Spiegelbild in der Seele des andern, und so versteht auch keiner das Wort des Bruders mehr. Die Erde meint sich gegen den Himmel erheben und ihre eigene Ordnung schaffen zu können; so werden die Beziehungen zwischen allen Wesen und Dingen verrückt; es ist keine Kraft mehr da, die sie von oben trägt. Und die Dinge der Erde suchen sich an sich selbst zu befestigen und stürzen immer tiefer. Vater unser, der Du bist in dem Himmel, Du kennst das Ziel dieser Tage; auch sie haben ihren Ort in Deinem Plan. Wir bitten Dich nur um die Kraft der Zuversicht; laß uns nicht eine Stunde ver­gessen, daß Du unser Vater bist, daß Du es aufs neue geworden bist durch den Sohn! Bleibt uns nur die Kraft, Deiner Vaterschaft eingedenk zu sein, so ist die Not nicht vergeblich gekommen; alle Sorge vor der Zukunft hat nur diesen Sinn, daß wir sie durchdringen mit unserm Vertrauen. Du bist unser Vater; zu Dir hin ist alles geordnet, und da Du der Vater aller Menschen bist, so wollen wir vom Glauben an die Menschen nicht lassen. Ein jeder ist Dein Kind; der Widerschein Deiner Güte, Deiner Heiligkeit ist in eines jeden Seele gefallen; wir wollen es auch dann nicht ver­gessen, wenn wir nur noch den Widerschein des Bösen sehen, der diesen heiligen Widerschein ver­deckt. Der Mensch ist Dein Geschöpf und er soll Dich bezeugen; von Dir hat er die Kraft der Zeugenschaft empfangen. Ein jeder hat seine Heimat in Deinem Reich. Dieses Heimatrecht wollen wir wieder entdecken; wir wollen dafür einstehen, ob auch die Beschenkten es verworfen haben. Wir wollen nicht aufhören, davon zu sprechen, und dem Menschen das Bild seines Adels zeigen, von dem er sich abgewendet hat. Wir wollen fort und fort Deinen Namen rufen, auf daß die Kraft Deines Namens eingehe in unser Leben. Die Welt ist uns fremd geworden. Aber wir sind Deine Kinder in dieser fremden Welt und wollen uns als solche bewähren. Alles andere steht bei Dir.

GEHEILIGET WERDE DEIN NAME

Es ist, als ob sich noch einmal der Himmel auftun würde über diesen Worten; alle Tiefen und Höhen des Raumes öffnen sich, und ein Schauer durchweht sie. Der Mensch spricht tief unten die Bitte des Heilands nach, und die ganze Schöpfung scheint ihm zu antwor­ten: die Engel und die Gestirne und was da ist und lebt auf Erden; aus der Ferne, aus unerforschlicher Weite kommt ein Raunen, und die Wälder der Erde rauschen auf; die Meere stimmen mit ein, und es hallt in den Abgründen. Der Welt­raum und die Räume der Geister werden von diesen Worten erfüllt und erklingen von ihnen. Sie sprechen den Sinn, das große Anliegen der Schöpfung aus. Sie verbinden die Geister mit den Dingen, die Tiere mit der Erde und dem Gestein: ihrer aller innerstes Wesen ist in diesen Worten enthalten und schwingt in ihnen nach. Aber es bedarf doch des Menschen, daß sie gesprochen werden. Er leitet die mächtige Melodie der Schöpfung empor zum Herrn. Könnten diese Worte immer aus dem reinsten Herzen des Men­schen kommen! Denn was wären die Schauer der Welt, wenn sie nicht durch ein reines Menschen­herz gingen, das sie still in sich erfährt und dem Herrn darbringt? Geheiligt wird der Name des Herrn vor allem durch ein reines Herz. Der Mor­gen der Schöpfung will immer wieder aufgehen, einen jeden Tag. Alle Dinge sind neu, und der Mensch sieht sie staunend und beugt sich in Ehr­furcht. Dieser Anfang, das Bild der ungetrübten Welt, spiegeln sich im zweiten Satze des Vater­unsers. Das Lob ist die unveränderliche Bestim­mung des Geschaffenen.

Gegen dieses Lob erheben sich die abgefallenen Geister; sie ertragen die Heiligung der Welt durch die Heiligung des göttlichen Namens nicht und täuschen ihr Selbstheiligung vor: nicht in­dem sie sich beugt, sondern indem sie sich erhebt, soll sie geheiligt werden. In sich selbst soll sie ihren Wert finden; der Mensch, der das Bild des Schöpfers in seiner Seele trägt — dieses Bild, das unablässig auf den Schöpfer gerichtet ist —, er­klärt sich selber zum Schöpfer: er, als Denkender und Erkennender, macht die Welt und gibt den Dingen und Geschöpfen ihren Sinn. Sie sind, weil sie auf den Menschen gerichtet sind. Oder aber: er und die Dinge gehören dem einen um­fassenden Leben an, das sich nicht zur Verehrung eines Höheren erheben kann, weil nichts über ihm ist; es vermag sich nur in sich selber zu versenken und sich selber zu verehren. Doch die Welt, die über sich nichts Höheres erkennt und von einem Höheren nicht gehalten wird, ist in einer großen Gefahr; denn wenn es ihr schon gelänge, das, was über ihr ist, nicht zu achten, so wäre doch das,

was unter ihr ist, nicht aufgehoben; die Mächte der Tiefe melden ihren Anspruch an auf die Welt. Dann wird die Heiligung des Namens Gottes ver­stummen; aber aus dem Stummsein erhebt sich die Lästerung, und die Geschöpfe alle und alles Ge­schaffene, dessen Wesen die Verehrung ist, er­scheinen vor dem Menschen nicht mehr als das, was sie sind. Er selbst aber verändert sich völlig. Sein Antlitz, das Abbild war, möchte Urbild wer­den und vermag es nicht; so wird es verunstaltet; er möchte die Züge des Schöpfers tragen und wird vom Dritten überwältigt. Aus seinen Zügen schattet der Dämon. Nun fehlt der Welt ihr Herz; es fehlt ihr die ehrfürchtige Mitte, wo das Gebet entspringt. Immer stürmischer strömen die Gewalten herein; die Ordnung der Natur wird gestört; selbst die Zeiten scheinen sich zu ver­wirren; der Herbst treibt Blüten wie der Früh­ling; der Frühling erschauert unterm Eis. Das einmal erschienene Antlitz des Dämons erscheint auf vielen Gesichtern; die Gesichter gleichen sich auf eine erschreckende Weise, als sei ihnen zur Schlafenszeit dasselbe Siegel aufgeprägt worden; dieses Siegel, das vom Antlitz des Dämon ge­nommen ist wie die Maske von einem Toten. Denn mit dem Wissen von der Höhe schwindet auch das Wissen von der Tiefe; die Welt ist wehrlos geworden, und die Menschen sind ohne Schutz im Schlafe, wenn der Dämon kommt und auf das heilige Spiegelbild in ihrem Antlitz das auslöschende Siegel drückt. Nun tritt der Mensch aus allen Beziehungen heraus; die Welt ist ein Ding, seinen Händen überliefert, daß er es aus­beute. Wann aber wäre er mit seiner Beute zu­frieden? Das Wesen des Dämons ist es ja, ein ziehender Strudel zu sein; er ist eine hinab­reißende Leere, die sich nicht füllen läßt. So wer­den dem Menschen auch die Menschen zum Ding und immer weniger werden bleiben, die noch die andern als Dinge ergreifen können — bis zum Dämon selbst, der heillos leidet an seinem eige­nen Wesen und immerfort verzweifelt an sich selbst.

Geheiliget werde Dein Name! Dieses Wort tief­ster Ehrfurcht verkündet ein Gesetz. Das Er­schauern vor Gott erhält die Ordnung der Welt; in gewissem Grade ist vielleicht dem Menschen diese Ordnung anvertraut weit über die Grenzen seines Lebensbereiches hinaus. Unausdenkbares droht zu geschehen, wenn diese Worte auf Erden von keinem Munde mehr gesprochen, von keinem Leben mehr gelebt werden. Geheiligt soll Gottes Name werden durch das ganze Tun des Men­schen, sein Gebet und seine Arbeit, sein Wachen und Ruhen; und was immer Menschen verbindet, soll eine Heiligung sein. Über aller Liebe stehen diese Worte, sie einzufordern und zu verwandeln. Es ist keine Barmherzigkeit, keine Gerechtigkeit, die nicht ergriffen ist von diesem Gebot; es gibt keine wahre Macht auf Erden, die nicht von ihm durchschauert wird. Kein Thron ist gegründet, an dessen Stufen diese Worte nicht gesprochen wurden; die einander vertrauen sollen, müssen sich finden in diesem Wort; die ein Bündnis schließen, sollen es sprechen, sonst wird ihr Bund zerfallen. Denn sie bedürfen eines Schutzherrn, und der Schutzherr ihres Bundes kann nur der Dritte sein. Dessen Name geheiligt werden soll. Das Schwert ruht in der Fessel dieses furchtbar ernsten Wortes. Dieses Wort steht am Anfang der Kunst; ein jedes Gedicht, ein jedes Bauwerk, ein jedes Bild soll sein Widerklang sein; die Musik ist die immerwährende, unerschöpfliche Wiederholung dieses Gebotes. Aber in welchem Maße muß das Leben des Künstlers, muß sein Herz erfüllt sein von diesem Verlangen nach der Heiligung des Namens Gottes, wenn sein Werk mächtig und rein erklingen soll! Es entscheidet über ein jedes Werk von Menschenhand, ob es der Heiligung dient oder nicht; seinem Tun das Gepräge der Heili­gung zu geben, ist das höchste Vorrecht des Men­schen; es macht ihn erst ganz zu dem, was er ist. Aber auch die Völker leben um der Heiligung willen; und durch die Geschichte hallt, oft von einem furchtbaren Widerspruch gehemmt, dann und wann nur von wenigen Stimmen getragen, dann wieder von Völkern aufgenommen, vom Streitruf der Mächtigen übertönt, zuweilen, in den höchsten Stunden, von den Mächtigen und von den Völkern gesungen, dieses Wort. Und die Not der Gefangenen, Verlassenen und Geschla­genen stimmt mit ein; es ist das Wort, das, als letzter Laut von den Lippen der Sterbenden, den Tod überwindet und verklärt. Es nimmt alle Schmerzen an; mit ihm feiern die Unterworfenen ihren Sieg.

Geheiliget werde Dein Name! So geschehe es in meinem Leben. Audi das Leben kann zum Wort werden, das Du vernimmst. Furchtbar ist die Ge­fahr; je deutlicher der Mensch erkennt, was ihm in die Hand gegeben ist, um so heftiger werden die Mächte der Tiefe auf ihn einstürmen, um so größer muß sein Vertrauen werden. Aber die widersacherische Macht endet, wo dieses Wort ge­sprochen, gelebt, getan wird; der Widersacher überschreitet die Schwelle des Heiligen nicht. Wo sich die Heiligung ausbreitet, schwindet die Ver­wirrung, kehrt die große Ordnung ein. Denn die Welt, die Deinen Namen heiligt, ruht in Deiner Hand; Dein Sohn aber hat das große Werk der Heiligung begonnen; Er verherrlicht Dich durch Sein immerwährendes Kommen im Sakrament; erst wenn wir eins geworden sind mit Ihm, wer­den wir dieses Wort sprechen, werden wir es halten können. So kommt Segen aus dem ver­borgensten Leben. Aber auch um den Segen geht es nicht, sondern nur darum, daß ein Mensch er­schauert vor Dir und Dir dankt.

ZU UNS KOMME DEIN REICH

Das Reich Gottes ist zu uns gekommen mit Christus, und es wird immer wieder zu uns kommen mit Ihm. Aber es ist, nach den Worten des Herrn, ein Geheimnis; Gleichnisse machen es offenbar — und doch nur denen, die an Christus glauben. Die andern werden mit offenen Augen nicht sehen und mit hörenden Ohren nicht verstehen (Markus 4,11-12). Das Reich Gottes ist gleich dem Samen, den ein Mann in das Acker­land streut: „Mag er schlafen oder wachen, bei Tag und bei Nacht; der Same keimt und sprießt auf, ohne daß er es merkt“ (Markus 4, 27). Es ist gleich dem Senfkorne, dem kleinsten unter allen Samenkörnern, in dem die mächtigste Keim­kraft lebt; aus ihm geht ein Baum hervor, in dessen Schatten die Vögel des Himmels wohnen können (Markus 4, 30-34). Dieses Wachstum ge­hört zu den Geheimnissen des Reiches Gottes; was aber ist das Reich? Es „besteht in Gerechtig­keit, Frieden und Freude im Heiligen Geiste“ (Römer 14, 17); Ungerechte können keinen An­teil an ihm haben (1. Korinther 6, 9). Wer das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zuerst sucht, dem wird alles andere gegeben werden (Mat­thäus 6, 23). Es ist das Reich der Armen, nach der Seligpreisung des Herrn (Lukas 6, 20). Es ist das Reich, das nahe ist, dessen Zeit sich erfüllt, wie es von den ersten Jüngern verkündet wurde (Markus 1, 15). Und doch bleibt es bei dem „Geheimnis“, das gegründet ist auf die Botschaft vom Herrn; wer die Botschaft nicht annimmt, der wird das Wesen dieses Reiches nie erforschen. Sein Tor ist der Glaube.

Aber der Herr steht vor uns und bittet mit uns um das Kommen dieses Reiches; Er ist uns ganz nahe; wir hören Seine Stimme. Könnten wir uns Seine Gestalt vergegenwärtigen, so wie sie in Seinen Worten lebt, so müßten wir glauben und im Glauben leben, und das Reich wäre gekommen. Es gehört zum Wesen des Reiches, daß es kommen muß, daß wir es nicht schaffen können; wir müssen aus Herzensgrund darum bitten und bittend bereit sein. Das Reich in diesem Sinne ist vielleicht nichts anderes als das Leben in Christus; wo immer das Leben in Christus hindringt, da ist das Reich. Und wenn das Leben in Christus die Welt einzubeziehen vermöchte, wäre die Welt zum Reiche Christi geworden. Nur würde dieses Reich nicht auf der Welt ruhen, sondern auf der Kraft des Herrn; das Reich steht ja „in Kraft“, nicht in Worten (1. Korinther 4, 21). Es ist un­überwindlich, wenn sein Same einmal gefallen ist; wie der Baum, der aus dem Senfkorne hervor­sprießt, den Vögeln des Himmels Schatten gibt, so könnte das aus der Kraft des Herrn hervorgegangene Reich des Lebens in ihm der Welt Schatten geben, die Welt beherbergen. Das Leben in Christus will wirken, und so muß das Reich Christi sichtbar werden; nicht um der Sichtbar­keit willen, aber aus der Kraft seines Wirkens. Die im Frieden und in der Gerechtigkeit ge­borgen sind, müssen als Gerechte handeln, als Friedfertige zeugen für den Herrn; sie erkennen sich als Brüder und tragen die Bruderschaft weiter; sie sind arm, das heißt, sie können die Dinge der Welt nicht besitzen, noch von ihnen besessen werden, und da sie so zu den Dingen stehen, so können sie alles Geschaffene achten in seinem eigenen, von Gott empfangenen Werte und die Güter gerecht verwalten. Das Leben dieses Reiches ist das Fortleben Christi in den Seinen; in dem Herzen, das nicht mehr gespeist wird von der Lebenskraft Christi, endet das Reich; in dem Herzen, das von ihr berührt und verwandelt wird, beginnt es. Da aber der Herr in der Welt lebt unter der Gestalt des Sakra­mentes und mitten unter den Brüdern, die ver­sammelt sind in Seinem Namen, so wird dieses Reiches auch kein Ende sein bis zum Jüngsten Tage; es ist immer da und beginnt immer von neuem; die Wurzeln des unvertilgbaren Baumes suchen in ein jedes Herz zu dringen. Das Reich ist eins; es besteht allein durch den Herrn, der sein Leben, seine Kraft, seine Mitte ist. Das Ge­heimnis wird sichtbar; unter der Sichtbarkeit be­steht das Geheimnis fort. Alles Äußere dieses Reiches weist nach innen; das Innere strahlt auf die Welt. Die ihm angehören, tragen das Siegel Christi, den sichtbaren Widerschein unsichtbarer Gegenwart.

Das Gottesreich kommt; es ist in einem immer­währenden Anbruch begriffen; dieses beständige Anbrechen des Gottesreiches ist der Inhalt der Geschichte. Da ist das Menschenreich oder aber ein Reich innerweltlicher Mächte, denen sich der Mensch unterworfen hat. In ihm regiert das Hohe, das der Schöpfer dem Menschen verliehen und das dieser nie ganz verloren hat, oder es regieren die Gewalten, die nach dem Menschen dürsten und ihn seinem eigentlichen Herrn ent­reißen wollen; oder das Hohe und die Gewalten vermischen sich, und des Menschen Leidenschaften treten hinzu. In diese Wirklichkeit dringt das Gottesreich. Es kann sich mit dem Bestehenden nicht vereinen; denn dieses ist geschaffen; mit dem Leben Christi aber tritt das Ungeschaffene ein. Wenn der Mensch sich ihm öffnet, so nimmt es ihn an und verwandelt ihn; beugt er sich nicht, so kann keine Versöhnung geschehen zwischen dem Reiche Gottes und dem des Menschen. Aber dessen Wesen ist es, in Streit zu sein mit sich selbst; ist das Reich Gottes in immerwährendem Kommen, so ist das des Menschen und der Mächte in immerwährendem Zerfall. Es kann nicht eins sein; denn es lebt nicht von einer Kraft. Und selbst wenn der Widersacher es tragen wollte, so vermöchte er es nicht zu einigen. Denn Ordnung beruht auf der Hingabe der Freien und der Ehr­furcht vor Gottes Gesetz; dem Widersacher bliebe nur ein Zerrbild der Ordnung: der Zwang, der fesseln soll, was die Ehrfurcht nicht bindet, die Liebe nicht vereint. Sein Reich ist der Streit, seine Herrschaft die Gewalt, die von der Ordnung los­gerissene Macht; sein Gesetz seine Waffe, sein Zweck er selbst, sein Mittel der Mensch. Aber seine Gestalt zerteilt sich in seinesgleichen; er stürzt, was er baut, bekämpft und verschlingt sich selbst und erscheint wieder mit der Kraft des Hasses und der Empörung, die der Anfang der Geschichte ist und von ihr überwunden werden muß. Denn die Geschichte ist Heilsgeschichte; ihr Ende ist das sichtbare Reich des Herrn; darum ist das echte geschichtliche Reich auf Erden, dessen Haupt dem Herrn dient und lebt aus der Ver­einigung mit Ihm, das Versprechen dieses Reiches; ein Heiliges ist in ihm beschlossen, und wäre es auch nicht mehr, als sein Kronreif umfaßt. Es ist nicht das Gottesreich, in dem der Friede behei­matet ist und dessen Träger weithin verstreut als Brüder wohnen; aber es ist das Bild der Ordnung, die verwirklicht werden wird, wenn Christus sichtbar den Thron der Welt besteigt. Vom Welt­könig, dessen unzulänglicher Vorläufer der irdi­sche König ist, hat der Herr des geschichtlichen Reiches seine Macht und das Heilige seiner Würde. Vom Weltkönig fällt ein Schimmer auf seine Krone, auf sein Gesicht.

So ist das irdische Reich eine Schutzwehr gegen das Böse, gegen das Reich der Verwirrung und das dämonische Gegenbild der Ordnung, dessen unbarmherziges Gesetz der Widerspruch gegen Schöpfer und Schöpfung ist. Das irdische Reich steht in der Geschichte; das Gottesreich macht von ihr frei, wenngleich es auf die Geschichte wirkt und die ihm Angehörenden entsenden kann in das irdische Reich und vielleicht gar auf seinen Thron. Es ist Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geiste. Das irdische Reich führt die Straße zum Jüngsten Tag, das Gottesreich spannt sich hoch über die Geschichte hinweg als Brücke ins ewige Leben; die Krone des irdischen Reiches blitzt vom Strahl des Gerichts; die Heiligen des Gottesreiches tragen die Kronen einer andern Welt. Dieses Reich hat der Herr uns gebracht; es ist möglich geworden durch Ihn und betretbar für einen jeden von uns. Es ist unsere Bestim­mung. Wenn der Herr uns um das Kommen des Reiches zu bitten lehrt, so bittet Er um die Heim­kehr der Ihm Überantworteten zum Vater, welche Heimkehr das von Ihm ergriffene Werk ist. So ist Sein Reich immer da und immer künftig; immer besteht für den Menschen die furchtbare Gefahr, daß es nicht komme; es kommt nur zu denen, die seiner harren: zur betenden Schar des Herrn. —

Dein Reich durchdringt unbesieglich die Ge- schichte, deren Inhalt ja das Wachsen Deines Reiches ist. Wenn es aber einzelne gibt, zu denen das Reich nicht kommt, gibt es dann nicht auch Geschlechter und Zeiten, denen sich Dein Reich verweigert? Und wohin würden diese stürzen, losgelöst aus dem Gefüge Deiner Ordnung, aus der Gemeinschaft mit den Toten? In Deinem Reiche ist ja keine Schranke zwischen Toten und Lebenden mehr, wohin aber sind jene gegangen, die nicht durch seine Tore geschritten sind? Wir beugen uns; wir können nur bitten; und wenn wir ein Opfer bringen können, das den gering­sten Wert hat vor Dir, so nimm es an. Nimm uns alles; aber laß uns frei werden für Dein Reich. Wir leben in den Fesseln der Zeit, die doch nur die Fesseln unserer eigenen Schuld sind. Ein Schatten liegt auf der Welt, und wir wissen doch, ihre verheißungsvolle Schönheit hat sich nicht ge­wandelt. Auch über die Freude heiliger Feste ist ein Schatten gekommen; er sollte nicht sein; unsere Freude sollte tiefer, reiner werden; aber der Schatten ist da. Die Sorge zehrt an einer jeden Stunde; wir leben nicht mehr als Deine Kinder; der Bergsturz der Geschichte schüttet den Raum unseres Daseins zu, und dem Menschen sind alle Zeichen seiner Würde, seiner Freiheit genommen. Wir haben das Wort verloren, das Dich bezeugt; wir haben die Freude verloren, die das Siegel der Erlösung ist; unsere Liebe wird immerfort versucht vom Haß; seit die Bilder der Gerechtigkeit alle gefallen sind, versündigen wir uns fort und fort gegen das Recht und gegen die Heiligkeit Deines unerforschlichen Waltens. Und doch ist keine Schranke, die dem herabbrausenden Geiste wehren könnte. Er kann uns frei machen für den Frieden der Kinder Gottes, für die Ge­rechtigkeit und die Freude Deines Reiches; an seine Macht rührt die Geschichte nicht. Wir aber sind noch nicht arm geworden im letzten Sinne; unsere Wünsche hängen noch immer am Ver­lorenen, weniger an den Gütern als an Ordnung und Gesetz. Wir haben das Leiden für Dein Reich, von dem der Apostel spricht (2. Thessa­lonicher i, 5), noch nicht mit Freude ergriffen, sonst fänden wir Dein Reich auch in der Not und in der Anfechtung; ist ihr ganzer Sinn doch, daß sie überwunden werden von der Freude. Endlich ist die Stunde gekommen, wo wir alles verlieren können, um alles zu gewinnen; die Stunde des innigsten Gebetes wird auch die Stunde der Er­füllung sein. Bereite unser Herz so, daß wir zu­erst Dein Reich suchen und seine Gerechtigkeit; daß die Trauer um das Irdische uns nicht mehr von Dir trennt. Dann wird auch unser Leben, das tief unten wohnt in seiner Schwere, ein Zeichen Deines Sieges sein. Entreiße uns der Traurigkeit, und sei es mit der Kraft des bittersten Leides, der furchtbaren Kraft der letzten Enttäuschung. Aber es darf keine Zeit sein, in der Dein Reich nicht kommt, Deine Verheißung sich nicht erfüllt.

DEIN WILLE GESCHEHE WIE IM HIMMEL ALSO AUCH AUF ERDEN

Diese Bitte bindet das Geschehen auf Erden an ein Geheimnis. Wir kennen das Ge­schehen im Himmel nicht. Nur der Sohn blickt, da Er uns diese Bitte vorspricht, in den Himmel hinauf: Er sieht die unerschütterliche Ordnung der andern Welt, die Kreise der Engel, der Heiligen und Vollendeten; ein Sein, das viel­leicht nicht mehr in unserm Sinne dem Willen des Vaters „gehorcht“, sondern das lebt aus diesem Willen; Er sieht ein unermeßliches Reich, dessen Wesen es ist, Gott zu loben und anzuschauen, da zu sein zu Seiner Verherrlichung. Es ist nicht denkbar, daß dort der Wille des Vaters nicht ge­schähe; Seinen Willen zu tun ist ja die höchste Seligkeit dieses Reiches; schauen, tun und preisen sind eins, sind das unendliche Leben der Voll­endeten. Die Ordnung dieses Reiches als die makellose Erfüllung göttlichen Willens, als der Ausdruck dieses Willens selbst ist vollkommen; die Kreise des Jenseits ertönen in unstörbarer Harmonie. Und indem wir zu ahnen suchen, was sich nicht fassen und schauen, nicht begreifen läßt, überkommt uns der ganze, erdrückende Ernst unserer Bitte: so wie im Himmel soll auch der Wille des Vaters auf Erden geschehen. Welches Dasein dürfte es wagen, nur im minde­sten Grade sich jener Ordnung zu vergleichen? Und selbst wenn das unsäglich Schwere gelänge und unser Wille sich dem Willen des Vaters an­schlösse, würden dann nicht noch immer die Nei­gungen und Wünsche, die Träume, über die wir keine Macht erlangen, ihm widersprechen? Das Schicksal kommt hinzu und wirft ein Leben aus seinem Kreise von einer Schuld zur andern; die Zeit verwirrt und liefert der Versuchung aus; der Böse bemächtigt sich der Verwirrten; das Leid trübt das Auge, so daß wir Gottes Ordnung nicht mehr sehen. Und ist in diesem „Geschehen“ nicht alles Geschehen, die ganze Geschichte vom ersten bis zum jüng­sten Tag eingeschlossen? So auch soll sich die Geschichte begeben wie das Leben im Himmel, im Umkreis des Vaters und auf Ihn ge­richtet als ein einziges Lob Seines Namens. Sie soll gleichsam die Antwort sein auf das, was im Him­mel geschieht, auf das engste mit dem Geschehen im Himmel verbunden und im tiefen, im Gebet sich immer erneuernden Bewußtsein dieser Ver­bundenheit; auch sie soll der Ausdruck sein des Willens des Vaters, das Abbild der von Ihm ge­wollten Ordnung, und die Kreise des persönlichen Lebens sollen sich in die Ordnung der Geschichte fügen, von derselben Mitte getragen wie sie. Dort oben währt keine Geschichte mehr; über dem Kommen und Schwinden der Völker, dem Tun der Mächtigen glänzt das Sein der Verklärten, einem Sternbilde gleich, das die Vorgänge auf Erden einfordert: vor dem Priester leuchtet der Heilige in furchtbarer Reinheit, vor dem Künst­ler der Engel, der Gottes Lob singt, vor den Kriegsheeren der Erde schimmern die himm­lischen Heerscharen, die erschauern vor Gottes Nähe und harren auf Seinen Wink.

Und so sind wir versucht zu fragen: Wie könnte das sein? Wie könnte es einen Gehorsam auf Erden geben, der jenem Sein im Gehorsam gliche? Aber wir sollen nicht fragen, wir sollen bitten, daß es so sei, und sollen Gottes Willen an­nehmen. Der Anfang der Herrlichkeit ist ge­macht, denn Gottes Sohn ist unter uns und Er tritt vom Altare her immer wieder in unser Leben in einem jeden Augenblick der Geschichte. Er lädt alle, die in der Geschichte ihrer Ämter wal­ten, vor den Altar. Ist die heilige Mitte nicht da, dieselbe Mitte, die das Leben der Seligen und der Engel trägt? Verbindet der Herr, indem Er herniedersteigt, nicht immer aufs neue das Sein der Tiefe mit dem Sein der Höhe? Wenn die in der Geschichte Wirkenden Ihn empfangen und Ihm verpflichtet sind, müßte dann nicht auf Erden ein Anfang heiliger Ordnung sein? Dieser Anfang ist unser; er kann, er muß jetzt ge­schehen. Alles andere steht nicht bei uns. Wir kennen die Macht des Widersachers nicht, die über diesen Anfang kommen, die in uns selbst erwachen kann; aber wir sollen uns auch nicht verwirren lassen durch die Furcht vor ihr. Gott kann uns immer retten, wenn wir schwach sind vor der Welt, ist nur unser Glaube stark, haben wir nur die Kraft der Ergebung und des Gehor­sams und das heiße Verlangen, unser Leben zu finden im Tun Seines Willens.

Das Tun, das ausgeht von der Vereinigung mit dem Sohne, ist der Wille des Vaters. Von die­sem Tun aus wird eine Welt sichtbar, die in einem furchtbaren Gegensatze steht zur geschichtlichen Wirklichkeit. Aber Gottes Wille waltet auch über der verschuldeten Welt; es geschieht nichts ohne Ihn. Die Freiheit des Menschen mündet in Seinen Plan; aber keines Menschen Auge hat die Stelle der Mündung noch gesehn. Was wir als Freie entscheiden, dient der von Gott gesetzten Not­wendigkeit: Seinem allmächtigen Willen, der die Geschichte von der Stunde des Sündenfalls an über das Erscheinen Christi in der Zeit der Wiederkunft des Sohnes entgegenführt. In diesem Plane haben die Zeugen und Heiligen, die Vor­bereiter und Boten, die Aufrührer und Abtrünni­gen ihren Platz; ihrer ist die Tat, doch die Rich­tung und Wirkung ihrer Tat geht in das Geheim­nis ein. Freiheit und Lenkung, Heiligung und Schuld, Sühne und Gericht verschlingen sich auf undurchdringliche Weise; die Schuld hilft zur Sühne, das Gericht wird Schuld; unerschütterlich bestehen das Gute und Rechte; von der unmittel­baren Beziehung zu ihnen empfängt das Tun der Menschen seinen Wert. Die Ereignisse aber können nur bewertet werden aus der Beziehung zur verborgenen Absicht Gottes. Wir durch­schauen die Lenkung nicht; wir wissen nicht, was die Vorgänge gelten; wir kennen den Ort, die Bestimmung des einzelnen mit Bezug auf den Plan der Geschichte nicht. Wir wissen nur, was wir tun sollen, was uns verpflichtet, und daß Gottes Wille über dem Unbegreiflichen waltet. Über der Tat, die uns die Geschichte nicht erläßt, fordert sie von uns die große Ergebung. Die Tat kann entscheiden über unser Seelenheil; ihre Wir­kung auf die Geschichte kennen wir nicht. Wir sehen die Mächtigen kommen und wissen nicht, was sie sollen; wir sehen sie dahinschwinden, und die Völker wogen über ihre Spur, und wir wissen nicht, wie tief sie sich eingegraben hat. Tief im Dunkel werden die Seelen angerufen, ob sie dem Herrn folgen wollen; tief im Dunkel tritt sie der Versucher an, der sie fortreißen will vom Herrn. Mitten in der Geschichte, bewegt, geprüft, ver­lockt, gewarnt von ihr, finden oder verlieren die Seelen das ewige Leben. Das alles ist unerforschlich; kaum den Umriß der Taten, die äußeren Linien der Schicksale können wir erfassen. Das Verborgene und das Sichtbare, das Einzelne und das Ganze wirken zusammen; wir sehen die Notenschrift einzelner Takte, niemals hören wir die Symphonie: ihre ungeheure Gewalt wird im Jenseits über uns kommen.

Bald sichtbar, bald unsichtbar kämpft sich das Reich des Herrn durch die Geschichte, getragen von denen, die mit Ihm leben. Die Nacht lichtet sich nicht; nur in äußerster Ferne glüht die Abend­röte des Endes und des Gerichts, die Morgenröte der neuen Welt. Von Ruhm Gekrönte und arme Gescheiterte fliehen vorüber; wir wissen nicht, was sie gelten vor Gott. Wir wissen nur, daß der Vater die Geschichte lenkt; Ihm sei alles anbe­fohlen: das Leiden an dem heillosen Widerspruch, der zwischen der Ordnung des Himmels und der Verwirrung auf Erden klafft; die Furcht davor, daß einstmals das, was auf Erden geschehen ist, gemessen werden wird am Einklang des Himmels und der Ungehorsam des Menschen sich verant­worten muß vor dem Gehorsam der Engel. Nach dem Willen des Vaters betreten wir das Kampf­feld der Geschichte, wo entschieden wird über das Seelenheil des einzelnen und der Welt. Vielleicht gab es Zeiten, die sich sicher genug fühlen durften, einen vorsorgenden Blick in die Zukunft zu tun. Längst aber sind die Fernen verhangen von den Schatten des Abgrunds, von den Regenschleiern der Not. Wir fragen nicht, wir beugen uns; wir möchten nur die Erinnerung an das Licht nicht verlieren, das ferne über uns ist. Aber was auch geschehen mag, sei es das, was uns am meisten entgegen ist, oder die Heraufkunft eines fried­lichen Tages, um den wir in Demut bitten, das Hinsterben unserer Hoffnungen, das Leiden des Heiligen, wir nehmen es an, gewiß, daß an einer jeden Stelle der Geschichte ein Heil verborgen ist. Dies ist ja unter so vielen Geheimnissen das tiefste: daß ein jedes Ereignis eine neue Möglich­keit der Gnadenwirkung heraufbringt. An dem ganzen Wege bis zum Ende der Welt steht das Kreuz. — Dein Wille ist die Verherrlichung des Kreuzes; Dein Wille geschehe. Die Menschen, in denen das Kreuz lebt, können nur siegen; unter­liegen können sie nicht. Durch sie siegt das Kreuz in der Geschichte. Aber erst am Ende, wenn das Licht des Gerichtstags über das Schlachtfeld fällt, werden die Kreuze aufleuchten. Vielleicht ist das Feld dann reicher besetzt, als wir ahnen, und viele Gräber, von denen wir glaubten, daß sie sich über Hoffnungslosen geschlossen hätten, tragen das Zeichen des Sieges. Auch in dem Widerspruch zwischen der Ordnung der Höhe und dem Völkergeschick verbirgt sich das Kreuz; und über­all dort, wo wir dem verzehrenden Zwiespalt zwischen Deiner Ordnung und der Menschen­satzung begegnen, ist es da und bereit, uns zu er­lösen. Mit dem Kreuze ist die Herrlichkeit des Himmels eingesenkt in die Erde; alles, was ge­schieht, geht um die Verwirklichung dieser Herr­lichkeit; und auch Schuld und Schmerzen wirken auf sie hin; sie ist heute noch verborgen, aber morgen, an Deinem nahen Tage, wird sie offen­bar werden.

UNSER TÄGLICHES BROT GIB UNS HEUTE

Die Väter und noch der heilige Franz von Assisi haben diese Bitte in ihrem höchsten und ernstesten Sinn verstanden als die Bitte um den Leib des Herrn. Wir wagen es nicht, sie in diesem Sinne auszusprechen; es gibt gewiß Menschen, die es dürfen und denen die Erfüllung der Bitte gewährt wird. Uns erscheint sie zu groß, ja wahrhaft ungeheuerlich; und doch ist es gewiß, daß die Bitte um den täglichen Empfang des Sakramentes ein Ziel ist, dessen verpflichtender Macht wir uns nicht entziehen sollen. Wir müssen einmal diese Bitte sprechen können, ohne zurückzubeben vor ihrer Erfüllung. Das Vaterunser zu beten in seiner höchsten Bedeutung ist ein Wag­nis, wie es in der heiligen Liturgie ausdrücklich heißt: „wagen wir zu sprechen“. Wir können dieses Wagnis nur auf uns nehmen im Vertrauen auf den Herrn, so wie wir es in der Messe tun, ehe Er zu uns kommt. Das Vaterunser ist Sein Gebet; es ist der Weg zu Ihm. Wenn wir Ihm wirklich nahe sind, werden wir uns nicht mehr fürchten vor Seinen Worten.

Aber leben wollen wir doch Tag für Tag mit Ihm, und in diesem Sinne möchten wir die Bitte vorbringen; können wir nicht täglich Seinen heiligen Leib empfangen, so möchten wir doch täglich von dem Brote des Wortes leben, das aus Seinem Munde kommt. Dann ist ein jeder Tag eine Vorbereitung auf den Tag, da Er uns das Brot Seines Leibes reicht; dann gilt eine jede Bitte, die dem Leben mit dem Herrn gilt, zugleich diesem Tage, der die letzte Erfüllung der Bitte gewähren soll. Es darf keinen Tag, keine Stunde geben, da wir ohne den Herrn sind. Aber an dieser Stelle begegnen wir einer großen Gefahr und Versuchung: wir möchten für Tage und Stunden leben ohne Ihn; wir möchten uns Seiner verpflichtenden Gegenwart entziehen, um zu han­deln, zu denken, wie es uns in den Sinn kommt, aus dem alten Eigenwillen unserer Natur, der sich wieder frei macht von der Bindung an Chri­stus. Wir tun es nicht, um uns wirklich von Ihm zu lösen, aber wir wollen es für einen Tag tun; für einen Tag wollen wir frei sein und etwa eine Freude erleben oder eine Arbeit tun, die außer­halb der Verpflichtung an Christus liegt. Wir ertragen es vielleicht nicht, immer vor Ihm zu stehen; diese immerwährende, fordernde, mah­nende, drängende Gegenwart des Andern: dieses niemals verstummende Gebot, fortzugehen von uns selbst und zu Ihm zu kommen; uns zu lassen und Sein Kreuz zu ergreifen; zu lieben, wenn wir müde und kalt sind; anzunehmen, wo wir ab­weisen wollen; uns zu beugen, wo wir wider­streben, dieses Gebot scheint uns zu schwer. Wir versinken in unserer Müdigkeit und sagen uns los.

Und was im Leben des einzelnen geschieht, das ist eine Möglichkeit im Leben der Völker; vielleicht vermögen sie es nicht, sich loszureißen von ihrem Hirten, der ihre Seelen geprägt hat und ihnen die Vereinigung mit ihren Toten verspricht, aber sie wollen einmal handeln, als ob Er nicht da sei: dann, wenn sie meinen, daß ihre Stunde ge­schlagen habe. Ist gewonnen, was sie erstreben, so wollen sie zurückkehren zu Ihm. So vielleicht ist der und jener unter den Konquistadoren aus­gezogen, seine Beute zu machen ohne den Herrn und dann, nach der Rückkehr, einen Teil der Beute zu opfern und mit dem Rest ein Leben zu führen vor dem Herrn; so erwarben die Kaufleute und Goldsucher Schätze in Indien oder Australien. Die Heimgekehrten bauten eine Kirche, gewiß nicht um Glauben zu heucheln; sie hatten den Glauben vor ihrer Ausfahrt und nach ihrer Rückkehr; sie täuschten vielleicht sich selbst, indem sie sich sagten, daß sie, nachdem sie ihren Gewinn gemacht, ihr Land errafft hatten, dem Herrn besser dienen könnten als zuvor. Nur machten sie sich einmal, für eine bestimmte Tat, von den Forderungen dieses Glaubens frei.

Das Vaterunser antwortet ihnen mit der Bitte „Unser tägliches Brot gib uns heute“, mit dem furchtbaren Nachdruck, der auf dem „täglich“ und auf dem „heute“ liegt. Der vom Geist des Herrn leben will, muß es in einem jeden Augenblick tun; er muß unablässig darum bitten, sonst wird ihn dieser Geist wieder verlassen, und es wird alles, was der Geist in ihm gewirkt, wie ungeschehen sein. Wir sollen vom Geist des Herrn leben nicht zu gewissen Zeiten, sondern in einem Jetzt, das immer währt. Keine Not spricht uns davon frei; wir können keinen Gegner bekämp­fen in der Lossage von diesem Geist; kein Haus bauen ohne Ihn, auch nicht, wenn wir Ihm später dienen wollen in diesem Hause. Dieses „Später“ steht nicht bei uns; vielleicht gibt es für uns gar kein Später mehr: vielleicht sollen wir jetzt schon nur noch diese eine Arbeit tun, diese eine Bewäh­rung leisten. Und wissen wir, welche Versuchun­gen unser harren können, wenn wir das Haus be­zogen haben? Ob wir dann nicht wieder vor eine Aufgabe gelangen, derentwegen wir abfallen möchten? Wir müssen ganz deutlich der Wahr­heit inne werden, daß wir leben von einem jeden Worte, das aus dem Munde Gottes kommt. Unser Leben währt nur so lange, wie das Wort uns speist; ohne das Wort sind wir tot; und es ist völlig gleichgültig, was wir etwa ohne das Wort leisten oder erreichen. Dies alles hat mit dem eigentlichen Leben nichts zu tun. Wir können Ruhm erlangen vor der Welt und Helden werden vor ihr und doch tot sein. Unser Totsein kann sehr lange währen und überdeckt sein mit aller Ehre und Macht, die die Welt zu vergeben hat. Wir können auch kein Unrecht bekämpfen im Zustande des Abfalls von diesem Geist, keine Schmach abwälzen und wäre es die drückend­ste; das Leben, das allein in uns leben kann, ist das des Herrn; und mit Ihm allein können und sollen wir als Lebendige die Welt bezwingen, eingedenk des uns verheißenen, unerschöpflich quellenden ewigen Lebens.

Es ist sehr schwer, diese Wahrheit so auszu­sprechen, daß sie mit der ihr innewohnenden Kraft in uns übergeht; zu oft wird das Wort wiederholt, zu selten wirkt es sich aus. Wer lebt vom Wort? Wer ist wirklich durchdrungen von der Einsicht, daß es keine andere Speise gibt, die ihn nährt? Wir mischen in all unser Tun ein Wort, das nicht das des Herrn ist. Wir glauben nicht mit unserer ganzen Herzenskraft daran, daß wir nur von Ihm leben können. Immer wieder vertrauen wir auch einem Andern. Wir lassen einen Schein eindringen in unser Leben, der zer­fallen müßte, wenn die Wahrheit wirklich in uns mächtig wäre; wir schauen nach einer Hilfe aus, deren Preis wir nicht kennen, und vertrauen uns ihr an. Wir suchen immer wieder mit entwerteter Münze zu kaufen. So mischt sich der Tod in unser Leben, und unsere Werke verfallen, da sie kaum getan sind. Viel zu wenig achten wir noch immer unsere Seele; wir spüren nicht, wie wir Tag für Tag ihr Verlangen nach Ewigkeit betrügen. Wir ahnen ihre Schmerzen nicht und nicht die Kränkungen, die wir ihr zufügen. Sie verlangt nur das eine: das Leben aus dem Herrn. Aber dem einen weichen wir aus. Das ist das Furchtbare, daß wir das eine nie ergreifen, son­dern immer ein Zweifaches.

Könnten wir die Bitte des Vaterunsers aus ganzem Herzen sprechen: gib uns kein anderes Brot als das Deine, dieses einzige, das wahres Brot ist, und gib es uns täglich! Aber ist es nicht so, daß der Herr immer gibt, und daß wir nicht mit der Sicherheit des reinen Glaubens nehmen; daß wir neben Seiner Hand eine andere sehen, die auch Brot zu reichen scheint? Nie werden wir vergeblich bitten, wenn wir es aus unbeirrtem Glauben tun. Es wird uns immer gegeben werden, wenn wir bereit sind; aber ehe wir um die Gaben bitten, sollten wir um diese Bereitschaft bitten: darum, daß wir unser Angewiesensein auf den Herrn unmittelbar erkennen und uns nichts ande­res wünschen als Seine Gabe. —

Der Mensch lebt nicht vom irdischen Brote allein, aber er lebt auch von diesem Brot, und so sollen wir um dieses Brot bitten. Wir können es nur, wenn wir das Vertrauen zum himmlischen Brote haben. Denn das wäre ja der zweite Sinn der Bitte, daß wir auch das irdische Brot nehmen im Glauben an Christus, in Seiner Gegenwart, und um als Bittende, Empfangende und Dan­kende immer aufs neue mit Ihm verbunden zu werden. Das irdische und das geistige Leben spiegeln einander in dem Lichte, das vom geisti­gen Leben ausgeht. Wir bitten den Vater um das irdische Brot, das heißt wir leben in dem großen Vertrauen zu Ihm, das der Sohn in uns gegründet hat. Christus hat gesagt, daß wir bitten dürfen; wenn wir es in Seinem Namen und für den heuti­gen Tag ohne Sorgen um morgen tun, so werden wir empfangen. Hätten wir den Glauben nicht, so müßten wir sorgen für morgen und übermor­gen; als Gläubige brauchen wir es nicht zu tun, sollen wir uns nicht beunruhigt fühlen von dem Dunkel, das den morgigen Tag verhüllt. Der Vater will nur das eine: daß wir uns heute be­währen, indem wir Ihm vertrauen. Der kom­mende Tag, sofern wir ihn erleben, wird wieder seine Aufgabe stellen; es wird im Grunde die­selbe sein, die wir heute haben: der immer neue Einsatz des Glaubens, wenn auch an einem andern Ort, unter andern Bedingungen. Dieser Einsatz wird immer möglich sein, die Welt ver­ändere sich, wie sie wolle. Wir leben in der Kirche, und die Kirche wird nicht untergehn. Sie ist das Unveränderliche in der Geschichte, das uns offen­bart worden ist. Leben wir morgen, so werden wir auch morgen in der Kirche sein und von ihr geborgen werden, vereint mit allen, die ihr ange­hört haben und angehören. Der Raum unseres Daseins, unseres Lebens und Sterbens kann uns nicht genommen werden. Auch die leidende Kirche büßt diese umschützende Macht nicht ein. So sind wir ohne Sorgen um das Höchste; unser aller tägliches Leben sollen wir im Namen Christi dem Vater immer aufs neue in die Hände geben. Unser Brot ist unsere Arbeit; da wir die Arbeit von Gott empfangen im Namen Seines Sohnes, so soll sie durch den Sohn auf Ihn gerichtet sein. Wir dürfen keine Arbeit tun, die nicht dem Sohn und Seinem Reiche dient. Ist es in unmittelbarem Sinne nicht möglich, so kann es mittelbar ge­schehen durch Gedanken, die wir bei der Ar­beit erwecken, durch Gebete, die wir im stillen sprechen, oder einfach, indem wir die Arbeit als ein Opfer darbringen; und wenn wir mehr nicht vermögen, so wollen wir sie tun in dem Bewußt­sein, dem Herrn zu gehören. Eine jede Arbeit kann zum Gebet werden, so manche zum Gebet der furchtbarsten Not. Wir vermögen ihrer er­drückenden Wucht kaum standzuhalten; da sie ein geheimes Zeichen der Liebe zu Christus ist, so können wir sie tun. So geht die ganze Ord­nung des täglichen Lebens von der Bitte um das tägliche Brot aus. Müßte sich nicht, wenn alle diese Bitte aussprechen würden in dem festen Willen, ihrer Erfüllung würdig zu werden, der Lebensgang und die Umwelt der Menschen völlig verändern? Vielleicht würden dann immer weni­ger Arbeiten gefordert werden, die nur als Opfer geleistet werden können: das Tun der Menschen bekäme mehr und mehr seine unmittelbare Rich­tung auf den Herrn und Sein Reidt. Wir können von niemandem Brot verlangen, in dessen Dien­sten wir nicht stehen, dessen Gebote wir nicht er­füllen. So ist Gott der Herr aller Arbeit; mit der Arbeit, die wir für Menschen tun, betrügen wir unsern eigentlichen Dienstherrn. Arbeit um ihrer selbst willen ist tot, ein Mühen ohne Ziel, ein Werk ohne Sinn. Sie verlangt nach einer be­flügelnden Kraft und wird sie nur vom Gebet erlangen. Beten aber alle, die arbeiten, so werden die Arbeitenden zur Gemeinde, und der Dritte erscheint unter ihnen, der die Arbeit zur Freude macht und die Mühsal verklärt. So soll es heute sein, im immerwährenden Heute; heute kann sich alles verändern, wenn die Herzenskraft des Men­schen erwacht und sich auf Gott wendet. Die Art der Arbeit und des von ihr bestimmten Lebens kann sich nicht von heute auf morgen wandeln; aber der Geist, in dem sie getan wird, kann sich verändern in diesem Augenblick. Und wer wollte bezweifeln, daß eine solche Wandlung von unermeßlicher Wirkung ist? Ändert sich nur das Wie, so wird sich auch der Charakter der Arbeit ver­ändern; es gibt keine andere als die im Weinberg des Herrn. Ob wir ernten oder die Kelter treten, das Verlorene sammeln oder nur das Gerät zu­rüsten, was liegt daran! Wenn wir nur wissen, wer der Herr des Weinbergs ist, und daß wir alle in Seinen Diensten stehn und von Seinen Gna­den leben.

So heißt auch diese Bitte: Komme zu uns! Laß unser Leben eingehen in das Deine! Von Dir ist alle Speise des Leibes und der Seele; empfangen wir sie auf die rechte Weise, so müssen wir Dir näher kommen. Mit unserm Brot empfangen wir von Dir unser Tagwerk; wir bitten um die Mühe, die wir bestehn dürfen in Deinem Namen; wir bitten um die Arbeit, die uns Dir nähert, und um die Ordnung, die dieser Arbeit entspricht. Wir bitten für alle: darum, daß alle den Geist der rechten Arbeit empfangen. Was ist die Arbeit mehr als der Versuch zu danken? Und was gilt die Arbeit, auf der nicht der Glanz einer großen Dankbarkeit liegt? Arbeit darf nicht Pflicht, sic soll Freude sein; die Freude ist immer nur eine: die des Menschen, der sich erlöst weiß in einer der Erlösung harrenden, der Verheißung teilhaftig gewordenen Welt; des Menschen, der beschenkt ist von Gott und dafür danken will. Freude ist nur in der Ordnung der Liebe, die alle und alles umfaßt. Diese Ordnung ist da als Stiftung Christi, und sie wartet doch zugleich auf uns, daß wir sie verwirklichen durch unser Gebet und durch den Geist des Gebetes in unserem ganzen Leben. Unser tägliches Brot gib uns heute, das heißt: laß uns leben aus Deinem Wort immer und überall und Dir immer näher kommen, bis alles, was wir tun, ausgeht von Deinem Wort und Dein Wort erwidert, bis wir es wagen können, täglich Deinen heiligen Leib zu empfangen und täglich durch Dich eins zu werden mit den Deinen und mit Dir.

UND VERGIB UNS UNSERE SCHULD WIE AUCH WIR VERGEBEN UNSERN SCHULDIGERN

Unsere Schuld ist vor allem die Schuld am Herrn; daß Er unter uns weilt und wir Ihm nicht folgen; daß wir in Seiner Ge­genwart leben und Ihn beleidigen, daß wir Ihn täglich verraten, so wie Er einst verraten worden ist: das ist unsere größte Schuld. Die Liebe ist zu uns gekommen, aber wir tragen sie nicht weiter; die Verheißung hat unter uns gelebt, und wir verzweifeln; der Himmel ward uns geöffnet, und wir versinken in Traurigkeit und Furcht. Täglich und stündlich versagen wir am Herrn; auch das Sakrament bewahrt uns vor diesem Versagen nicht; es macht uns unsere Unzuläng­lichkeit erst recht offenbar. Denn im Grunde ist nichts geschehen zwischen der Zeit, da der Herr mit den Jüngern hinaufzog nach Jerusalem, und unserer Zeit: wir sind Ihm ebenso nah wie jene; ja Seine Göttlichkeit ist mit der Gnadenwirkung der Jahrtausende auf dem Antlitz der Heiligen und Erleuchteten, im Leben der Kirche immer deutlicher sichtbar geworden; die Überwindung der unmittelbaren Hingabe, die letzte Wendung des Herzens, des Daseins auf Ihn erbringen wir nicht. Wir können nicht ohne Ihn sein, aber wir können doch nicht alles lassen um Seinetwillen; die Herzwurzel der Sünde steckt tief in unserem Leben. Schuldig an Ihm werden wir auch vor unsern Brüdern, die Seine Brüder sind, in der Welt, die Er geheiligt hat, vor dem Geiste der Wahrheit, dessen Wort wir verfälschen mit unse­rem eigenen eitlen Wort; an jeder Abzweigung unseres Weges von dem Seinen steht als Meilen­stein die Schuld. Es ist eine Schuld von Anfang an; Er hat ihre Macht gebrochen, aber wir kehren zu ihr zurück. Ein altes Verhängnis zieht uns von der Erlösung zur Knechtschaft; wir blicken in unsere Seele und suchen statt Gottes Ebenbild das Spiegelbild unseres Selbst. So werden wir die Beute dessen, der über die Gefolgschaft des Herrn keine Macht mehr erlangen kann, dem aber die verfallen müssen, die sich selber, die ihr Ich im Tage suchen. Wir zerreißen die Bande der Liebe, die der Herr um uns geschlungen hat, und wir werden frei für die Fesseln des Widersachers.

Was ist, an dieser Abkehr von der Liebe ge­messen, die Schuld, die andere an uns tragen und die wir zu vergeben versprechen! Haben wir ihnen so viel Liebe geschenkt, die etwa mißachtet worden ist? Und selbst wenn wir von der ganzen Schuld der Welt sprechen würden, die herein­schattet in unser Leben, und von dem unablässig wachsenden Schuldgewicht der Zeiten, das die Geschichte vor sich herwälzt und das auch über uns hinweggeht: was wäre dies alles gegen die Sünde am Erlöser! Wir grollen den Geistern der Vergangenheit, die uns auf den falschen Weg ge­führt, den Zeiten, die unsere Zeit wie ein zu schwaches Fahrzeug mit Not überfrachtet haben; wir setzen das Böse, das sich der Menschen bemächtigt und durch sie in der Geschichte wirkt, den Menschen selber gleich, ohne die letzte menschliche Hoheit, die verhüllte Würde der Menschengestalt zu achten, die auch den Besesse­nen noch eigen ist. Aber wenn wir dieses Unrecht einsehen, diese Vorwürfe verschweigen; wenn wir in der Schuld der einzelnen die Schuld aller er­blicken, — die freilich die Schuld des einzelnen nicht aufhebt —: was haben wir dann getan? Wir haben doch keine Gabe in der Hand, die eine Schuld am Herrn aufwöge.

Aber dem Herrn geht es nicht darum. Die Schuld soll Liebe entzünden und Liebe ausbreiten: das ist der Sinn dieser Bitte. Indem der Herr sie mit uns spricht, steigt Er hinab in die tiefste Tiefe unseres Seins, wo unser Wesen dem Bösen be­gegnet. Der Schuldlose, der die Schuld der Men­schen auf Sich genommen, bittet mit uns um Ver­gebung unserer Schuld. Es ist ein verpflichtendes Opfer Seiner Liebe: der Anfang der großen Liebe, die, von der Schuld erweckt, den Menschen und die Welt erneuert und verklärt. Unsere Schuld hat Ihn herabgerufen; unsere Schuld wird uns durch den Priester an Seiner Statt vergeben; die Vergebung, die wir von Herzen und in Reue er­flehen, ist Sein bis ans Ende der Zeiten dauern­des Vermächtnis. Sie fordert nur dieses geringe Zeichen der Liebe, daß auch wir vergeben, die wir doch kein Unrecht erleiden können, wie der Herr es erlitten hat. Mit dieser Bitte geht das Ge­bet un­mittelbar über in ein Tun; bittend legen wir ein Gelöbnis ab. Es ist das Gelöbnis, einen Anfang zu machen mit dem Leben in Christus, mit den Worten: „Tut Gutes denen, die euch hassen, und bittet für die, die euch verfolgen und verleumden“ (Matthäus 5, 44). Die höchste Form der Anbetung des Vaters ist vielleicht die Nach­folge, das Einssein mit Christus; das Gebet wird zum Leben, so wie dem heiligen Ignatius das Leben zur Predigt wurde; wir beten, indem wir das Reich der Liebe weitertragen, das der Sohn gebracht hat. Nur wenn wir diese Bitte leben, dürfen wir hoffen auf Gewährung.

So endet das Reich der Schuld dort, wo das Reich der Liebe beginnt; die beiden Reiche treffen in dieser Bitte zusammen; sie ist unser Übergang vom ersten ins zweite. Wer diese Worte von Herzen spricht, muß eine Wandlung erfahren. Mit dem Himmel hat uns der Herr auch unsere Schuld, die große Ferne und Fremdheit zwischen unserer Natur und Gott offenbar gemacht. Aus der ganzen Tiefe des Abgrundes, den das vom Heiland ausgehende Licht zum erstenmal er­hellte, müssen wir beten. Aus der Erschütterung über diese Tiefe müssen wir verzeihen. Wir sehen das Furchtbare, das uns dem Verbrecher fast gleich macht, die schmale, vom Willen gerade noch eingehaltene Grenze, die uns von ihm trennt. Wir erkennen die Menschenschuld in aller Schuld, die geschieht; es wird keine begangen, an der wir nicht mitschuldig sind, und vielleicht stehen wir darum so tief in der Geschichte, weil wir unsere Mitschuld an allem Geschehenden erkennen und das Leid der Menschheit in seiner unerforschlichen jenseitigen Gerechtigkeit als ein verschuldetes an­nehmen sollen. Aber unerschütterlich besteht das Recht, das die Ordnung auf Erden trägt und die Tat vom Gedanken, den Entschluß von der Nei­gung scheidet; wir müssen es wahren; unser Trost bleibt das Bekenntnis vor Gott, daß wir uns keiner Gerechtigkeit rühmen und uns selber ver­urteilt wissen mit dem, über den das Urteil fällt. Möge unser Herz nie zu schwach sein für die Liebe, die über alle Schranken hinweggeht mit der Kraft des Gebets! Vielleicht lernt es auch unser Herz, ein Opfer anzubieten, dessen stille Gewalt zu den Gefangenen dringt und ihnen Trost bringt, ohne die Kerkertüren zu sprengen.

Vergib uns unsere Schuld — sie ist unermeßlich; und mit einer furchtbaren, immer noch wachsen­den Macht kommt die Schuld über die Welt, die schöne Ordnung störend, die Du in sie einge­pflanzt hast, und die Bilder heiligen, gerechten Lebens verdunkelnd, die zu uns herabgekommen sind. Es ist, als wolle die Schuld alles, was da ist, zusammenraffen und dem Gericht entgegendrän­gen. Keine andere Macht kann ihr entgegentreten als die Liebe, die von Anfang an stärker war als das Böse. Das Böse lebt in tausenderlei Gestalt; es besetzt die Zinnen der Macht und es flutet über die Ebenen, wo sich die Unterworfenen wieder empören; es quillt aus dem Abgrund. Die Liebe hat nur eine Gestalt: es ist Dein Sohn. Wenn es sein kann nach Deinem Plane, so laß einmal die Kraft Deines Sohnes so stark in uns werden, daß unsere Liebe an keiner Schuld versagt. Je näher uns das Furchtbarste rückt, um so näher ist auch der höchste Sieg der Liebe, ist die Möglichkeit dieses Sieges. Das ganze Grauen der Welt ist nur das Abbild des Grauens in unserem Herzen. Aber Dein Reich will dort die Welt betreten, wo die entsetzlichste Schuld geschehen ist: auf Golgotha wurde das Wort der Vergebung gesprochen. So ist die Stunde der Schuld auch die Stunde der Verheißung: in dieser Stunde schenke uns Deinen Sieg, siege Du in uns!

UND FÜHRE UNS NICHT IN VERSUCHUNG

In unser Gebet möchte sich oft eine Frage drän­gen: Wie kann uns Gott in Versuchung führen? Gott selbst versucht ja nicht, wie der heilige Jakobus ausdrücklich bezeugt: „Keiner sage, wenn er versucht wird: ‚Ich werde von Gott versucht.‘ Gott kann nicht zum Bösen versucht werden, und Er versucht Selbst auch niemand“ (Jakobus 1, 13-14). Versuchen kann nur der Teufel; aber Gott kann uns an die Stelle führen, wo wir versucht werden, wie es vom Herrn, der vor uns die Versuchung bestanden hat, heißt: „Alsdann wurde Jesus vom Geiste in die Wüste geführt, um vom Teufel versucht zu werden“ (Matthäus 4, 1). Die Versuchung steht im Heils­plan: „Dadurch soll euer Glaube bewährt und für weit wertvoller befunden werden als das ver­gängliche Gold, das durch Feuer geläutert wird“ (1. Petrus 1, 7). Wir sind nicht allein mit dem Widersacher in der Stunde der Versuchung: Gott ist uns ganz nahe; spürten wir die Nähe Gottes, der uns führte und auf unsern Sieg wartet, wir würden vielleicht frei. Auch Christus steht neben uns, der in der Wüste, auf dem Dach des Tem­pels und dem sehr hohen Berge als erster die Ge­walt des Versuchers gebrochen und damit die Engel wieder heimge­führt hat auf die Erde; der Herr bedurfte der Bewährung nicht; wir haben auch kein Anzeichen dafür, daß Er mit der Ver­suchung gerungen hat. Er wies die drei Ansinnen, Brot aus Steinen zu machen und damit Seinen Hunger zu stillen, Sich vom Dach des Tempels zu stürzen und dem Volke ein vom Teufel ange­stiftetes Wunder zu zeigen, den Teufel anzu­beten für die Herrlichkeit und Macht dieser Welt, mit der unberührbaren Ruhe und Sieghaftigkeit Seiner Göttlichkeit ab. Vielleicht war dies der Sinn der Versuchung des Herrn, daß der Teufel, ehe Christus in der Welt zu wirken begann, ge­schlagen werden sollte; es sollte offenbar werden, was die geistige Macht des Satans und die ihm erreichbaren Güter waren vor der stillen Macht des Gottessohnes. „Bist Du Gottes Sohn …“, be­gann Satan zweimal, als wollte er einen Zweifel erwecken oder aber durch den Zweifel zur Tat treiben. Im Grunde bot er alles an, was er je­mals anzubieten hat: die Linderung irdischer Not, den Sieg über die Menschen, die Reiche der Welt. Der Preis war immer derselbe: der Abfall von Gott, der Gehorsam gegen den Widersacher. So ist die Versuchung des Herrn ein Bild aller Ver­suchung: kein Mensch wird siegen, wie Er aus Seiner ruhigen göttlichen Kraft gesiegt hat; Menschen werden nur siegen, indem sie sich auf die Knie werfen und um den Beistand der Engel bitten, die dem Herrn erst dienten, nachdem Er die Versuchung bestanden hatte. Aber der Satan kann im äußersten Falle nicht mehr fordern und bieten, als er damals verlangt und vorgetäuscht hat: so wurde er im Grunde damals für immer be­siegt. Ist das Reich Christi ein immerwährender Sieg über das Böse, so wird sich auch dieser Sieg des Herrn über den Versucher immerwährend wiederholen; der Herr siegt wie damals, aber nun in den Seinen und durch sie mit Seiner Kraft.

Und doch ist die Versuchung ein Geheimnis: es steht bei Gott, diesen Sieg von uns zu fordern, der unmittelbar vor dem Abgrund errungen wer­den muß. Sollen wir die „Krone des Lebens“ (Jakobus 1, 12) erwerben; soll das Vermächtnis Christi verherrlicht werden durch unsere Be­wäh­rung? Aber Christus Selbst, den der Böse dreimal in der Einsamkeit heimsuchte, hat uns gelehrt, den Vater zu bitten, daß Er uns nicht in Ver­suchung führe; Christus kannte die Macht des Bösen und unsere Schwäche: aus dem Wissen von der Gewalt des Bösen und unserer Unzulänglich­keit und der immerwährenden Gefährdung, in der wir leben, sollen wir beten. Da wir es tun und dem Vater unsere Schwäche offenbaren, so wird uns die schwerste Gefährdung vielleicht er­lassen. Er führt uns, und wir beten, so wirkt sich das Geheimnis unseres Lebens zusammen, von dem wir niemals erfahren, in welchem Maße es gefährdet und begnadet war. Es ist eine Ent­sprechung zwischen Gebet und Erhörung, Not und Hilfe, Verlorensein und Errettung. Unsere Bitte und die Bitte der andern scheinen zu verhallen im Dunkel; dann kommt eine Antwort zu einer Zeit vielleicht, da wir sie nicht erwarten; sie ist so er­haben, daß wir sie nicht verstehen, aber sie fügt sich in unser Dasein und wendet es leise; und wenn es uns ein­mal vergönnt werden sollte, er­hoben zu werden über unser Leben und es zu überschauen, so würden wir erschauern über die Wege, die wir gegangen sind. An den Abgründen ziehen sie sich hin und über morsche Brücken, ihre Verschlungenheit löst sich, und das eine große, nicht von unserer Hand geschriebene Zeichen der Gnade leuchtet aus ihnen hervor.

Versuchung ist überall, und wir spüren sie kaum; betend können wir sie erkennen. Es sind die An­sinnen Satans an den Herrn: Schaffe dir mit dem, was du bist, mit dem, was dir gegeben wurde, Brot aus Steinen; es kostet dich nur ein Wort, und du wirst keinen Hunger leiden und auch die Menschen, die du liebst, werden vor Not geschützt sein; es kostet dich etwas Unmerkliches, eine ver­borgene Wendung: du mußt nur ein einziges Mal tun, was der Böse dir einflüstert, nur ein einziges Mal ihm gehorchen und abfallen von Gott. Dann wird alles gut sein; du kannst sogar sehr viel Gutes stiften, weit mehr als jetzt. Du kannst anderen das Brot bringen, das dir jetzt so bitter fehlt, und du und die andern werden noch diesen Augenblick segnen. Oder aber: Warum setztest du die Gabe, die du empfangen hast, nicht auf die rechte Weise ein? Wirst du, wenn du dem andern Geiste dienst, nicht viel rascher und mächtiger wirken? Es gibt Mittel, die du ver­schmähst, einen Glanz, einen Zauber, eine Art von Betörung, deren du nicht mächtig bist; dies alles wird dir zuströmen, wenn du im geheimen einen andern Herrn annimmst. Er wird dich be­schenken mit den Gaben, die von den Menschen bewundert werden; du wirst eine geistige Macht über sie errichten — niemand außer dir braucht zu wissen, wer eigentlich dein Herr und dein Mächtiger ist; er wird ganz zurücktreten und wird sich auch gerne verschweigen lassen; ihm genügt es, wenn er herrscht durch dich. Vor den Menschen, vor der Welt bist du der Herr. Du fühlst, du weißt doch, was die Menschen be­gehren: nicht das Wort, sondern Magie, nicht das Bild der Wahrheit, sondern die Täuschung, nicht den Klang, sondern den Zauber; warum bietest du sie ihnen nicht? Und wenn dein Ruhm be­gründet ist, kannst du dann mit deinem Namen nicht auch einer guten Sache dienen — wieder abfallen, wie du jetzt abfallen willst? (Denn warum sollte der Versucher nicht auch den Ab­fall von ihm selbst dem Menschen vorstellen? Weiß der Versucher doch, daß er sich nicht ab­danken läßt.) Oder aber die Reiche der Erde breiten sich vor einem Volke oder einem Mäch­tigen aus, und es wird von ihnen, auf dem hohen Berge des Schicksals, nichts gefordert als der Knie­fall vor dem Fürsten der Tiefe. Alle Ordnungen sind erschüttert; die Mächtigen der alten Zeit ster­ben als Vergessene hin, und die Stunde des nie­mals Gewesenen scheint gekommen zu sein. Will die Erde nicht ihren Herrn? Ist es nicht die Zeit? Nur einmal liegt die Welt in diesem Glanze. Ob nicht doch alle Zeiten sich geirrt haben in dem, was sie für weise und möglich gehalten; ob es nicht auf die Probe ankäme, nun wirklich den Tempel des Widersachers zu bauen und sein Reich und nichts als dieses zu wollen? Drängte die Geschichte nicht an diese Stelle und hieße diese Stunde verfehlen nicht alles verfehlen, was die Erde an Möglichkeiten schon lange in sich ge­tragen? Gegen das Himmelreich, das, nachdem der Glaube gestorben, nicht mehr wiegt als ein Traum, stürzt die ganze Erde in die Waagschale. Aber nicht um Wägen und Wählen soll es sich handeln, sondern um die Geschichte und ihre Not­wendigkeit.

Und doch ist dies alles Schein, denn die Wahr­heit ist in der Welt und kann nicht aufgehoben werden. Wenn aber die Wahrheit da ist, so dürfen wir nicht eine Stunde ohne sie leben. — Freilich, nur selten spricht der Versucher mit der furchtbaren Klarheit, mit der er zum Herrn ge­sprochen hat; den Menschen gegenüber bedient er sich einer verschwommenen Sprache. Er eignet sich die Stimme der Not an; er ergreift die halben Rechte, aus denen doch nie ein ganz.es Recht wird, er läßt sich jeden Vorbehalt gefallen und jeden Vorsatz für spätere Zeit, wenn ihm nur die Stunde, nur der einzige Entschluß gehört, an dem die Ewigkeit hängt. Kann die Not nicht so groß werden, daß nun wirklich sie und nicht mehr des Menschen Bestimmung das Vorrecht erlangt über unser Tun? Aber es ist die Kunst des Versuchers, uns Notwendigkeiten vorzuspiegeln, die im Sein und in der Wahrheit nicht gegründet sind. Denn die Not ruht in Gottes Hand, und wenn Er uns in die Versuchung der Not führt, so nur, daß wir uns bewähren. Ist die Bewährung geschehen, so kann sich alles verwandeln. Hinter der Be­währung liegen unübersehbare Möglichkeiten der Rettung. Doch das Kreuz des Tragischen steht über dem Leben und über der Geschichte; gerät die Ord­nung ins Wanken, so überschneiden sich die Be­reiche unseres Daseins, des äußeren geschicht­lichen und des inneren Lebens, und was die Welt von uns fordert, ist unvereinbar geworden mit den Verpflichtungen unserer Seele. Es gibt viel­leicht Zeiten, deren Wesen es ist, den Menschen in diese Tragik zu führen. Dann stehen wir mitten in der Versuchung; wir müssen uns ent­schließen; ein jeder Entschluß muß uns verwun­den und dringt tief in unsere Liebe ein. Laß uns dann das Höchste wählen, mein Herr und mein Gott, daß wir Dir nicht untreu werden und daß wir die Kraft finden, unseren Glauben zu be­zeugen. Eine jede Stimme, die uns rät, Dich auch nur für einen Augenblick zu verlassen, ist die Stimme des Versuchers: es gibt kein Recht auf Erden, das Deine Rechte bricht; es gibt keine Stelle unseres Weges, wo die höhere Forderung nicht erkennbar ist, und ihr wollen wir genügen. Alles Unglück der Erde kann sich unter Deiner Hand wandeln über Nacht, der Abfall von Dir aber wirft seinen unvertilglichen Schatten in die Ewigkeit. Du hast die Seele in unsere Hand ge­geben, ein unschätzbares Kleinod, das Dir ge­hört; es geht um gar nichts anderes in diesem Leben als darum, daß wir die Seele heimbringen, und müßten wir durch Rauch und Feuer und durch alle Not und alles Grauen der Geschichte und durch die entsetzlichsten Verlockungen der Macht.

Wir bitten in Demut: Führe uns nicht in Ver­suchung; schütze uns vor den Wünschen, die unsere Seele vergiften, laß uns in der bittersten Not auf keine Hilfe hoffen als auf die Deine! Es ist ein Weg, wo wir keinen sehen; der Herr Selbst ist der Weg; hilf uns, daß wir ihn nicht verlassen. Denn der Versucher ist tausendmal stärker als wir; aber Dein Sohn hat ihn besiegt, und nur über die Demut, die Dein Sohn uns ge­lehrt, wird der Versucher keine Macht erlangen.

SONDERN ERLÖSE UNS VON DEM ÜBEL

Der Versucher, dessen Wesen die Verneinung ist, verspricht ein Gut, vor allem ein Werk, eine Tat; die Verneinung kleidet sich in den Schein der Bejahung; die Ordnung des Him­mels findet in der Tiefe ihr Spiegelbild in einer Ordnung, deren bindende Kraft nicht die Liebe, sondern der Haß ist. Die Liebe schuf die Welt, um auf sie überzuströmen; der Haß ist nur der Einspruch gegen das Sein, der Zwang nur die Verneinung der Freiheit. Das Böse in unserem Herzen ist die Verneinung der Liebe und der Haß auf sie. Wie das Gebet des Herrn mit dem Namen des Vaters begann, in dem alle Liebe beschlossen ist, so rufen die letzten Worte noch einmal die Liebe an; eine jede Bitte war an die Liebe des Vaters gerichtet als eine Bitte um eine besondere Verwirklichung dieser Liebe in unserem Leben und in der Welt; eine jede Bitte war auch eine Antwort und ein Gelöbnis. Geht von unserem Herzen eine reine Kraft aus, so wird die Kraft von oben ihr antworten, und unter beiden Kräf­ten wird sich unser Sein und Leben verwandeln; indem wir preisen und bitten, danken und ge­loben, erneuern und reinigen sich unser Leben und unser Herz. So können wir die letzte Bitte sprechen: Mach uns frei. Laß uns aufs neu zu Deinen Kindern werden und keine Macht in uns und über uns walten als die Deine! Nimm das ganze Gewicht, das durch den Abfall auf uns ge­kommen ist, von unsern Schultern; so wird Dein Name geheiligt werden und Dein Reich kommen, wird auf Erden ebenso Dein Wille geschehen wie im Himmel, werden wir leben vom täglichen Brote, das Dein Sohn uns reicht, von Seinem heiligen Leibe und Seinem Wort, werden wir, nachdem wir Vergebung erlangt haben, auch unsern Schuldigem vergeben und, da wir die ganze Fülle Deiner Gnade empfangen haben, nur um so inbrünstiger und demütiger flehen, daß Du uns nicht in Versuchung führen mögest. Um Er­lösung können wir nur bitten im Glauben an den Sohn und Seine Opfertat, im Vertrauen auf Seine in den Sakramenten lebende Macht. Aber was wäre ein Glaube, der nicht tun, nicht nachfolgen wollte? So laß unser Leben zum Opfer wer­den, wie das Leben des echten Priesters ein Opfer ist, und wie das der Erwählten aus dem eigenen Da­sein hinübergeschwunden ist in das Leben unseres Herrn. Wir sind weit von ihnen getrennt; aber auf jeder Stufe sollte das Opfer wieder geschehen; dann würden die Menschen verbunden sein in Christus; wo ein Opfer geschähe, wäre Er gegen­wärtig, die Freiheit der Kinder Gottes wäre mehr als das Gesetz, und das Dasein der Menschen würde sich ordnen unter der alldurchstrahlenden Liebeskraft des Herrn. Dein Reich ist immer nahe; als ein Reich des Opfers bräche es an. Das ist ja Dein Reich, wo der Herr handelt in uns, an unserer Statt.

Wir bitten in dieser uns zugemessenen Stunde, die schwerer scheinen könnte, als die Lebenszeit vorangegangener Geschlechter war. Vielleicht aber ist es eine gesegnete Zeit. Die Höhe und die Tiefe grenzen sich wieder voneinander ab; die Schuld geht uns auf in unserem eigenen Leben; so wer­den wir endlich bereit, sie anderen zu vergeben, und wir gelangen vor das Reich der Liebe. Der Versucher glaubt, daß seine Stunde gekommen sei; wir hören seine Sprache und lernen sie unterschei­den und verstehen. Wir leiden so tief, daß wir die eigentliche Gestalt des Leidens endlich wieder erkennen: es ist das Kreuz. Vielleicht sollen die Widersprüche dieser Stunde nur das Kreuz bil­den, das uns retten wird. Es ist Deine Stunde, und Dein Auge ruht vielleicht auf Heiligen, die im verborgenen leben. Erlöse uns von dem Übel, er­löse sie alle, alle, nimm niemanden aus in Deiner Barmherzigkeit, auch diejenigen nicht, an deren Widerspruch Dein Reich offenbar wird. In unse­rem Dasein haben sie schon Deinem Reiche ge­dient. Laß sie dem Lichte begegnen, sei es in diesem, sei es in jenem Leben; das Gnadenschick­sal dieser Not und Gefahren hat uns auf eine Weise verbunden, die wir nicht durchschauen. Du siehst Schuld und Recht; aber Gebet und Fürbitte und das Opfer haben keine andere Grenze als den Gerichtstag. Wir sind angewiesen auf die Bitten aller und wir möchten am innigsten für diejenigen beten, denen das Gebet unter der Gewalt der Stunde im Herzen erstarb. Erbarme Dich derer, die diese Stunde ahnen, und derer, die sich ihr verschließen; erbarme Didi derer, die an der Schwelle Deines Reiches in dieser schrecklichen Stunde des Gerichts und des Segens gestorben sind.

AMEN.

Quelle: Reinhold Schneider, Das Vaterunser, Graz-Wien: Styria Steirische Verlagsanstalt, ohne Jahr [1948].

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