Immanuel Kant über das Gebet aus seinem schriftlichen Nachlass: „Daher kommt es auch, daß Derjenige, welcher schon große Fortschritte im Guten gemacht hat, aufhört zu beten; denn Redlichkeit gehört zu seinen ersten Maximen — ferner, daß diejenigen, welche man beten findet, sich schämen. In den öffentlichen Vorträgen an das Volk kann und muß das Gebet beibehalten werden, weil es wirklich rhetorisch von großer Wirkung seyn und einen großen Eindruck machen kann.“

Da mag man als Theologe ganz anderer Meinung sein:

Vom Gebet

Von Immanuel Kant

Dem Gebete andere als natürliche Folgen beizulegen, ist thöricht und bedarf keiner ausführlichen Widerlegung; man kann nur fragen: Ist nicht das Gebet seiner natürlichen Folgen wegen beizubehalten? Zu diesen natürlichen Folgen zählt man, daß durchs Gebet die in der Seele vorhandenen dunkeln und verworrenen Vorstellungen deutlicher gemacht, oder ihnen ein höherer Grad der Lebhaftigkeit ertheilt werde, daß es den Beweggründen zur Tugend dadurch eine größere Wirksamkeit ertheilt u. s. w.

Hierbei ist nun erstlich zu merken, daß das Gebet aus den angeführten Gründen doch nur subjectiv zu empfehlen ist; denn Derjenige, welcher die vom Gebete gerühmten Wirkungen auf eine andere Weise erreichen kann, wird dasselbe nicht nöthig haben. — Ferner lehrt uns die Psychologie, daß sehr oft die Auseinandersetzung eines Gedanken die Wirkung schwächt, welche derselbe, da er noch im Ganzen und Großen vorhanden, wenngleich dunkel und unentwickelt war, hervorbrachte. Aber endlich ist auch bei dem Gebete Heuchelei; denn der Mensch mag nun laut beten, oder seine Ideen innerlich in Worte auflösen, so stellt er sich die Gottheit als etwas vor, das den Sinnen gegeben werden kann, da sie doch blos ein Princip ist, das seine Vernunft ihn anzunehmen zwingt. Das Daseyn der Gottheit ist nicht bewiesen, sondern es wird postulirt, und es kann also blos dazu dienen, wozu die Vernunft gezwungen war, es zu postuliren. Denkt nun der Mensch: Wenn ich zu Gott bete, so kann mir dies aus keinen Fall schaden; denn ist er nicht, nun gut, so habe ich des Guten zuviel gethan; [638] ist er aber, so wird es mir nützen; so ist diese Prosopopöia Heuchelei, in­dem beim Gebet vorausgesetzt werden muß, daß Derjenige, der es ver­richtet, gewiß überzeugt ist, daß Gott existirt. Daher kommt es auch, daß Derjenige, welcher schon große Fortschritte im Guten gemacht hat, aufhört zu beten; denn Redlichkeit gehört zu seinen ersten Maximen — ferner, daß diejenigen, welche man beten findet, sich schämen. In den öffentlichen Vorträgen an das Volk kann und muß das Gebet beibehalten werden, weil es wirklich rhetorisch von großer Wirkung seyn und einen großen Eindruck machen kann, und man überdies in den Vorträgen an das Volk zu ihrer Sinnlichkeit sprechen und sich zu ihnen so viel wie möglich herablassen muß.

Quelle: Kants gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. XIX (Kant’s handschriftlicher Nachlaß, Band VI: Moralphilosophie, Rechtsphilosophie und Religionsphilosophie), Berlin-Leipzig: Walter de Gruyter, 1934, S. 637f.

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