Otto Mörikes „Nein“ zur Politik Hitlers bei der Wahl 1938: „Den Kampf gegen die Kirche und den christlichen Glauben, sowie die Auflö­sung von Recht und Sittlichkeit halte ich für ein Beginnen, das den Fluch Gottes und damit das Verderben unseres Landes nach sich ziehen muss. Im Kampf um und gegen das Recht und den Glauben unsrer Väter wird sich das Schicksal unseres Volkes entscheiden. Da ich aber in diesem Kampf niemals mit der derzeitigen unseligen Haltung von Partei und Staat einig gehen kann, kann ich auf die 2. Wahlfrage nur mit einem schmerzlichen, aber entschiedenen Nein antworten.“

Otto Mörike war es, der meine Großmutter Hilde, geborene Stübel, mit meinem Großvater Lothar Teuffel in Schramberg bekannt gemacht hatte. Mörike war auch mit Pfarrer Karl Steinbauer befreundet, dem ein Jahr später in meiner Heimatgemeinde Senden/Iller Ähnliches wiederfuhr:

Otto Mörikes „Nein“ zur Politik Hitlers bei der Wahl 1938

Bei der Abstimmung am 10. April legten Pfarrer Otto Mörike, Kirchheim/ Teck, folgende Erklärung ohne Unterschrift in den Wahlumschlag[1]:

Zur Wahl vom 10. April 1938

Obwohl es mir schwerfällt, mich an dieser Wahl überhaupt zu beteili­gen, nachdem es bei der letzten Wahl vom 29.3.1936 offensichtlich nicht mit rechten Dingen zuging, so möchte ich doch die Gelegenheit nicht vor­übergehenlassen, auch auf die Gefahr hin, daß diese Erklärung dieselbe Bewertung erfährt wie seinerzeit die leeren Stimmzettel, und erkläre Fol­gendes:

Auf die 1. Frage »Bist du mit der am 13.3.1938 vollzogenen Wiederver­einigung Österreichs mit dem Deutschen Reich einverstanden?« antworte ich mit Ja.

Auf die 2. Frage »Stimmst du für die Liste unsres Führers Adolf Hit­ler?« antworte ich mit Nein.

Der Führer sagte in seiner Rede vom 18. vorigen Monats[2]: »Das deut­sche Volk soll in diesen Tagen noch einmal überprüfen, was ich mit meinen Mitarbeitern in den 5 Jahren seit der ersten Wahl des Reichstags im März 1933 geleistet habe.« Dieser Aufforderung des Führers gebe ich statt und komme nach gewissenhafter Überprüfung des vom Führer und seinen Mitarbeitern in den letzten 5 Jahren Geleisteten zu folgender Stellung­nahme: Vieles Große ist in dem genannten Zeitraum geleistet worden, besonders auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet, wie es zuletzt noch vom Führer selbst in seiner Rede vom 20. Februar[3] aufgezählt und aufge­zeigt worden ist. Ich anerkenne das mit Dank gegen Gott. Aber daneben steht, Gott sei’s geklagt!, anderes, was mich und mit mir nicht wenige aufrechte deutsche Männer und Frauen mit großer Sorge um die Zukunft unsres Volkes erfüllt und wozu ich unmöglich Ja sagen kann. Es ist dies im wesentlichen Zweierlei: 1. Die Auflösung von Sittlichkeit und Recht; 2. Die Zerstörung der Kirche und die Entchristlichung unsres Volkes.

Zu 1.

Als gut, recht und wahr wird heute proklamiert und praktiziert, was dem Volke nützt. Wohin dieser Grundsatz führt, kann an vielen erschüt­ternden Beispielen deutlich gemacht werden, so zum Beispiel an der Ein­führung der »Deutschen Schule« in unsrem Land und anderswo, wo man sich, so besonders in der Saarpfalz und im bayrischen Franken, nicht scheute, zu allen, auch den verfänglichsten Mitteln zu greifen, auch zu Lug und Trug, nur eben, um den angestrebten Zweck zu erreichen; ferner an der Art, wie seit Jahren offiziell der Kirchenstreit dargestellt wird, was auf eine völlige Irreführung des Volkes hinausläuft, ferner an der Behand­lung der evang. Presse und des evang. Versammlungswesens, an der Ver­kehrung des Begriffes der Freiwilligkeit in sein Gegenteil anläßlich von Sammlungen und von Werbungen zum Eintritt in Organisationen usw. An diesen wenigen Beispielen, die beliebig vermehrt werden könnten, wird deutlich, wie hier eine völkische Nützlichkeitsmoral die in Gottes Gebot geforderte Wahrhaftigkeit aufhebt.

Ferner: Deutschland bezeichnet sich selbst als Rechtsstaat. Wie geht damit zusammen, daß es immer noch Konzentrationslager gibt und daß die Maßnahmen der Geheimen Staatspolizei jeder richterlichen Nachprü­fung entzogen sind? Wohin soll es führen, wenn entgegen dem klaren Gerichtsurteil, das in der Sache von Pfarrer Niemöller gefällt wurde und das Niemöller freigab, von allerhöchster Stelle die Verbringung dieses Mannes, der ein ganzer Deutscher, ein ganzer Christ, ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle ist, ins Konzentrationslager verfugt und Niemöller, der Vorkämpfer der Bekennenden Kirche, damit zum gefährlichen Volks­schädling gestempelt wurde? Das ist Rechtsbeugung und klares Unrecht; solches Handeln gefährdet die Würde Deutschlands als eines Rechts­staates.

Zu 2.

Die Zerstörung der Kirche und die Entchristlichung unseres Volkes wird planmäßig auf alle mögliche Weise betrieben. Bei der weltanschauli­chen Ausrichtung der Partei und ihrer Organisationen, besonders in deren Schulungslagern nimmt der oft aufs gehässigste geführte Kampf gegen Kirche und Christentum bekanntermaßen einen breiten Raum ein. Auch die Schule wird heute weithin zu diesem heillosen Kampf mißbraucht. Dazuhin erfahren Lehrer, die sich zur Kirche halten und sich zum christli­chen Glauben bekennen, entgegen allen feierlichen Versicherungen von maßgebender Stelle, daß niemand um seines Glaubens und seiner kirchli­chen Zugehörigkeit willen Schaden in seinem Amt leiden soll, — eine »Son­derbehand­lung«. Die Inhaftierung von über 800 evang. Pfarrern und Gemeindegliedern im Jahre 1937, meist ohne gerichtliche Handhabe, die zahlreichen Ausweisungen, Redeverbote und sonstigen Maßregelungen, die über Pfarrer, Gemeindeglieder und ganze Gemeinden der Bekennen­den Kirche hin und her im ganzen Reich verhängt wurden und noch ver­hängt sind, machen jedem Einsichtigen deutlich, daß es sich hier nicht mehr nur um bedauerliche Entgleisungen untergeordneter Instanzen, sondern um eine von Partei und Staat selbst gewollte und systematisch durchgeführte Zerstörung der Kirche und Entchristlichung des Volkes handelt.

Wenn ich zusammenfasse, komme ich zu dem Urteil: Dies beides, den Kampf gegen die Kirche und den christlichen Glauben, sowie die Auflö­sung von Recht und Sittlichkeit halte ich für ein Beginnen, das den Fluch Gottes und damit das Verderben unseres Landes nach sich ziehen muß. Im Kampf um und gegen das Recht und den Glauben unsrer Väter wird sich das Schicksal unseres Volkes entscheiden. Da ich aber in diesem Kampf niemals mit der derzeitigen unseligen Haltung von Partei und Staat einig gehen kann, kann ich auf die 2. Wahlfrage nur mit einem schmerzlichen, aber entschiedenen Nein antworten.

Wegen dieser Erklärung wurde Pfr. Mörike noch am 10. April nachts mißhandelt und verhaftet. Dazu die Mitteilung der Bekenntnisgemeinschaft vom 12.4.1937.

Pfarrer Mörike in Kirchheim, der weit über seine Gemeinde hinaus als unerschrockener Zeuge des Evangeliums und als aufrechter deutscher Mann bekannt ist, hatte sich angesichts der bevorstehenden Wahl nach langer, gewissenhafter Überlegung entschlossen, bei der Abstimmung eine schriftliche Erklärung abzugeben.

In dieser Erklärung war das Ja zum Großdeutschen Reich ausgespro­chen. Ebenso wurden die großen Erfolge der nationalsozialistischen Staatsführung, insbesondere auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet mit Dank gegen Gott anerkannt. Im Blick auf die weltanschaulichen Kämpfe und die Entchristlichung unseres Volkes sowie auf die Rechtsun­sicherheit und die Erschütterung der moralischen Grundlagen durch den Satz »Recht ist, was dem Volk nützt« sah er sich aber in bezug auf die zweite Wahlfrage zu einem schmerzlichen, aber entschiedenen Nein veranlaßt. Diese Erklärung wurde von ihm ohne Unterschrift, wie es einer geheimen Wahl entspricht, im vorgeschriebenen Wahlumschlag abgege­ben. Mörike hat diesen Schritt, zu dem er sich durch die an ihn gerichtete Frage verpflichtet wußte, in rein persönlicher Entscheidung vollzogen, ohne andere in seinem Sinn zu beeinflussen. Auch aus der rein biblisch gehaltenen Predigt an diesem Sonntag konnte seine Stellungnahme zur Wahl nicht entnommen werden.

Am Sonntagabend fand in einem Kirchheimer Gasthaus eine Zusam­menkunft von Angehörigen der Partei und der Organisationen statt, bei welcher der Abschied des Ortsgruppenleiters und der Wahlsieg gefeiert wurden. In dieser Versammlung wurde die Erklärung Mörikes öffentlich verlesen. Gegen 11 Uhr erschien dann der Stationskommandant bei Mörike, um ihn über die Erklärung zu vernehmen. Mörike berief sich auf das Wahlgeheimnis, stellte aber die Urheberschaft nicht in Abrede. Gegen 12 Uhr hörte man Männer im Marschschritt herankommen. Sprechchöre riefen: »Wir wollen den Verräter sehen!« — »Pfui!« — »Heraus mit dem Hund!« — »Verhauen!« und ähnliches. Die Haustüre wurde eingetreten. Eine Schar von Uniformierten brach ins Pfarrhaus ein und drang bis ins Schlafzimmer vor, wo Mörike sich eben ankleidete, während seine Frau, die schon seit Wochen immer wieder liegen muß, im Bette lag. Mörike bat, sie möchten um seiner Frau willen das Zimmer verlassen. Im Zimmer nebenan fielen sie dann über ihn her. Blutig geschlagen und mit zerrisse­nem Hemd kehrte er nach einiger Zeit ins Schlafzimmer zurück, um sich auf Befehl der inzwischen eingetroffenen Polizei anzukleiden. Als er abge­führt wurde, sagte einer der Anwesenden zu Frau Mörike: »Den sehen Sie nicht mehr!« Unter großem Lärm, in dem nur noch durch Pfeifensignale einige Ordnung hergestellt werden konnte, wurde Mörike dann ins Ge­fängnis abgeführt. Dabei haben sich die Mißhandlungen wiederholt. Die Kleidungsstücke, die Mörike bei diesem Gang trug, wurden tags darauf beschmutzt und zerrissen zurückgeschickt.[4]

Mörike ist inzwischen in das Polizeigefängnis nach Stuttgart überführt worden.

Quelle: Gerhard Schäfer (Hrsg.), Die Evangelische Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus. Eine Dokumentation zum Kirchenkamp, Band 5: Babylonische Gefangenschaft 1937-1938, Stuttgart, Calwer Verlag, 1982, S. 936-940.


[1] LKA Stuttgart, D 1, Bd. 76.

[2] Hitler am 18.3.1938 vor dem Reichstag in Berlin (Domarus I, S.826—832).

[3] Hitler am 20.2.1938 vor dem Reichstag in Berlin (Domarus I, S. 792-804).

[4] Der Entwurf des Berichts hat ab hier folgenden Wortlaut: »Diejenigen, die das Wahlge­heimnis auf übelste Weise gebrochen, Hausfriedensbruch schwerster Art begangen, einen Wehrlosen mit etwa dreißigfacher Übermacht überfallen und in seiner eigenen Wohnung, in der Nähe von Frau und Kindern, feige mißhandelt haben, sind nach wie vor in Freiheit. Der Überfallene befindet sich in Stuttgart in Haft.«

[5] LKA Stuttgart, D 1, Bd. 76. Vgl. auch die Denkschrift von Pfr. Mörike »Über die Kirchheimer Vorgänge vom 10. April 1938 und deren Folgen« vom 23.4.1938 (LKA Stuttgart, D 1, Bd.98).

Hier der Text als pdf.

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