In seinen Lebenserinnerungen aus dem Jahr 1983 schrieb der fränkische Pfarrer Walter Höchstädt (1907-1994) über seine Zeit als Wehrmachtspfarrer in der Ukraine: „Zu Ostern [1942] hat Landesbischof Meiser den im Felde stehenden Amtsbrüdern wieder, wie schon öfters, einen seelsorgerlichen Hirtenbrief gesandt. Diesem Schreiben legte er ein Heftchen von Hanns Lilje bei, betitelt ‚Der Krieg als geistige Leistung‘ (ersch. Im Furcheverlag Berlin). Dieses Schriftchen hat mich damals so maßlos erregt, daß ich es nach der Lektüre zerfetzte und in den Papierkorb warf. Hanns Lilje, welchen ich vom Kirchenkampf von verschiedenen Veröffentlichungen her kannte und den ich als einen Mann der BK mit kühlem Kopf einschätzte, handelt hier das Thema ‚Krieg‘ ab, wie eine mathematische Gleichung. […] Wie konnte er im Jahr des Rußlandfeldzuges diese Schrift schreiben? Wer sollten die Leser sein? Wollte er den Brüdern, die in verzweifelter Lage hin und hergerissen waren, ein gutes Gewissen geben? Oder wollte er den Leuten in Partei und Staat beweisen, daß auch die Bekennende Kirche sich zu diesem Krieg bekennt, also ein Alibi gegenüber der Gestapo, mit der auch er ja zu tun gehabt hat? Was hätten übrigens seine Freunde aus der Ökumene, mit denen er einst durch die christliche Studentenbewegung usw. Kontakt hatte, gesagt, wenn sie damals diese seine Schrift in die Hand bekommen hätten? Hätte er ihnen das Heft dedizieren können? – Wir in unserem Theologenkreis in Dniepropetrowsk waren einhellig einer Meinung: So geht das nicht, so kann man nicht reden.“ (Walter Höchstädter, Durch den Strudel der Zeiten geführt, Erlangen-Bubenreuth: Selbstverlag 1983, S. 207–208).
Der Krieg als geistige Leistung
Von Hanns Lilje
1.
Es soll hier nicht von den Fragen die Rede sein, die der Krieg dem Geschichtsphilosophen stellt. Er kann freilich nicht an ihnen vorüber; denn wo enthüllte sich deutlicher sein Gesamtverständnis vom Geschehen als angesichts des Krieges! Der Krieg deckt mit einer brutalen Plötzlichkeit und grellen Deutlichkeit die verborgenen Quellen und Gründe des geschichtlichen Lebens auf; er legt jene ursprünglichen Triebkräfte bloß, die das geschichtliche Schicksal der Völker formen und die, solange die Zeit im friedlichen Gleichmaß geht, so leicht mit allerlei ideologischen Hüllen der verschiedenartigsten weltanschaulichen Herkunft zugedeckt werden. Er ist wie das Wetterleuchten der Geschichte, das für einen Augenblick ihre Geheimnisse sichtbar macht. Max Scheler hat das in der Sprache der Philosophen so ausgedrückt, daß er von der „erkenntnisdisponierenden Bedeutung des Krieges für absolute Wirklichkeiten“[1] sprach.
Es besteht also für den Geschichtsphilosophen Anlaß genug, über den Krieg nachzudenken als über jene Stelle, in der sich das geschichtliche Leben der Völker aus dem Dunkel geheimnisvoller Hintergründe heraus in der überhellen Deutlichkeit eines Scheinwerfers sammelt.
Nur sollte er sich seine Aufgabe nicht so unzulässig erleichtern, daß er einfach den Krieg als das Urprinzip alles geschichtlichen Lebens darstellt. Die Vorstellung, daß der Krieg sozusagen das schöpferische Prinzip der Geschichte schlechthin sei, erweist sich bei näherer Prüfung als unzulänglich. In ihrer Verallgemeinerung ist sie einfach falsch. Es hat genug Kriege gegeben, deren zerstörende Wirkung größer war als alles, was sie etwa geschaffen haben. Oder wäre ein Zweifel darüber möglich, daß man etwa von den schöpferischen Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges doch nur in sehr übertragenem Sinne reden kann?[2] Man kann eben auch von dem Satz des Heraklit „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ nicht jenen unbefangenen, fast naiven Gebrauch machen, den sich mancher erlaubt. Im Munde des alten griechischen Philosophen hatte dieser Gedanke noch eine Bedeutung, die er angesichts unserer realistischen Einsicht heute nicht mehr haben kann. Dort bedeutet er einen aristokratischen, fast ästhetischen Gedanken, nämlich das Ordnungsprinzip der Geschichte. Der „Krieg“ ist bei Heraklit der agōn der Griechen, das nach festen Regeln sich vollziehende Kampfspiel, höchste Anstrengung und höchste Schönheit harmonisch vereinend[3]. Wenn man aber den Unterschied zwischen diesem ästhetischen Ordnungsprinzip der Geschichte und unserem heutigen realistischen Geschichtsdenken illustrieren will, muß man diesen Satz Heraklits etwa mit den Einsichten der Reformatoren in das Wesen der Geschichte vergleichen. Für Luther ist der Krieg „Gottes Werk“ – in demselben Sinne, in dem Größe und Grauen der Geschichte Gottes Werk heißen und in dem alle Geschichte gleicherweise Zeichen seiner Gnade wie seines Zornes ist. Bom Kriege wird im Sinne der Reformatoren gelten dürfen, was Luther einmal über das Wesen der Geschichte überhaupt sagt: „Darin man auch wohl sehen kann Gottes Werk, wie wunderlich er die Menschenkinder regieret, und wie gar böse der Teufel ist und seine Glieder, damit wir lernen, Gott fürchten und seinen Rat und Hilfe suchen“[4]. Erst auf dem Hintergrunde dieser realistischen Erkenntnis vom Wesen des Krieges kann man zu den positiveren Gedanken weiter schreiten. Schöpferisch ist der Krieg nur in dem Sinn, daß er Teil aus Gottes Wirken ist, und Gottes Wirken kann darin bestehen, daß er dem Neuen Raum schafft, indem er Altes der Zerstörung anheimfallen läßt. Der Krieg kann also seinen Sinn nicht in den zerstörenden Wirkungen haben, die er notwendigerweise auslöst, sondern er wird aus den großen Zusammenhängen des Geschichtslaufs je und je notwendig, um einer neuen geschichtlichen Ordnung Raum zu schaffen. Darin, daß der Krieg dem Werden einer neuen geschichtlichen Ordnung dient, besteht seine Würde. Der Grundsatz Heraklits erreicht diese Erkenntnis gar nicht wirklich; er spricht nur von der Ordnung eines in sich ruhenden und in sich abgeschlossenen Geschehens.
Aus diesen großangelegten, tiefverstandenen Einsichten der Reformation in das Wesen des Krieges und seinen Zusammenhang mit Gottes Wirken in der Geschichte kann denn auch tatsächlich so etwas wie die Würde des Krieges begriffen werden. Aber nur hier. Wenn der Krieg nicht in der strengsten möglichen Weise an diesen hintergründigen, metaphysischen Zusammenhang mit Gottes Wirken gebunden bleibt, kann er nur chaotisch wirken.
Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die großen geistigen Väter des Preußentums in dieser Unterscheidung der Linie der Reformatoren folgen. Ein Denker wie Clausewitz kann zu gleicher Zeit das eigentliche Gesetz des Krieges furchtlos und realistisch anschauen und dennoch die geistigen und moralischen Bindungen als seine wesentlichste Voraussetzung beschreiben. Er weiß, daß das oberste Gesetz des Krieges Gewalt heißt und daß es für ihre Anwendung keine Grenze geben darf; der Gedanke, es könne „in die Philosophie des Krieges ein Element der Mäßigung hineingetragen werden“, ist für ihn eine „Absurdität“[5]. Aber er weiß zugleich auch, daß „die moralischen Größen … zu den wichtigsten Gegenständen des Krieges gehören“; die physischen Voraussetzungen des Krieges sind „nur wie das hölzerne Heft, während die moralischen das edle Metall, die eigentliche, blank geschliffene Waffe sind“[6]. Diese grundsätzliche Bindung hat das gesamte Preußentum durchgängig bestimmt. Wie Clausewitz sind auch alle andern geistigen Väter des Preußentums gewiß keine Romantiker des Krieges gewesen; das Bild des preußischen Soldatentums war für sie weder der beutesüchtige Söldner noch der abenteuernde, verwegene Landsknecht, sondern der Soldat des Volksheeres. Das aber ist eine Unterscheidung, die tiefreichende geistige Wurzeln hat. Verwegen und tollkühn mögen auch Söldner und Landsknechte sein; aber wahrhaft tapfer sind sie nicht. Denn die Tapferkeit muß eine Probe bestehen können, die Söldner und Landsknechte in der Regel nie bestehen und die Clausewitz in einer brieflichen Äußerung über den von ihm hochverehrten Scharnhorst einmal in das Lob kleidet, „daß sein Mut an der Klippe des Unglücks nicht scheiterte“[7]. Diese Probe besteht aber auch der Romantiker des Krieges nie. Darin liegt einer von unzähligen Beweisen dafür, wie fest unter den geistigen Vätern des Preußentums die Erkenntnis begründet war, daß der Krieg eine geistige Leistung ist, deren Vorbedingungen über alle nur physischen Voraussetzungen weit humusreichen. Der Krieg ist weder eine Katastrophe, die mit naturgesetzlicher Wucht über ein Volk hereinbricht, noch auch einfach das schöpferische Prinzip der Geschickte; sondern er ist die zusammengeballteste Form, unter der ein Volk seinem geschichtlichen Schicksal begegnet. Und eine Nation, die in eine solche Schicksalsstunde gerät, muß wissen, mit welchen Kräften sie ihr begegnen will.
2.
An dieser Stelle wird sichtbar, was der Krieg für das Schicksal des einzelnen bedeutet. Es handelt sich hier um eine Erkenntnis, die für die geistige Gesamtleistung des Krieges von entscheidender Bedeutung ist.
Denn obwohl „auch der Krieg der Tendenz zur Massenbildung folgte“[8], ist doch gerade das Schicksal des einzelnen in ihm keineswegs untergegangen. Im Gegenteil – auf eine ganz bestimmte Weise wird der einzelne gerade im Kriege wieder dem Prozeß der Vermassung entnommen, der das technische und zivilisatorische Leben überdeckt, und wird noch einmal wieder zum einzelnen.
Im vollen geschichtlichen Sinne scheint das nur auf den großen Feldherrn zuzutreffen. Er denkt, plant, entscheidet, handelt; und wenn im groß angelegten Feldzug das stürmische Geschehen nach vorbedachtem Plan abrollt und Schlag auf Schlag in atemberaubendem Zuge geschichtsgestaltende Entscheidungen fallen, dann mag der Feldherr eine Höhe der Lebensleistung spüren, die nur wenigen widerfährt. Aber noch jeder Offizier, der mit irgendeiner Verantwortung an dem Gesamtplan beteiligt ist, hat an dieser Erfahrung seinen – wenn auch begrenzten – Anteil[9].
Aber auch, wer im Kriege von persönlicher Verantwortung, Entscheidung und Gestaltung wenig zu spüren scheint, erfährt doch in einer tiefgreifenden und aufrüttelnden Weise sein Schicksal. Mit einem Schlage steht plötzlich sein eigenes Leben in dem Lichtkegel großer geschichtlicher Entscheidungen, und mit blitzartiger Deutlichkeit werden ihm selber daran die Hintergründe seines eigenen Lebens deutlich – aus welchen Fundamenten heraus lebt er überhaupt? Hat er überhaupt Fundamente, die sich jetzt bewähren und das Gebäude seines Lebens zu tragen fähig sind?
Man kann diesen Sachverhalt am besten an einer Erfahrung verdeutlichen, die mir aus dem vorigen Weltkriege in der Erinnerung am lebendigsten geblieben ist. Das eigentliche Fronterlebnis bestand darin, daß man fortgesetzt eine Handbreit vom Tode lebte. Durch diesen Tatbestand wurden mit mächtiger Hand die Perspektiven zurechtgerückt, nach denen das eigene Leben und das eigentlich Wesentliche daran beurteilt werden mußten. Und diese Umwertung schuf jene unvergeßliche Distanz, die uns der eigenen bürgerlichen Vergangenheit als einer völlig fremden Angelegenheit gegenüberstehen ließ. Lebensgewohnheiten, Denkschemata und Vorurteile, die im Alltag allmächtig zu sein schienen, hatten plötzlich keine Gewalt mehr. Denn nur, was noch im Angesichte des Todes Bestand hat, ist wert, Inhalt des Lebens zu sein.
Das ist nun freilich eine Erkenntnis, die dem Menschen auch im friedlichen Lebenszusammenhange aufgehen könnte. Aber es gehört zu den alltäglichen Erfahrungen, daß dem Menschen diese Erkenntnisse durch das friedliche Leben fortgesetzt verhüllt werden, ja, daß er sie sich offensichtlich gern verhüllen läßt. Die Bedeutung des eigentlichen Kriegserlebnisses besteht demgegenüber darin, daß ihm dieser wesentliche Tatbestand wieder unweigerlich enthüllt wird[10]. Im bürgerlichen Leben widerfährt ihm nur selten ein Anruf aus dieser hintergründigen Welt, etwa wenn ein ihm nahestehender Mensch plötzlich stirbt oder wenn seine Existenz plötzlich bedroht ist. Durch den Krieg erfährt er auf eine ganz unüberhörbare Weise, daß die elementare Bedrohung seiner Existenz immer da ist und ihn ständig ausfordert, den Mut zum gefährlichen Leben aufzubringen. Insofern ist das „Leben eine Handbreit vom Tode“ nur die plötzlich und fast übermenschlich erhellte Grundsituation des Menschen überhaupt. „Die Stunden und geschichtlichen Wirklichkeiten seines Schicksals wählt der Mensch sich nicht selbst. Sie sind ihm vorgegeben, und ihm bleibt nur die Aufgabe, damit fertig zu werden“[11]. Das erfährt er nirgendwo so deutlich wie im Kriege.
Es ist denn auch nicht geraten, an dieser Aufgabe mit hurtiger Hand vorüberzugehen. Diese Erkenntnisse verbieten eine leichte Glorifizierung der kriegerischen Situativ». Bekanntlich hat der Frontsoldat des letzten Weltkrieges für nichts so wenig Verständnis gehabt wie für einen bestimmten Typus Heldenverehrung auf Seiten der Daheimgebliebenen. Es gibt einen „Heroismus“, der anscheinend seine Kraft daraus zieht, daß er diese wesentlichsten Fragen gerade nicht anschaut. Er ist natürlich im Ernstfall – und was wäre Ernstfall, wenn nicht der Krieg?! – völlig nutzlos. Die eigentliche geistige Pflicht, die der Krieg auflegt, heißt demgegenüber viel nüchterner, aber auch viel größer: „den Krieg zu ertragen, ohne an ihm zu verderben“[12]. Nur der Tor kann behaupten, daß dies eine einfache Aufgabe sei. Sie setzt eine eminente geistige Leistung voraus. Der Krieg fordert gerade auch von dem einzelnen ein Höchstmaß persönlichen, charakterlichen, geistigen Einsatzes, besten Voraussetzungen niemals erst im Kriege selbst geschaffen werden können. Im persönlichen und geistigen Leben des einzelnen ist der Krieg fast niemals schlechthin schöpferisches Prinzip. Hier heißt seine entscheidende Bedeutung vielmehr: Bewährung.
So wenig ein großangelegter strategischer Plan für den Feldzug erst in dem Augenblick entworfen werden kann, wo er abrollen soll, so wenig kann das Fundament für die durch den Krieg geforderte geistige Leistung des einzelnen erst angesichts der Kriegssituation gelegt werden. Aber es gilt auch die andere Seite dieses Vergleichs: So gewiß der Feldzug mehr ist als die mathematisch genaue Repetition einer zu Hause erdachten strategischen Aufgabe, sondern so gewiß die Übertragung dieses Planes in die Wirklichkeit immer einen schöpferischen Akt von höchster Konzentration darstellt, so ist auch für den einzelnen die Bewährung im Kriege eine geistige Leistung von höchstem Range.
Diese Leistung besteht ganz einfach in der Bewährung alles dessen, was dem Menschen den Kampf seines Lebens überhaupt möglich macht. Da wir hier nicht unverbindliche Spekulationen vorzutragen haben, kann es auch nicht unsere Aufgabe sein, in scheinbarer Objektivität zu untersuchen, welche verschiedenen Möglichkeiten etwa für den Menschen gegeben sind, wenn er diesen Kampf seines Lebens überhaupt und dann unter der besonderen Bedrohung durch den Krieg bestehen will. Sondern wir können hier nur sehr deutlich davon reden, daß es nach dem Zeugnis des christlichen Glaubens für den Menschen nur dann möglich ist, diesen Kampf zu bestehen, wenn er weiß, wie sein Weg an Tod und Teufel vorüberführen kann. Es ist die Situation jenes großen Dürerschen Stiches, auf dem der Ritter an Tod und Teufel vorüberreitet. Hat der Mensch aber begriffen, daß sein Lebensweg tatsächlich – und nicht nur zuweilen-an diesen beiden vorüberführt, dann weiß er, daß er im Ernstfall nicht mit einem Heroismus bestehen kann, dessen Kraft nur darin bestünde, an diesen beiden hintergründigen Gegebenheiten seines Lebens vorbeizusehen. Wenn er recht kämpfen soll, muß er wissen, wie er recht leben und wie er recht sterben kann. Dazu aber muß er diesen beiden, dem Tode und dem Teufel, gerade und furchtlos ins Auge schauen können. Prüft er aber sein Leben unter den Augen Gottes daraufhin, dann weiß er, daß es eine Täuschung ist, zu meinen, der Mensch könne mit beiden in eigener Kraft fertig werden, sondern daß er dazu der Gnade Jesu Christi bedarf. Es ist doch wirklich mehr als eine zufällige altmodische Angelegenheit und geistesgeschichtliche Rückständigkeit, wenn fast alle geistigen Väter des Preußentums von dem Soldatenkönig an sehr deutlich ausgesprochen haben, daß sie sich dieser Gnade Christi bedürftig wußten und daß sie das nicht gezwungen – wer hätte sie auch zwingen wollen oder können? –, sondern von Herzen bekannt haben.
Für die besondere Lage des Soldaten im Kriege ergibt sich aber aus dieser Grundeinsicht in die menschliche Existenz noch eine ganz wesentliche Fähigkeit – auf das Schlimmste gefaßt zu sein. „Auf das Schlimmste gefaßt zu sein – das ist im Grunde eine nüchterne, höchst wachsame und harte – Selbsterkenntnis vor dem Angesichts Gottes“[13]. Wer das Schlimmste zu ertragen vermag, dessen geistige Kraft wird den Wechselfällen des Krieges und seinen geistigen Belastungen gewachsen sein. Wer aber von diesem Ausblick nicht einmal zu reden wagt, was will der seinem Volk in der Stunde der Gefahr nützen? Denn erst die Fähigkeit, auch das Unglück ungebeugt zu tragen, ist ein Beweis für die seelische Stärke, ohne die der Krieg nicht mannhaft ertragen werden kann, lind wenn der Mut etwas taugen soll, muß er mehr als eine nur biologisch bedingte Angelegenheit sein. Er ist diejenige Leistung, in der sich die Haltung des Mannes gegenüber seinem Lebensschicksal überhaupt zusammenfaßt. „Darum ist’s ein wunderlich Ding: ein Kriegsmann, der rechte Ursache (= eine gerechte Sache) hat, der soll zugleich mutig und verzagt sein. Wie null er streiten, wenn er verzagt ist? Streitet er aber unverzagt, so ist’s aber (= wiederum) große Gefahr. So soll er aber tun: vor Gott soll er verzagt, furchtsam und demütig sein und demselbigen die Sache befehlen, daß er’s nicht nach unserem Recht, sondern nach seiner Gnade und Güte schicke… Wider die Menschen soll man keck, frei und trotzig sein, als sie doch unrecht haben, und also mit trotzigem, getrostem Gemüte sie schlagen“ (Luther[14]).
Die geistige Leistung, die der Krieg von dem einzelnen fordert, besteht darin, daß er mit allen geistigen und sittlichen Mitteln, die ihm Gott an die Hand gibt, sich seinem Schicksal zu stellen trachtet, jenem großen einmaligen Schicksal seines Lebens, das ihm im Kriege mit einer Deutlichkeit und Dringlichkeit gegenübertritt, der er nicht ausweichen kann.
3.
Wer in den Voraussetzungen, die dafür angeführt sind, nur etwas Bedrückendes oder gar Schwächendes sieht, hat nichts davon verstanden. Ihm steht nicht nur Luthers kühne und große Erkenntnis entgegen: „Wo gut Gewissen, da ist auch großer Mut und keckes Herz. Wo aber das Herz keck und der Mut getrost ist, da ist die Faust auch desto mächtiger und beide, Roß und Mann, frischer“[15]. Ihm steht auch die Fülle stärkender Erfahrungen entgegen, mit denen jene Grundeinsicht gesegnet wird, die wir oben entfaltet haben.
Oder wo weiß man mehr, wie köstlich das Leben ist als im Kriege? Wann ist das Atmen in Gottes Luft reiner und der Blick auf das Himmelsblau und das Licht des Tages schöner als da, wo man weiß, daß die nächste Minute das alles enden kann, und man darum diese alltäglichste und größte Gabe – anders als im bürgerlichen Dasein – wieder bewußt aus den Händen des Schöpfers entgegennehmen lernt?
Wer weiß besser, wie wertvoll das Leben ist, als der Mann, der mit den andern Männern des Stoßtrupps gedrängt am Sappenausgang steht und auf das Zeichen zum Vorgehen wartet und nun gleichsam in einen Handgriff sein ganzes Leben zusammenfaßt und an einen Einsatz wagt?
Wer wüßte aber auch deutlicher als er, daß man das Leben – als einzelner wie als Volk – nur haben kann, wenn man bereit ist, es gegen Tod und Grauen zu verteidigen? Das sollte man immer wissen; wenn man es aber im Kriege nicht weiß oder wissen will, dann ist das einfach tödlich. Und nun die Frage: Was will der dazu sagen und wissen können, für den es theoretisch oder praktisch nur den Lebensgenuß gibt? Was für eine traurige und leere Weisheit ist das, wenn der satte Bürger am Tisch in friedlichen Zeiten über den Glauben spöttelt! Wovon will er denn leben, wenn es auch für ihn Ernst wird? Und wie bald kann ihm das im totalen Kriege widerfahren!
Die größte Erkenntnis aber, die das Leben am meisten adelt, ist die, daß unser Leben nicht uns selber gehört, sondern daß wir bereit sein müssen, es zu opfern. Auch im Frieden gehört uns unser Leben nicht. Aber der Krieg deckt es mit stürmischer Hand auf, ob einer in Furcht und Schande nur an sein eigenes Ich gebunden ist oder ob die Kräfte der Hingabe und des Opfers in ihm lebenskräftig sind. An dieser Probe zerbricht alle Phrase. Man muß von stichhaltigen Gründen wissen und von einer mehr als menschlichen Vollmacht, wenn man den einzelnen oder ein Volk zu diesem Opfer rufen will. Erst hier wird die Unzulänglichkeit der Kriegsromantik oder des landläufigen Heroismus vollends deutlich. Es muß nicht nur auf den Koppelschlössern der Soldaten, sondern in Herz und Gewissen stehen: Mit Gott! Nur im Namen Gottes kann man dies Opfer legitimieren.
Das Schicksal unseres Lebens begegnet uns nur einmal. Das wird niemals so deutlich wie im Kriege. Darum ist auch niemals so wie im Kriege die Frage brennend, wie wir mit ihm fertig werden können. In viel tieferem Sinne, als die bürgerliche Alltagsweisheit jemals wissen kann, gilt das Jesuswort: Wer sein Leben liebhat, wird es verlieren.
Quelle: Hans Lilje, Der Krieg als geistige Leistung, Furche-Schriften Nr. 26, Berlin: Furche Verlag, 1941.
[1] Max Scheler, Vom Genius des Krieges, 1915, S. 119.
[2] Es sei hier noch einmal auf die große Studie von Karl Holl, Die Bedeutung der großen Kriege (Ges. Aufs, zur Kirchengeschichte, Band III, S. 302ff.) verwiesen, die u. a. auch Größe und Grenze der geschichtlichen Wirkungen des Dreißigjährigen Krieges mit dem unbestechlichen Klarblicke des großen Historikers zeichnet.
[3] Das hat schon Spengler in seiner Schrift über Heraklit (1904, jetzt in Reden und Aufsätze, 1937) nachgewiesen.
[4] Werke, Weimarer Ausgabe, Bd. 50, S. 385.
[5] Clausewitz, Vom Kriege I, 4ff.
[6] Clausewitz, Vom Kriege I, 165 ff. – Ane schöne Parallele zu dieser Erkenntnis ist der Ausspruch, der von dem vorletzten König der Ostgoten, Totila, überliefert ist: „Durch Gerechtigkeit unseren Sieg erhalten ist wichtiger, als ihn gefährden, indem wir uns durch Ungerechtigkeit selbst schädigen. Denn nichts, gar nichts nutzt es, daß der, welcher Unrecht und Gewalt verübt, sich in Schlachten ausgezeichnet. Wird doch das Kriegsglück durch den Lebenswandel eines jeden einzelnen gefördert oder vernichtet“ (Procop, De bello ghotico III, 8).
[7] Clausewitz in einem Briefe aus der französischen Gefangenschaft, datiert: Nancy, den 28. Januar 1807, Ausgabe von Rothfels, 1922, S. 12.
[8] H. Stegemann, Der Krieg, sein Wesen und seine Wandlung, 1939, S. 6.
[9] Wer das Glück gehabt hat, mit geistig hochgebildeten Offizieren unmittelbar nach dem Frankreich-Feldzug des Jahres 1940 Vergleiche über den Unterschied zwischen dem Material- und Stellungskrieg der letzten Weltkriegsjahre anzustellen, die bekanntlich den moralischen Mut auf eine fast übermenschlich schwere Belastungsprobe gestellt haben, der weiß, mit welcher Bewußtheit unsere besten jungen Offiziere in den führenden Stellungen gerade diesen Unterschied begriffen haben; bei aller hochentwickelten Technik des modernen Krieges hat die Einsatzbereitschaft und persönliche Einsatzfähigkeit des einzelnen eine noch wesentlich erhöhte Bedeutung gewonnen. Damit ist aber auch die persönliche geistige Leistung des einzelnen Mannes und Offiziers für die moderne Kriegführung grundsätzlich wieder höchst bedeutsam geworden.
[10] Unter den vielen dichterischen Stimmen, die diese Zusammenhänge hellsichtig und vollmächtig beschrieben haben, seien wenigstens zwei Stellen aus den Kriegsaufzeichnungen von Hans Carossa erwähnt. Er sagt einmal: „Vor den Antlitzen der Toten erstirbt jedes nicht ganz nüchterne Wort wie in einem luftleeren Raum.“ Und in einem anderen Zusammenhang: „Wie oft hat der Krieg die schwülen, genießerisch fauligen Stimmungen verjagt, die fast jeder jahrelang dauernde Frieden begünstigt; welche Rettung war es für manchen, aus abstumpfender Häuslichkeit in heilsame Todesnähe entrückt zu werden! Wie viele leidenschaftlich unergiebige Verstrickungen wurden mit einem Schlage gelöst! Immer wieder hat der Krieg dem Frieden seinen Wert bestätigt, so wie das Leben Stunde um Stunde von den bittern Gewürzen des Todes seinen Geschmack empfängt.“
[11] Alfred Delp in seinem wertvollen und aufschlußreichen Aufsatz „Der Krieg als geistige Leistung“, Stimmen der Zeit, 1940, S. 207 ff.
[12] Hermann Stegemann, Der Krieg, S. 9.
[13] Hans Schomerus, Ethos des Ernstfalles 1939, S. 34.
[14] Luther, Ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein können, 1526 (Werke, Weimarer Ausgabe Bd. 19, S. 660).
[15] Luther, a. a. O. S. 623.
Zitat: „Darin liegt einer von unzähligen Beweisen dafür, wie fest unter den geistigen Vätern des PreuÃentums die Erkenntnis begründet war, daà der Krieg eine geistige Leistung ist, deren VorbedingÂungen über alle nur physischen Voraussetzungen weit humusreiÂchen.“
Humusreichen – an dieser Stelle muss man als wacher Leser, ob angesichts der Schwere des Thematisierten oder bloà angesichts des gemutmaÃten Tatbestands „innere Verbundenheit von Humus, Krieg und Reichen (resp. Leichen)“ sei dahingestellt, endlich mal wieder Wo-ich-bin-da-soll-Lachen-sein mehr gehorchen als Menschen.
Leipzig, am 13.04.2024 G.E.