Von Hans Joachim Iwand
Es wird niemals möglich sein, dessen habhaft zu werden, was als die Osterbotschaft der Christenheit in dieser Welt erklingt, wenn wir dies auf dem Weg des historischen Erkundens versuchen. Gewiss, wir haben die Berichte, und sie versuchen, in ihrer Weise zu sagen, wie das geschehen ist. Aber wenn sie an die Mitte des Ereignisses selbst herangehen, so ist da eine Grenze, die niemand überschreiten kann. Niemand war dabei. Und die schlafenden Wächter purzeln herunter von dem Stein, auf dem sie sitzen, und sind darin die Vorbilder für alle, die wissen wollen, wie das zugegangen ist. Es ist dasselbe tiefe Geheimnis – es ist das Geheimnis Gottes – wie bei der Geburt Christi. Gott wird ja nun auch ausdrücklich so genannt: „der unsern Herrn Jesus auferweckt hat von den Toten“ (Röm 4, 24): Das ist von jetzt an das geschichtliche Prädikat Gottes. Das ist Gott. Die Erweckung dieses Toten gehört wesenhaft, unentbehrlich in den Begriff Gottes. Das eben gibt der philosophische Gottesbegriff nicht her. Weiter als bis zum Begriff Gottes konnten die Philosophen nicht kommen. In diesen Begriff aber passt die Auferstehung eines Menschen nicht hinein. Sie sprengt den Begriff der Vernunft, aber sie sprengt ihn nur, um Gott wirklich als den lebendigen Gott offenbar zu machen. Die Totenauferweckung gehört hinein in den Begriff des mit uns redenden Gottes, in den neuen, aus Tod und Auferstehung Jesu gewonnenen Gottesbegriff. Darum glaubt man an den, der Jesus auferweckt hat, und dieser Glaube wird zur Gerechtigkeit angerechnet [vgl. Röm 4, 22-24]. Also nicht ein bloßer Gottglaube schlechthin, nicht ein innerweltliches Gottvertrauen, nicht etwas, das wir auch in uns vorfinden und das man gemeinhin als Glaube bezeichnet, vielmehr: Glaube ist im Sprachgebrauch des Neuen Testaments nur da, wo der Durchbruch durch die Todeslinie erfolgt. Gott oder der Tod – das ist die Alternative, die das Sterben Jesu uns stellt. Könnte nicht auch bei ihm der Tod das Letzte gewesen sein, wie er es bei uns allen zu sein scheint, eben jenes Nirwana, jene letzte und endgültige Nivellierung, die alles und alle gleich macht, das furchtbare Nichts, das wir nur ein wenig zurückdrängen durch den Lebensraum, der uns kleinen Erdenbewohnern zugefallen ist?
Wenn aber die Frage so lautet: Gott oder der Tod?, wenn die letzte Frage hier gestellt ist, und zwar gestellt in einem Ereignis unserer Menschengeschichte, dann kann zwar der Bericht davon noch eingezeichnet werden in das Geschehen unserer Tage, aber er kann nicht mehr aus diesem Geschehen heraus begriffen werden. Hier hört der Tod auf, Naturereignis zu sein. Der Tod Jesu ist mehr. Dass er mehr ist, bezeugt das Neue Testament an allen Orten, wo es von ihm redet. Hier ist der Tod als Gegensatz zu Gott offenkundig geworden, er ist Ereignis geworden als widergöttliches Geschehen[1]. Entweder der Tod oder Gott behält hier das letzte Wort unter uns: Das ist die Entscheidung, in die uns der Tod Jesu stellt, und seine Auferstehung ist die Antwort, die uns ohne unser Zutun, von oben her, aus reiner Gnade widerfährt. Der Tod Jesu ist, wie das besonders die Alte Kirche sehr deutlich gesehen hat, eine Herausforderung an den Tod. Die Auferstehung wird verkündet und geglaubt als Erweis dessen, dass in der Welt Gottes der Tod keine Macht hat (Apg 2, 24; 3, 15.26). So tief muss die Gottesfrage hinabgezogen werden in unser Fleisch, dass an seiner tiefsten Tiefe, der Verwesung, dem Nichts, deutlich wurde, dass Gott ein Gott der Lebenden und nicht der Toten ist (Mt 22, 32).
Darum lässt sich die Auferstehung Jesu nicht mehr als ein innerweltliches, innergeschichtliches Ereignis fassen. Denn von ihr aus werden ja die Voraussetzungen der Geschichte und des geschichtlichen Denkens in Frage gestellt, insoweit als Geschichte und Geschichtsbewusstsein mit dem Tode zusammenhängen. Alle Geschichtsbetrachtung lebt davon, dass der Tod ein Letztes ist. Sie lebt von der Erinnerung, wie Hegel deutlich gesehen hat, und sie belebt mit ihrer Erinnerung die Vergangenheit, ist deren geistige Wiedergeburt und Vergegenwärtigung. Aber das heißt nicht Auferstehung. Versuche ich, die Auferstehung begreiflich zu machen innerhalb der Grenzen der historisch begreiflichen Realitäten, so muss sie sich automatisch verwandeln in Erlebnisse der Jünger, Visionen und Auditionen, die mit dem singulären Tode Jesu Zusammenhängen. Es ist ein Fehler, die Auferstehung Jesu Christi zunächst einmal zu historisieren, aus ihr eine ‚Tatsache‘ im Sinne eines singulären geschichtlichen Ereignisses zu machen, um dann von uns den Glauben daran zu verlangen. Das ist ein Widerspruch in sich. Glauben kann ich in diesem Sinne an die Auferstehung Jesu nie. Denn so wäre sie ein isoliertes Faktum, ein lediglich ihn allein angehendes Ereignis. Auch hier ist dann das Faktum von der Botschaft gelöst. Aber dieses Ereignis geht „uns“ an. Es geht uns an, wenn ich so sagen darf, in derselben Weise, wie uns der Tod angeht. Wenn dieser uns als Gericht trifft, als das verdiente Gericht über alles, was Fleisch ist, dann geht uns die Auferstehung an als Rechtfertigung, als ein von Gott angesichts des Todes gefällter Urteilsspruch, dass wir leben sollen. Der Tod wird uns nicht erspart, aber er wird der Eingang in das Leben. Die Auferstehung Jesu steht nicht als ein einsames Mirakel in der Geschichte, hier kehrt nicht ein Gott in seinen Himmel zurück ungeachtet dessen, was Menschen ihm getan haben; sondern hier bricht Gott unser Todesurteil (katakrima, Röm 5, 18) entzwei und setzt uns einen Richter, einen Fürsprecher, der für uns eintreten kann, so dass auch wir leben.
Im neutestamentlichen Denken wird der Zusammenhang deutlich, der zwischen Tod und Sünde besteht. Dass dem so ist, verdanken wir dem Ineinander von Kreuz und Auferstehung. Beides ist untrennbar. Wir kommen aus einer Theologie her, die die Vergebung in den Mittelpunkt stellt und damit auch das Kreuz bzw. den Tod Jesu, aber nicht die Auferstehung. Wir meinen, dies ist ein Fehler: Auch die Vergebung muss hineingenommen werden in die neue Welt Gottes, die mit der Infragestellung des Todes über uns gekommen ist. Kann man denn überhaupt an die Vergebung der Sünden glauben, wenn man nicht auch über den Tod hinaussieht? Wenn die Vergebung nur innerhalb des Todesschicksals und der Todeswirklichkeit mächtig werden soll, dann kann sie eben nicht mächtig werden. Wo Vergebung der Sünden ist, da ist Leben (Luther)[2]. Wir müssen den Lebenszusammenhang mit dem Auferstandenen haben, wenn wir wirklich an die Vergebung der Schuld glauben und aus ihr leben sollen. Sonst muss die Vergebung herabsinken in den Bereich des bloß Moralischen. Das, was hier weggenommen wird, ist aber die Sünde und nicht nur das Bewusstsein der Sünde, ist die Schuld und nicht nur das Bewusstsein der Schuld. Der Tod des Sohnes Gottes erfolgt nicht, um einen Bewusstseinswandel in uns hervorzurufen, sondern es geht darum, dass die Sünde und der Tod nicht mehr sind.
Es ist kein Zufall, dass in der sogenannten historischen Theologie die Auferstehung als ein besonderer Lehrpunkt – ich möchte sagen, in ihrer Realität – wegfällt. Hierin war Schleiermacher wegweisend: Er eliminierte sie aus seiner Darstellung der Christologie. Das heißt natürlich nicht, dass alle diejenigen, die für das Faktum der Auferstehung keinen Platz innerhalb einer geschichtlich angelegten Dogmatik sehen, nicht an den „Lebendigen“ glauben. Einen toten Christus hat keiner der protestantischen Dogmatiker gelehrt! Aber ihnen genügt sein Leben, um von seiner Fortwirkung zu reden. Erst heute sind wir dabei zu entdecken, was die Auferstehung Jesu Christi für das in sich geschlossene System einer vom Idealismus herkommenden Geschichtswissenschaft bedeutet. Sie muss diesen Rahmen sprengen, denn sie hebt den Tod, die Konstante der Geschichtswissenschaft, auf. Die Reformatoren haben das noch gewusst – insbesondere Calvin; auch Luther redet vom „Tod des Todes“[3] –, und sie befinden sich damit in Übereinstimmung mit der Alten Kirche, die immer gelehrt hat, dass der Tod Jesu des Todes Tod, des Todes Überlistung sei. Aber wir haben diesen Ansatz verloren, und zwar mit der Entdeckung des „historischen Jesus“. Wir haben eine Rechtfertigungs- und Versöhnungslehre entwickelt, die sozusagen innerhalb dieser Todeswelt stand, die es nicht vermochte, das Jenseits des Todes, das Leben, schon mitten in dieser Todeswelt und als Faktor, der gegen die Todeswelt mächtig ist, anzusetzen. Das Interesse am Tode Jesu und an der Versöhnung mit Gott durch ihn wurde ein „innerweltliches“, ein psychologisches Interesse: auch hier dieses Absinken in die in sich beschlossene Humanität. Der Tod blieb draußen. Er blieb als Thema unseres Lebens unbeachtet, bis M. Heidegger ihn als die Konstante unserer Existenz in der Zeit wieder entdeckte und sichtbar machte.[4] Die Bibel aber sieht Tod und Sünde immer zusammen, es ist unmöglich, das eine ohne das andere aufzuheben. Und sie sieht beides zusammen, weil auch der Tod Jesu und seine Auferstehung eins sind. Man kann sie nicht trennen. Sie sind ein göttliches Geschehen – wie sie ja auch in dem ältesten christlichen Credo [1 Kor 15] eins sind und in dieser Einheit im Apostolikum wiederkehren.
Von daher gesehen ergibt sich eine bestimmte, eine notwendige, nicht einfach zu beseitigende Spannung zu dem, was wir unter Geschichte verstehen. Die Spannung zwischen der Botschaft von der Auferstehung und der Todesumschlossenheit der Geschichte entspricht der anderen zwischen der versöhnenden Kraft des Todes Christi und dem Gesetz bzw. der Ethik. In beide in sich geschlossene Größen, die Ethik wie die Geschichte, bricht mit der Menschwerdung, dem Tode und der Auferstehung Jesu Christi etwas ein – sagen wir: in unsere Geschichte bricht ein Geschehen von Gott her ein –, das zunächst einmal diese Geschlossenheit zerbricht und aufreißt.
Aus Iwands Christologie-Vorlesung gehalten im Sommer 1959 in Bonn.
Quelle: Hans Joachim Iwand, Dogmatik-Vorlesungen 1957-1960, hrsg. v. Thomas Bergfeld und Edgar Thaidigsmann, Münster: Lit, 2013, S. 188-192.
[1] Vgl. Dimitrij Sergejewitsch Mereschkowski, Jesus der Kommende, Leipzig 1934, 196.
[2] „Denn wo Vergebung der Sunde ist, da ist auch Leben und Seligkeit.“ (Kleiner Katechismus, 1529, BSLK 520, 29f).
[3] Vgl. In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius [1531/1535], WA 40/1, 267, 1; 440, 13.
[4] Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, §§ 46-53.