Das Zeugnis. Zum Ostersonntag (1952)
Von Reinhold Schneider
»Den Urheber des Lebens habt ihr getötet, welchen Gott auferweckt hat von den Toten. Des sind wir Zeugen.« (Apg 3, 15)
Weder Gläubige noch Nichtgläubige werden imstande sein, sich eine zureichende Vorstellung von der Welt zu machen, der die Osterbotschaft nicht zuteil geworden wäre. Diese Botschaft hat die geistige und geschichtliche Welt bis in ihre innersten Strukturen verändert; sie hat mit einer Macht ohne gleichen auf ein Ziel über der Erde gewiesen, dem die Men sehen, sei es in Hingabe, sei es in Verneinung, sich stellen müssen. Wir denken an das Auferstehungsbild des Meisters Mathis: die eisenumschlossenen Wächter sind wie Felsstücke auseinandergeschleudert; der Raum ist offen; mit dem noch mit der Grabesfarbe behafteten, vom herabstürzenden Lichte übergossenen Leichentuch nimmt der Sieger über den Tod das Irdische empor in grenzenlose Freiheit.
Und doch lastet noch die Nacht auf der Welt, die Nacht ohnegleichen, die vom Karfreitag bis zur Herabkunft des den Grabesfelsen sprengenden Engels die Erde umschlossen hielt. Der Christ müßte in diese Nacht eingegangen sein, eh er das Osterfest feiert; er müßte sie wenigstens ahnen. Es sind die Stunden furchtbarster Versuchung, da die Jünger sich fragen müssen, ob nicht alles verloren sei. Das Reich ist nicht gekommen, der König von der Schande, vom Tod überwunden. Diese Traurigkeit umdämmert den Weg der Jünger nach Emmaus: »Wir aber hofften, daß er es wäre, der Israel erlösete« (Lk 24, 21). Aber eine unbegreifliche Hoffnung hat sie schon berührt: einige Weiber waren am Grabe und fanden statt des Toten einen Engel, die sagten, daß er lebe. Und wenn Petrus mit einem Jünger zum Grabe eilt, »beide aber liefen zugleich, und der andere Jünger lief noch schneller als Petrus und kam zuerst zum Grabe« (Joh 20,4); wenn die bekümmerten Frauen erschrecken vor dem weggewälzten Stein, vor den Männern in glänzenden Kleidern (Lk 24, 5); wenn Maria und Maria Kleophä vor der Grabkammer, in der Joseph von Arimathäa den Herrn barg, sich vor dem Erdbeben entsetzen, so will uns die unerhörte Erregung jener Stunden überkommen; eine Erregung, in der fast verzweifelter Glaube bebt: sollte, was völlig verloren schien, doch gewonnen sein? Wird die Hoffnung wider alles Hoffen bestätigt? Nur von einem Menschen können wir sagen, daß er in jenen Nächten nicht gewankt habe: es ist Maria; die Gewißheit göttlichen Ursprungs ihres Sohnes, die Gewißheit des Reiches waren in ihr unzerstörbar. Aber wenn auch Johannes an Sohnes Statt neben ihr war, so stand sie in diesen Stunden doch, im äußersten Schmerz, allein gegen die Welt; alles, was sich außen ereignete, widersprach dem Wissen von Gottes Sohn, wenn auch sein Wort und die Prophezeiung Simeons gerade auf diese Verlassenheit, diese Niederlage vorbereitet hatten.
Es war die Welt ohne Osterbotschaft; die Welt, in der das Reich gescheitert war. Der Gedanke ist ja nicht abzuweisen, daß Christi Botschaft auch hätte angenommen werden können; daß ein anderer, freilich uns nicht erkennbarer Weg offen war. Die Jünger glaubten daran. Mit welcher Geduld, welcher Nachsicht hat Christus, der zum Opfer entschlossen war, diesen Glauben überwinden müssen! Völlig überwunden wurde er vielleicht nie: erst als der Stein vor das Grab gewälzt wurde, brach diese Hoffnung zusammen. Aber zu uns redet die Enttäuschung der Jünger nicht. Wir fühlen ihre Abgrundtiefe nur aus der Größe des Zeugnisses, das sich nach dem Siege über sie erhob, aus der leidenschaftlichen Macht und Festigkeit, mit der Petrus den Auferstandenen verkündete. »Den Urheber des Lebens habt ihr getötet, welchen Gott auferweckt hat von den Toten! Des sind wir Zeugen!« (Apg 3, 15.) Und: »Diesen habt ihr durch die Hände der Gottlosen ans Kreuz geheftet und umgebracht. Ihn hat Gott auferweckt, von den Schmerzen der Unterwelt ihn befreiend, wie es denn unmöglich war, daß er von ihr gehalten wurde« (Apg 2, 23, 24). Es ist das Zeugnis, das denen, die es hören, »durchs Herz« geht, freilich nicht allen. Thomas muß die Hand in die Seite des Auferstandenen legen, eh er glaubt; da der Herr vor den zu Tische sitzenden Elfen erscheint, muß er ihnen ihres Herzens Härtigkeit verweisen, »daß sie denen nicht geglaubt hätten, welche ihn gesehen hatten, nachdem er auferstanden war« (Mk 16, 14). Und selbst da Christus die Elf auf dem Berge zu Galiläa um sich versammelt, ist von einigen gesagt, daß sie zweifelten (Mt 28, 17). Der Zweifel hat von Anfang seinen Ort in der Geschichte des Glaubens, wie ja Christus selbst ihm seinen Ort gegeben hat, als er das Unerhörte offenbarte, das wir im Glauben zu tun vermöchten, wenn wir nicht zweifelten in unserem Herzen. Und wieder wenden wir uns an die Mutter unseres Glaubens, die gehorchte, ohne zu zweifeln.
So tritt Petrus, der Zeuge des Auferstandenen, fordernd vor uns. Das ist ja die Bestimmung des Christen in der Welt: Zeuge der Wahrheit zu sein; er hat sich dieses Amt nicht angemaßt; nicht er hat Gott erwählt, sondern Gott hat ihn erwählt, eh er selber noch wählen konnte. Nun wuchtet das Amt auf ihn. Die Frauen, die vor das gesprengte Felsengrab kamen und den Engel fanden statt des Herrn, ergriffen das Amt als erste: sie eilten in die Stadt und berichteten, was sie gesehen und gehört hatten. Ergreifen die Frauen unserer Stunde das Erbe? Ergreifen wir es? Verwalten wir das Amt unbedingter Zeugenschaft, das ungeschwächt reine Wort, von dem wir wissen, daß es die Welt haßt, obwohl es der Welt Heil ist? »Siehe nun, Herr«, betete Petrus, »auf ihre Drohungen, und gib deinen Knechten, mit aller Zuversicht zu reden dein Wort« (Apg 4, 29). Trotzen wir diesem Haß? Glauben wir nicht vielmehr noch immer, der klaren Voraussage Jesu Christi entgegen, daß die Welt die Botschaft und ihre Träger lieben müsse? Und also vermischt sich die Botschaft mit der Welt; das den Menschen anvertraute Licht wird trübe, und das Dunkel breitet sich über die Völker.
Wir fragen, was wir mit dem Zeugnis bewirken. Und wo es unwahrscheinlich ist, daß es angenommen werde, schweigen wir. Unser Zweifel hat sich ein Wort bereitet, mit dem sich alles entschuldigen läßt, eines der bezeichnendsten Worte unserer Zeit: jener und dieser, Menschen und Mächte, sind nicht »ansprechbar«. Als ob es uns aufgetragen wäre, das zu ermessen! Hätten die Apostel so gedacht, sie hätten Jerusalem nicht verlassen. Sie stießen ja nicht wie wir auf Häresien, deren Machtformen kaum ein Jahrhundert alt sind, nicht allein auf die Unkraft des Herzens, das nicht glauben kann, auf Zerfahrenheit und Gespaltenheit; die Apostel trafen in Europa und Asien auf ehrwürdige Überlieferungen, echte Religionen, mochten diese auch vom Verfall gezeichnet sein; in Rom, in Athen, in Persien konnten sich die Menschen auf das Andenken der Geschlechter berufen, die ihnen teuer waren und Treue von ihnen forderten; es war durchaus unwahrscheinlich, daß sie »ansprechbar« seien. Aber vor den Aposteln stand der Sieger über den Tod, der ihnen geboten hatte, alle Völker zu lehren, zu taufen. »Denn nicht vermögen wir’s, nicht zu reden, was wir gesehen und gehört haben« (Apg 4, 20). Wie die Entscheidung des christlichen Gewissens nicht von ihren Folgen gelenkt werden kann, so auch nicht das Zeugnis des Christen; sein Tun kann nur dann echt, nur dann geordnet sein, wenn es unbeirrbar von oben ausgeht und sich unbeirrbar vor Christus verantwortet.
Das eigentliche Problem dieser Stunde ist wahrscheinlich das Zeugnis. Kann die Welt uns glauben? Und das heißt doch nur: glauben wir wirklich und wahrhaftig selbst? Glauben wir in dem Sinne, daß unser Glaube Prinzip der Verwirklichung wird, die, Wirklichkeit unseres Lebens hervorruft? Damit ist nicht gesagt, daß wir die Mächte besiegen werden, die diese Welt bedrohen; es ist nur gesagt, was wir sollen. Wo aber sollen wir Gnade erwarten, wenn nicht über dem absoluten Gehorsam? Und wie soll diese Zeit sich lichten, wenn nicht unter dem Ansturm der Gnade?
Es genügt nicht, daß wir die Osterbotschaft auslegen im Sinne innerer Erneuerung, religiöser Wiedergeburt. Sie bedeutet, daß wir sterben sollen mit Christus; daß wir allezeit sein Sterben an uns tragen. Da er für uns alle gestorben ist, so müssen wir alle sterben in ihm. Insofern ist das Wort von der Agonie des Christentums nicht zu widerlegen; es ist eine von den Spaniern ergriffene echte christliche Wahrheit: Weil ich immerfort sterbe, darum sterbe ich nicht. Das gilt vom Christen und von seinem Heil; es gilt vom christlichen Glauben bis zum Ende, vom Glauben, der nicht Ruhe ist, sondern inständig-tragisches Ringen mit den Zweifeln und der Welt. »Das Herz des Christen«, schrieb Claudel, »ist die immerwährende Schuld der Tragödie.« Und dasselbe gilt von der Geschichte. Denn die Königsmacht des Herrn ist nur in Zeichen sichtbar; der mystische Leib seiner Kirche vollendet sich durch die Zeiten nicht vor Menschenaugen; er wächst gerade unter der Überschattung durch die feindliche Macht. Das Leben auf Erden, die Geschichte, ist ein Leben im Grabe. Die Osterbotschaft weist auf das Ende. So hat auch Petrus am ersten Pfingsttage die Verkündung des Auferstandenen mit Bildern des Endes begonnen. Auferstehung und Rettung sind Gericht. Unsere Hoffnung ist das Gericht. Denn wir leben in der Welt der Sünde und des Todes, und Sünde und Tod werden nur besiegt werden, wenn diese Welt völlig überwunden ist.
Jesus Christus hat diese Welt sichtbar durchbrochen. Die Toten, die er auferweckte, der Jüngling von Naim, die Tochter des Jairus, Lazarus, der um des an ihm geschehenen Wunders willen — als Zeuge – verfolgt wurde, mußten in den Tod zurück. Aber am Ostertage geschah das Unerhörte, daß ein Leib sich erhob aus dem Grabe, der dem Tode nicht mehr unterworfen war. Auch dieser Leib ist, wie die christliche Wahrheit, in das Geheimnis heiligen Widerspruchs gehüllt: der Herr gebietet Maria Magdalena: »Rühr mich nicht an!«, und er spricht zu den Aposteln: »Tastet und sehet; denn ein Geist hat nicht Fleisch und Bein« (Lk 24, 39); er ißt mit ihnen Honig und Fisch. Es ist ein Leib sichtbar, der nicht sterben wird. Diese Sichtbarkeit ist Geschichte. Seither liegt die materielle Welt in Trümmern. Es ist vergeblich, sie wieder zusammenzuschließen, ihr in sich einen Bestand geben zu wollen. Die Grenze ist offen. Die Macht von oben hat sich ereignet. Das Ziel ist und bleibt geoffenbart; es ist unverrückbar; auch wenn unsere Augen es nicht erreichen, bleibt es da.
Wir erleben, daß die Menschen aufs neue den Versuch machen, die materielle Welt zu runden, sie als ein Ganzes auszuweisen. Das kann auf vielerlei Weise geschehen, nicht allein als Verneinung; es kann auch dadurch geschehen, daß dem Glauben ein schmaler oder weiterer Raum in diesem angeb- lieh Ganzen zugewiesen wird. Es wird eine Kapelle eingebaut in der materiellen Welt. Aber die Botschaft gibt sich nicht gefangen. Sie ist auf das Ganze der Welt, des Lebens gewendet; sie kennt nur ein einziges christliches Leben, und dieses soll sein das Leben der Welt, in dem alle, auch Kreatur und Pflanze, gerettet werden. Der Same, den Christus in diese Erde senkte – es ist sein eigener Leib -, ist von unwiderstehlicher Kraft. Er arbeitet gegen ein jedes System der Macht, aber auch gegen ein jedes Denkgebäude, die ihm sein Recht verweigern, den Anspruch auf das Ganze. Diese Kraft hat sich schon der Toten bemächtigt, die über diese Erde ausgesät sind und denen geschehen wird, wie sie geglaubt haben; deren Unehre sich verwandeln wird in Herrlichkeit.
Wir haben in dieser Stunde kein mächtigeres Wort als das des Ostertages; es verkündet den Sieg, in den jeder auf Erden mögliche Sieg eingeschlossen ist. Der Sieg hat kein anderes Zeichen als das Kreuz. Und nur diejenigen werden die gültigen, glaubwürdigen Zeugen dieses Sieges sein, denen wie den Aposteln die Bereitschaft zum Kreuze eingeprägt ist. Die geschichtliche Tat des Christen ist das Zeugnis des Lebens. Werde es nun angenommen oder verworfen: es ist kein Ort, wo er es nicht erbringen kann; je deutlicher die Zeichen des Endes aus den Wolken scheinen, um so schwerer ist das Zeugnis zu vollziehen. Aber es ist keine Zeit verloren, in der es abgelegt wird, keine Not vergeblich, die es aufgenötigt hat.
Quelle: Reinhold Schneider, Gesammelte Werke, Bd. 9: Das Unzerstörbare. Religiöse Schriften, Frankfurt a.M.: Insel, 1978, S. 408-414.