Die große Versuchung 1. Mose 22,1-19
Von Gerhard von Rad
22,1 Nach diesen Ereignissen versuchte Gott den Abraham und sprach zu ihm: „Abraham!“ Er antwortete: „Hier bin ich.“ 2Und er sprach: „Nimm deinen Sohn, deinen Einzigen, den du lieb hast, den Isaak, und begib dich in das Land Moria und bringe ihn dort auf einem der Berge, den ich dir sagen werde, als Brandopfer dar.“ 3 Da machte sich Abraham am Morgen frühe auf, sattelte seinen Esel, nahm seine beiden Burschen mit sich und seinen Sohn Isaak. Er spaltete Holzscheite zum Brandopfer und machte sich auf und ging an den Ort, den ihm Gott gesagt hatte. 4 Als Abraham am dritten Tag seine Augen aufhob, da sah er den Ort von ferne. 5 Und Abraham sprach zu seinen Burschen: „Bleibet hier bei dem Esel; ich und der Knabe, wir wollen dorthin gehen anzubeten und dann wieder zu euch kommen.“ 6 Dann nahm Abraham die Holzscheite fürs Brandopfer und lud sie seinem Sohn Isaak auf; er selbst nahm das Feuer in die Hand und das Messer. So gingen die beiden miteinander. 7 Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: „Mein Vater!“ Er antwortete: „Hier bin ich, mein Sohn.“ Und er sprach: „Hier ist Feuer und Holz, wo aber ist das Schaf zum Brandopfer?“ 8 Abraham antwortete: „Gott wird sich ein Schaf zum Brandopfer ersehen, mein Sohn.“ So gingen die beiden miteinander.
9 Als sie an den Ort gekommen waren, den Gott ihnen gesagt hatte, da baute Abraham daselbst den Altar, er schichtete die Holzscheite zurecht, er band seinen Sohn Isaak und legte ihn oben auf die Holzscheite. 10 Dann streckte Abraham seine Hand aus und nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. 11 Da rief ihm der Engel Jahwes vom Himmel herab und sprach: „Abraham! Abraham!“ Er antwortete: „Hier bin ich.“ 12 Und er sprach: „Strecke deine Hand nicht aus gegen den Knaben und tue ihm nichts an, denn jetzt weiß ich, daß du gottesfürchtig bist, da du deinen Sohn, deinen Einzigen, mir nicht vorenthalten hast.“ 13Als Abraham seine Augen aufhob und hinschaute, siehe, da hatte sich ein Widder mit seinen Hörnern hinten im Gestrüpp verfangen. Da ging Abraham hin, holte den Widder und brachte ihn anstelle seines Sohnes als Brandopfer dar. 14 Dann benannte Abraham jenen Ort: „Jahwe sieht“, so daß man heute noch sagt: „Auf dem Berge, wo Jahwe gesehen wird.“ 15 Da rief der Engel Jahwes den Abraham zum zweiten Mal vom Himmel her an 16 und sprach: „Ich schwöre bei mir, ist der Spruch Jahwes, darum, daß [189] du das getan hast und mir deinen einzigen Sohn nicht vorenthalten hast, 17 will ich dich reichlich segnen und deine Nachkommenschaft überaus zahlreich machen wie die Sterne des Himmels und wie den Sand am Ufer des Meeres, und deine Nachkommenschaft soll das Tor seiner Feinde besetzen, 18 und mit deiner Nachkommenschaft sollen sich segnen alle Völker der Erde, weil du auf meine Stimme gehört hast.“ 19 Dann kehrte Abraham zu seinen Burschen zurück, sie brachen auf und gingen zusammen nach Beerseba, und Abraham blieb in Beerseba wohnen.
Auch diese Erzählung — die formvollendetste und abgründigste aller Vätergeschichten — hat nur einen sehr lockeren Anschluß an das Vorhergegangene und läßt schon daran erkennen, daß sie gewiß lange Zeit ihre Existenz für sich hatte, ehe sie ihren Ort in dem großen Erzählungswerk des Elohisten gefunden hat. So steht also auch hier der Ausleger vor jener nicht unkomplizierten Doppelaufgabe: Er muß einerseits den Sinngehalt der alten selbständigen Erzählung ermitteln, dann aber natürlich auch der schon verhältnismäßig früh vollzogenen gedanklichen Verbindung mit einem ganzen Komplex von Abrahamsgeschichten Rechnung tragen. — Über die seit der Entwöhnung Isaaks verstrichene Zeit wird keine direkte Angabe gemacht; man kann aber sehen, daß Isaak nunmehr kein Kleinkind mehr ist (er weiß, was zu einem Opfer gehört und kann eine Holzlast tragen). Der Ort, von dem Abraham auszieht und zu dem er dann wieder zurückkehrt (V. 19), ist Beerseba.
1-2 Entscheidend für das rechte Verständnis alles Folgenden ist, daß man der Aussage in V. 1 — das Wort „Gott“ ist sogar syntaktisch besonders betont! — ihr ganzes Gewicht läßt und ihr Rätsel nicht durch eine psychologisierende Erklärung auflöst. (Etwa durch die Annahme, daß Israel sich hier über sein Verhältnis zu den kanaanäischen Kinderopfern ausspreche; es sei über der Größe dieser Opfergaben selbst in Bedrängnis geraten und habe sich auf die Frage, ob es da mit seinen geringeren Opfergaben überhaupt vor Gott bestehen könne, in dieser Geschichte die Antwort gegeben.) Man wird schon von einer Anfechtung, die an Abraham herangetreten ist, reden müssen; aber nur so, daß sie in betontem Sinn von Gott selbst, dem Gott Israels, ausgegangen ist. Die Sache ist nun aber so, daß dem Leser von vornherein gesagt wird: Nur um eine Versuchung durch Gott hat es sich gehandelt, um eine Zumutung, mit der Gott nicht Ernst machen wollte. Für Abraham aber hatte der an ihn ergangene Befehl einen tödlichen Ernst. In dieser Doppelheit des Blickpunktes auf das sich nun entwickelnde Geschehen — man sieht es jetzt mit den Augen Abrahams und zugleich von einer höheren Warte — verrät sich schon der außergewöhnliche Erzähler. Er hat damit erreicht, daß beim Leser von vorherein keine Spannung auf ein gräßliches Ereignis entsteht; der Gegenstand, dem sich das gespannte Interesse jetzt zuwendet, ist vielmehr das Verhalten Abrahams (und Isaaks). Für Abraham enthält der Befehl Gottes etwas schlechthin Unbegreifliches: Das von Gott nach langem Verzug geschenkte Kind, das einzige Bindeglied, das zu der verheißenen Größe des Samens Abrahams führen kann (Kap. 15,4 f.), soll Gott im Opfer wieder zurückgegeben werden. Mußte sich Abraham nach Kap.12,1 f. von seiner ganzen Vergangenheit trennen, so geht es jetzt um die Preisgabe seiner ganzen Zukunft (Jac.). Dadurch, daß unserer Erzählung (durch die Schlußredaktion der Quellen) auch noch die ganze [190] erwartungsgespannte jahwistische Vorgeschichte der Geburt Isaaks (Kap. 12,1 ff.; 16,1 ff.; 18,1 ff.) vorangestellt ist, wird die göttliche Zumutung noch ungeheuerlicher. Und wenn die Anrede an Abraham erkennen läßt, daß Gott nun die Größe dieses Opfers genau weiß („den einzigen, den du lieb hast“), so mildert das ja nichts, sondern verschärft den Eindruck.
Versuchung: Der Gedanke der Versuchung, d. h. einer pädagogischen Belastungsprobe, die Gott zur Erforschung des Glaubens und der Treue über einen Menschen kommen läßt, ist in den Vätergeschichten nicht eigentlich neu. Schon in dem Bericht von der göttlichen Verheißung und Ausführung Abrahams aus Mesopotamien (Kap. 12,1 ff.; 15,1 ff.) war ein Versuchungsmotiv enthalten. Der Ausbruch der Hungersnot sollte sicher auch als eine Prüfung verstanden werden, die Abraham nicht bestanden hat (Kap.12,10 ff.); und endlich war der Besuch der drei Himmlischen eine Prüfung für Abraham (Kap. 18,1 ff. s.o. S. 160 f.). Neu aber ist hier das programmatische Hervortreten des Prüfungsgedankens schon im ersten Vers der Geschichte und seine vernichtende Härte. Der Vorstellungskreis von einem am Menschen von Gott veranstalteten Prüfungshandeln führt letztlich in den Bereich des Kultus: im Ritual des Gottesurteils prüft Gott, um Schuld oder Unschuld ans Licht zu bringen (in ältester Zeit war Kades solch ein Ort, 2. Mose 15,25 b; aber auch im Tempel wurden noch Gottesurteile eingeholt: 1. Kön. 8,31 f., vgl. zu Ps. 7 oder 26: Weiser A.T.D. 14/15). Demgegenüber ist die Anwendung der Versuchungs- und Prüfungsvorstellung auf die Paradoxien der geschichtlichen Führungen Gottes wohl als eine Ablösung vom Rituellen und als ein Heraustreten aus dem Raum des Kultischen zu verstehen, d. h. in glaubensgeschichtlicher Hinsicht als das Zeichen eines ausgesprochenen Reifestadiums. Übrigens ist dabei die Anwendung des Versuchungsgedankens auf das Geschichtshandeln an ganz Israel (z. B. 5. Mose 13,4; Ri. 2,22) wohl noch vergleichsweise älter als die Vorstellung von Prüfungen, denen Gott das Individuum in seinem persönlichen Lebensgang unterzieht.
Schwierigkeiten bereitet der Name „des Landes Moria“. Daran, daß 2. Chr. 3,1, der einzigen Stelle, wo Moria (mit geringer orthographischer Verschiedenheit) noch einmal genannt ist, die Stelle des Tempelberges meint, ist kein Zweifel. Aber unsere Erzählung meint ja ein Land Moria, von dem wir vollends nichts wissen. Außerdem fällt auf, daß die Chronikstelle den Ort von der Engelserscheinung vor David her bestimmt und nicht von unserer Geschichte her, die ihm doch die viel ältere Weihe gäbe. Vielleicht ist doch der Name Moria erst nachträglich von 2. Chron. 3,1 aus in unsere Geschichte eingedrungen, um sie als eine altjerusalemische Tradition zu beanspruchen (vielleicht nur durch Umvokalisation eines alten Namens). So könnte der alte, später verdrängte Name sich in der syrischen Übersetzung des Alten Testaments erhalten haben; sie liest statt „Moria“ „der Amoriter“. Wieder anders die LXX. Daß spätere Heiligtümer sich um die Ehre, als Traditionsträgerin dieser Begebenheit zu gelten, beworben haben, wäre begreiflich.
3-8 Auch hier verzichtet der Erzähler darauf, uns einen Blick in Abrahams Inneres zu geben (vgl. o. zu Kap. 21,14); er berichtet nur, wie Abraham, gemäß dem offenbar in der Nacht empfangenen Befehl gehandelt hat. Drei Tage war er unterwegs; [191] man sieht schon daraus, daß sein Gehorsam fest und nicht nur eine kurze Aufwallung war. Abraham gibt vor, mit Isaak auf einem Berg beten zu wollen, wie das damals auf Reisen wohl Brauch war. So trennt er sich von den Knechten; er kann sein Vorhaben nur durchführen, wenn er mit dem Kind ganz allein ist. — Von nun ab verlangsamt sich das Tempo der Erzählung merklich. Die Darstellung hat etwas Schleppendes und Umständliches; aber so gerade gibt sie dem Leser etwas von dem Quälenden dieses Weges zu spüren. Unser Erzähler übt ja nach der Seite des Gefühlsmäßigen hin eine keusche Zurückhaltung und handhabt vielmehr jene indirekte Methode in der Darstellung oder Andeutung von inneren Gemütszuständen mit großer Kunst. So zeigt er uns z. B. Abrahams fürsorgliche Liebe zu dem Kind an der Verteilung der Lasten: Die gefährlichen Gegenstände, an denen sich der Knabe verletzen könnte, Feuerbrand und Messer, trägt er selbst. Das „so gingen die beiden selbander“ läßt ahnen, wie der Knabe erst nach einer Weile das bedrückte Schweigen gebrochen haben mag. Und nach dem Gespräch wird der Satz wiederholt. Man sieht, wie die letzte Strecke des Weges schweigend gegangen wurde. Vor allem aber ist das Gespräch selbst trotz seiner äußersten Knappheit „ein wahres Seelengemälde“ (Pr.)[1]. Die Antwort des Alten auf die verständige Frage des Kindes ist zunächst einfach ausweichend. Sie ist wohl von „schonender Liebe“, aber gewiß nicht von „ahnender Hoffnung“ eingegeben (Del.), womit ja dem wesentlichsten Inhalt der Erzählung etwas abgebrochen würde. Tatsächlich ist die Antwort doppelsinnig, aber sie enthält eine Wahrheit, die Abraham selbst noch nicht bewußt ist. „Sie führt bis dicht an die Lösung, um dann abzubrechen und beide wieder ihren Gedanken zu überlassen.“ „Wieder senkt sich tiefes Schweigen herab, bis man angelangt ist; und auch dort wird nicht mehr gesprochen, sondern gehandelt“ (Jac.). Die Ausleger haben gern mit der Schilderung dieses Weges die von dem letzten Gang des Elia mit Elisa verglichen (2. Kön. 2,1-6).
9-14 Bei den Verrichtungen auf dem Berg verlangsamt sich die Erzählung noch einmal. Mit schrecklicher Genauigkeit werden die Einzelheiten vermerkt: Abraham baut den Altar — schichtet das Holz darauf — bindet Isaak — setzt ihn oben drauf — (nun sogar die einzelnen Bewegungen!) streckt die Hand aus — er nimmt das Messer. Auch hier ruft der Engel Gottes vom Himmel herab (vgl. zu Kap. 21,17 u. o. S. 150), und auch hier ist der Engel Gottes nur die Erscheinungsform, in der Gott selbst für Menschen sinnenfällig wird; ja hier scheint der Unterschied zwischen dem Engel und Jahwe fast ganz aufgehoben, denn es ist doch in allem Gottes Stimme, die an Abraham ergeht und die ihm feierlich das Prädikat „gottesfürchtig“ zuspricht.
Gottesfurcht: Man hat oft gesagt, „Gottesfurcht“ ersetze und umschreibe ungefähr den im Alten Testament fehlenden Begriff „Religion“. Doch ist dieser Satz einzuschränken, denn das Wort „Gottesfurcht“ macht kaum eine direkte [192] Aussage über eine besondere seelische Verfassung, über ein besonderes Gefühl der Gottheit gegenüber. Es ist nicht als eine besondere gefühlsmäßige Reaktion auf die als mysterium tremendum erfahrene Wirklichkeit Gottes zu denken. Daß das Alte Testament derlei kennt, ist nicht zu bestreiten; aber da, wo das Wort Gottesfurcht“ und „gottesfürchtig“ im Alten Testament anklingt, bezieht es sich nicht auf eine besondere Form seelischer Erschütterungen, sondern gleich auf die Folge davon, d. h. auf den Gehorsam (1.Mos. 20,11; 42,18; 2.Kö. 4,1; Jes. 11,2; Spr. 1,7; Hi. 1,1,8). Richtiger wäre es, das Wort Gottesfurcht einfach als ein Wort für Gehorsam den göttlichen Geboten gegenüber zu verstehen. Aber das Alte Testament ist sehr sparsam in der feierlichen Verleihung dieses Prädikats. Hier allerdings und etwa bei Hiob handelt es sich um exemplarische Erweise von solch gehorsamer Gottesfurcht (Hi.1,18).
Ob der Erzähler in der Existenz des Widders, der sich im Gebüsch verfangen hatte, ein reines Wunder sieht, ist zu bezweifeln (s o. zu Kap.21,19). Näher liegt die Annahme einer gewissen Milderung des Wunderhaften; es liegt darin, daß Abraham ihn jetzt sieht und daß er, der vielleicht vorher schon da war, für Abraham so greifbar zur Verfügung steht. — „Das kein Freudenlaut hörbar wird, gehört zur antiken Großartigkeit des Stückes, dem jeder sentimentale Zug fernliegt“ (Pr.). — Die Benennung des Orts, die Abraham nun vollzieht, war den Alten eine wichtige Sache, denn ein Ort, an dem Gott in so besonderer Weise erschienen war, behält seine Weihe für alle Nachgeborenen. Hier wird die Gottheit dann auch die Opfer und Gebete der Späteren annehmen, d. h. die Stätte wird ein Kultort. Merkwürdig ist freilich, daß der Erzähler dann doch keinen Namen eines bekannteren Kultorts mitzuteilen vermag; er gibt überhaupt keinen Ortsnamen, sondern nur ein Wortspiel, das zweifellos einmal einen Ortsnamen erklärt hat. Aber der Ortsname ist aus der Erzählung geschwunden, das Wortspiel ist allein übriggeblieben und eignet sich nun um so mehr zu einer feinen spielerischen Abwandlung des vorgegebenen Grundwortes „sehen“ vom Aktiv ins Passiv (Gott sieht — Gott läßt sich sehen, d. h. er erscheint). Die Gedanken werden nicht genau präzisiert (was sieht Gott? Abrahams Gehorsam? oder „ersieht“ er sich das wahre Opfer? oder allgemein: er sieht den Menschen und was ihm frommt?). Der Leser soll hier angeredet werden, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen (s. o. zu Kap. 16,13 f.).
15-19 Es ist deutlich zu spüren, daß die Erzählung hier mit V. 14 einmal geschlossen hat. Ihrem inneren Aufbau nach und ihrer ehemals kultischen Abzweckung nach hat sie mit der Gotteserscheinung, der Darbringung des Opfers und der Benennung des Ortes ihren Abschluß gefunden. „Zum zweiten Mal“ ertönt nun die Stimme Gottes. Diese andere Gottesrede ist der alten Kultlegende gegenüber sicher ein Zusatz, wenn auch schwerlich ein junger, denn das Hauptanliegen ist hier das der Verklammerung unserer Erzählung mit dem Verheißungsmotiv, das jetzt alle Abrahamserzählungen untereinander thematisch verbindet. Auch im Stil ist gegenüber der ausgesprochen verhaltenen Darstellungsart der Erzählung selbst ein großer Unterschied. Dieses Finale ladet gewaltig aus und feiert in höchsten Superlativen [193] den Sieger von Moria, der größer ist als der Sieger von Dan (Del.) —. Die Steigerung ist fast ins Übermäßige geraten: Daß Gott „bei sich selber schwört“, findet sich sonst in den Parallelstellen nicht mehr; daß in direkter Rede sein eigenes Wort als „Gerauntes von Jahwe“ bezeichnet wird, ist stilistisch etwas hart, und die Zusage, daß Abrahams Same „das Tor seiner Feinde einnehmen werde“, ist ein Gedanke, der dem Grundstock der Verheißungen noch fremd ist (vgl. 12,1-3,7; 13,14-16; 15,7,18; 24,7; 26,3,4,24; aber 24,60 nicht als göttliche Verheißung). — Eine spätjüdische Überlieferung weiß zu berichten, daß Sara nach der Rückkehr Abrahams und auf die Kunde von dem Geschehen hin sechs Schreie ausgestoßen habe und gestorben sei (Strack-Billerbeck IV, 181 f.).
Nachwort
Es mag deutlich geworden sein, daß die Erzählung in ihrer mutmaßlichen ältesten Fassung die Kultsage eines Heiligtums war, und als solche hat sie die Auslösung eines eigentlich von der Gottheit geforderten Kinderopfers durch -ein Tieropfer legitimiert.[2] Dieser Gehalt ist der jetzigen Erzählung ganz fremd geworden. Man sieht das am deutlichsten an dem Verlust des Namens des Kultortes. Mit der Ablösung der Erzählung von ihrem alten kultischen Haftpunkt entfiel das besondere Interesse an der Namengebung. Das, was ehedem das Wichtigste war, ist als Wortspiel zum erzählerischen Beiwerk geworden. Vielleicht ist auch der alte Name durch die spätere Verbindung der Erzählung mit dem „Land Moria“ hinfällig geworden. Soweit von der Vorgeschichte. Was ist aber nunmehr der Sinngehalt?
Bei einer Erzählung wie dieser, die offenbar viele Stadien der inneren Durcharbeitung durchlaufen hat, deren Stoff sozusagen bis zuletzt in Bewegung war, muß man von vornherein darauf verzichten, einen Grundgedanken als den Sinn des Ganzen auszuforschen. Sie hat viele Sinnschichten, und wer ihr auf den Grund gekommen zu sein meint, muß alsbald entdecken, daß darunter noch mehr Böden sind. Ein so reifer Erzähler wie dieser hat keineswegs die Absicht, den Sinn einer solchen Begebenheit genau zu umschreiben und den Leser darauf festzulegen. Im Gegenteil, eine Geschichte wie diese ist der Ausdeutung grundsätzlich offen, und zu welchen Gedanken auch immer der Leser angeregt wird, — der Erzähler gedenkt ihn daran nicht zu hindern; er berichtet ja ein Geschehnis und gibt keine Lehre. So gibt es für den Ausleger nur eine Schranke, die gilt aber absolut: Die Erzählung darf nicht als Darstellung einer geschichtslosen allgemeinen religiösen Wahrheit verstanden werden. Man hat in ihr den Protest einer erwachenden Humanität gegen das Kinderopfer gesehen, ja sie sogar als einen Markstein in der menschlichen Religionsgeschichte bezeichnet und in ihr Gedanken ausgesprochen gefunden, wie etwa in Uhlands Gedicht Ver sacrum: Gott will nicht den Tod, er will das [194] Leben. Aber will es schon schwerfallen, einer Erzählung wie dieser eine Tendenz oder Polemik zu unterstellen, so ist es doch unmöglich, ihr eine so theoretische Beschäftigung mit dem Phänomen „des“ Kinderopfers und einen derart religionsgeschichtlich programmatischen Charakter zuzutrauen, denn sie will doch ein Geschehen schildern, das sich in der durch die Berufung Abrahams angebahnten Heilsgeschichte begeben und dessen Rätselhaftigkeit nur in diesem Bereich seine inneren Voraussetzungen hat.
Da kommt die Auslegung der Sache gewiß schon viel näher, die in der Erzählung vor allem den Gedanken einer radikalen Gehorsamsprobe gefunden hat. Daß der Gott, der sich Israel geoffenbart hat, ganz frei ist in seinem Geben wie in seinem Nehmen, und daß ihn niemand fragen darf „was tust du“ (Hi. 9,12; Dan. 4,32), — das liegt zweifellos auch unserer Erzählung zugrunde. Aber man muß sich hüten, ihren Gehalt in einem allgemeinen Sinne als eine Frage nach der Bereitschaft zum Gehorsam zu verstehen und demgemäß alles Interesse auf die Bewährung Abrahams zu lenken (als einer „Kraftprobe von Abrahams Religion“, Pr.). Man muß vor allem Isaak in die Erwägungen einbeziehen, der doch viel mehr ist als nur das „Material der Pflichten“ für Abraham, d. h. der mehr oder minder zufällige Gegenstand, an dem sich sein Gehorsam zu bewähren hat. Isaak ist das Kind der Verheißung; in ihm ist all das umschlossen und verbürgt, was Gott an Heil zu wirken versprochen hatte. Es geht hier nicht um eine natürliche Gabe und sei es die höchste, sondern um das Entschwinden der ganzen Verheißung aus dem Leben Abrahams. So wird man gegenüber allen wehleidigen Bedenken gegen diese Erzählung leider nur sagen können, daß sie von etwas noch viel Schrecklicherem als von einem Kinderopfer handelt, nämlich von einem Weg in eine Gottverlassenheit hinaus, bei dem Abraham eben nicht weiß, daß Gott ihn damit nur versucht. Es steht wohl eine weiträumige Glaubenserfahrung hinter diesen 19 Versen, nämlich die, daß sich Jahwe oft zu widersprechen scheint, daß er sich stellt, als wolle er sein von ihm angebahntes Heil wieder aus der Geschichte herausnehmen. Damit aber prüft Jahwe den Glauben und den Gehorsam! Man mag aber noch eines erwägen: in dieser Versuchung stellt Gott an Abraham die Frage, ob er die Verheißungsgabe Gott auch wieder zurückgeben könne. Er müßte es können (und er hat es gekonnt), denn sie ist ja nicht ein Gut, das mit irgendeinem Rechtstitel, mit Hilfe eines menschlichen Anspruchs festgehalten werden dürfte. So stellt Gott also an Abraham die Frauge, ob er die Verheißungsgabe wirklich als ein reines Geschenk versteht (s. die vergleichbare Bestreitung eines Rechtsanspruches Kap. 48,8-14). Und endlich: Das spätere Israel, das diese Geschichte las und erzählte, konnte wohl nicht anders als sich in Isaak verkörpert zu sehen, d. h. also auf den Altar Jahwes gelegt, ihm zurückgegeben und dann allein von ihm das Leben zurückempfangend, d. h. nicht wie andere Völker, von eigenen Rechtstiteln her seine Existenz in der Geschichte begründend, sondern allein aus dem Willen dessen, der Isaak aus der Freiheit seines Geschichtswillens leben ließ. Liegt es so ferne, daß derjenige, der so zu erzählen verstand, nicht auch ziemlich hohe Ansprüche an die Gedanken seiner Zuhörer stellt?
Quelle: Gerhard von Rad, Das erste Buch Mose / Genesis, übersetzt und erklärt (ATD 2/4), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 91972, 188-194.
[1] „Es wäre eine Preisaufgabe für alle größten Dichter der Weltliteratur von Aischylos bis auf Shakespeare und bis auf Goethe: was sagten sich Abraham und Isaak einander, als sie miteinander zur Stelle gingen, wo der Vater den Sohn opfern sollte? … Hier ist die einfachste und absolute Lösung der Aufgabe“ (Steinthal nach Jac. S.496).
[2] Punische Stelen aus römischer Zeit lassen den Brauch erkennen, ein durch ein Gelübde der Gottheit verfallenes Kind durch ein Schafopfer wieder auszulösen. O. Eißfeldt, Molk als Opferbegriff, 1935, 1 ff.