Kirche im Spannungsfeld gestaltender Kräfte. Die Vielfalt von Bildern der Kirche im Urchristentum
Von Jürgen Roloff
Die Vorstellung, dass sich die Kirche von Jesus an geradlinig auf ihre bis heute maßgebliche Form hin entwickelt, müssen wir aufgeben. Die frühe Vielfalt der Gemeindemodelle zeigt vielmehr, dass (1.) unterschiedliches Selbstverständnis der Glaubenden und (2.) soziales Umfeld zu unterschiedlichen Lösungen führen konnte. Die folgenden zwei Beiträge nehmen diese Aspekte unter die Lupe.
Am Anfang war die Vielfalt. Die traditionelle Sichtweise, wonach Jesus selbst die Kirche gegründet und ihr die sie tragenden organisatorischen Strukturen eingestiftet habe, wird durch die kritische Analyse der neutestamentlichen Zeugnisse eindeutig widerlegt. Jesus von Nazaret war nicht Gründer, wohl aber der Grund der Kirche: Seine Botschaft und sein Wirken bildete den Ausgangspunkt eines Geschehens, das auf die Entstehung von Kirche hinführte.
Das frühchristliche Schrifttum vermittelt uns kein lückenloses Gesamtbild dieses Geschehens. Es beschränkt sich im wesentlichen auf fragmentarische Situationsschilderungen aus verschiedenen Gruppierungen und Gemeinden sowie auf manche eher zufällige Notizen über Personen und Situationen. Aus diesem Material ergibt sich das Bild einer großen, in manchem verwirrenden Vielfalt. Der romantische Gedanke eines organischen Wachstums, in dessen Verlauf die Kirche sich in ihrer Frühzeit gleichsam aus einem Keim, in dem bereits alles Spätere enthalten war, zielstrebig und bruchlos zu ihrer vollendeten Gestalt entwickelt hätte, so dass wir in deren Fülle, wie sie uns in der frühen nachapostolischen Zeit entgegentritt, die für alle Späteren maßgebliche Gestalt erkennen könnten, wird durch dieses Bild unwiderruflich widerlegt. Statt dessen bekommen wir eine Reihe unterschiedlicher Modelle von Kirche zu Gesicht, die zunächst nebeneinander, zuweilen auch in Konkurrenz zueinander bestanden haben.
Diese Vielfalt ist nicht das Produkt planlosen Wildwuchses. Nichts wäre verkehrter als der Schluss, für die Christen der Frühzeit sei allein ihr individuelles Glaubensleben wichtig gewesen, nicht jedoch die konkrete Sozialgestalt ihres vom gemeinsamen Glauben geprägten Miteinanders. Die Vielfalt konkreter Sozialgestalten des Glaubens verdankt sich – ganz im Gegenteil – der Einsicht der Christen der Frühzeit, dass christlicher Glaube, um authentisch gelebt zu werden, einer Gemeinschaftsform bedarf, die einerseits im Bezug zum jeweiligen sozialen Umfeld steht und andererseits dem Verständnis seines Auftrags in einer je spezifischen Situation einen angemessenen Rahmen zu geben vermag. Einflüsse aus dem gesellschaftlichen Umfeld haben zweifellos bei der Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens der Christusgläubigen eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Aber über dem Nachweis solcher organisatorischer Parallelen sollte man die prägende Kraft des Glaubens- und Selbstverständnisses der jeweiligen Gruppe nicht übersehen. In vielen – wenn auch vielleicht nicht in allen – Fällen wird man in ihr den letztlich entscheidenden Institutionalisierungsfaktor sehen dürfen.
Im Folgenden sollen fünf Modelle von Kirche, die im Neuen Testament sichtbar werden, vorgestellt und auf die sie prägenden Institutionalisierungsfaktoren hin befragt werden.
Vorspiel: Jesu Jüngerschaft – Dienstgemeinschaft im Zeichen der nahen Gottesherrschaft
Den Ausgangspunkt soll die Jüngergemeinschaft des vorösterlichen Jesus bilden – nicht als Maßstab und Urmodell von Kirche, wohl aber als eine Größe, die vielfältig wirksame Impulse gesetzt hat.
Jesus hat in seiner Verkündigung den Anbruch der endzeitlichen Gottesherrschaft ausgerufen und diese in seinem Wirken personhaft repräsentiert. Leitend war dabei für ihn der Zusammenhang zwischen Gottes Herrschaft und Gottes Volk. Dieses Volk Gottes war Israel. Die endzeitliche Heilsgemeinde, um deren Sammlung er sich bemühte, sollte In ihrem Kern das vollendete und erneuerte Zwölfstämmevolk sein. Sichtbare Gestalt gab Jesus dieser Hoffnung, indem er einen Kreis von zwölf Männern als besonders hervorgehobene Gruppe innerhalb seiner Anhängerschaft berief. Zu einer Zeit, in der von den ursprünglichen zwölf Stämmen des Volkes kaum mehr als zwei übrig geblieben waren, gewann die Zwölfzahl als Hinweis auf Gottes Plan, Israel in seiner ursprünglichen Ganzheit zu restituieren, eine unmittelbar sprechende Symbolkraft. Mit den „Zwölfen“ stellte Jesus dem Rest des dezimierten Volkes die Stammväter des von Gott zu seiner Fülle restituierten Zwölfstämmevolkes der Heilszeit sichtbar vor Augen – gleichsam als konkretes Angebot, sich um diese zu scharen (Mt 19,28). Es ist unverkennbar, dass Jesus damit auch auf patriarchalische Leitvorstellungen der damaligen Gesellschaft zurückgriff – allerdings in Zuordnung zu der zentralen eschatologischen Motivation seiner Botschaft von der Gottesherrschaft. Die „Zwölf“ waren nur ein Teil der sehr viel größeren Anhängerschaft Jesu, wenn auch vermöge ihrer Symbolkraft ein besonders hervorgehobener Teil.
Die gebräuchliche Bezeichnung „Jünger“ für die Gesamtheit dieser Anhängerschaft sagt wenig über Wesen und Struktur aus. Die hinter ihr stehenden griechischen bzw. hebräisch-aramäischen Vokabeln wären wörtlich mit „Schüler“ wiederzugeben und erfassen deshalb nur einen Teilbereich. Sicher hat das Lernen von Jesus, dem Lehrer, für die Jüngerschaft eine erhebliche Rolle gespielt. Aber Jesus unterschied sich markant von einem Rabbi, und seine Jüngerschaft hatte kaum etwas mit einem Lehrhaus zu tun, in dem es um die Unterweisung in den heiligen Überlieferungen Israels ging. Zentrale Aufgabe der Jünger war es vielmehr, an Jesu Auftrag mitzuwirken, Israel für die nahe Gottesherrschaft zu gewinnen (Mk 3,14). Sie traten in eine Dienst- und Schicksalsgemeinschaft mit ihm ein, die ganz im Zeichen der Endzeit stand. Der mit seinen Jüngern als Wanderprediger durch Galiläa ziehende Jesus mochte dabei äußerlich in mancher Hinsicht dem in der damaligen Umwelt geläufigen Bild wandernder kynischer Popularphilosophen entsprechen, die, gemeinsam mit ihren Anhängern, ihre kritische Distanz zu den üblichen gesellschaftlichen Lebensformen demonstrativ zur Schau stellten und dadurch auf die Zeitgenossen aufrüttelnd und provozierend wirkten. Aber die Jesusbewegung war keine Protestbewegung, sondern prophetisch-eschatologisch motiviert. Sie knüpfte in mancher Hinsicht an das Modell der frühen Prophetie in Israel an. Wie einst Elija und Elischa Schüler um sich gesammelt hatten, die aus den alltäglichen sozialen Bindungen heraustraten, um an ihrem von Gott gegebenen prophetischen Auftrag mitzuwirken (1Kön 19,19-21), so berief auch Jesus Jünger in seine „Nachfolge“, und d. h.: in die Dienst- und Schicksalsgemeinschaft mit ihm im Zeichen der Gottesherrschaft (Mk 1,16-20).
Die real erfahrene Nähe der Gottesherrschaft bestimmte denn auch die Sozialstruktur des Jüngerkreises konkret. Die Jünger wussten sich als die erste und urbildhafte Gruppe von Menschen, deren Zusammenleben unmittelbar von der Kraft des einbrechenden Neuen geprägt war. Für sie war der Verzicht auf Macht und Selbstdurchsetzung, die Distanzierung vom sonst menschliches Zusammenleben bestimmenden Schema des „unten“ und „oben“ nicht nur geboten, sondern auch möglich (Mk 10,41-44). Dass auch Frauen zum Jüngerkreis gehörten, war ein besonders eindrückliches Zeichen der die üblichen gesellschaftlichen Strukturen aufsprengenden Kraft des Neuen (Mk 15,40; Lk 8,1-3). Maßgeblich für das Verhalten der Jünger war das von Jesus gesetzte und vorgelebte Dienen (Lk 22,27). Vor allem aber entstand zwischen ihnen ein neuer familiärer Zusammenhang, der ganz im Zeichen des gemeinschaftlich realisierten Willens Gottes stand (Mk 3,34f). Kurz: der Jüngerkreis stellte durch seine Sozialstruktur die bereits erfahrbare Realität der Gottesherrschaft den Menschen in Israel werbend vor Augen und setzte damit ein Zeichen der Hoffnung (Mt 5,16).
Nun war allerdings die Jüngerschaft Jesu keineswegs eine homogene, in sich geschlossene Gruppe, sondern ein nach außen offener Kreis. Nicht alle Jünger/innen begleiteten Jesus auf seiner Wanderschaft und lebten konsequent nach der von der Gottesherrschaft gesetzten Norm. Es gab vielmehr auch eine nicht geringe Zahl von Jesusanhängern – oder sollte man von „Sympathisanten“ sprechen? – die grundsätzlich in ihrem normalen Lebensumfeld verblieben. Nur zeitweise mögen sie Jesus auf seiner Wanderschaft begleitet haben, im übrigen unterstützten sie ihn mit Geld und Sachgaben und öffneten ihre Häuser als Stützpunkte für ihn (Mk 14,3; Lk 10,38f; Joh 11,1f). Die Grenzen zwischen dem weiteren und dem engeren Kreis waren also fließend. Jeder und jede war frei, über den Grad der Zugehörigkeit selbst zu bestimmen. Darin reflektiert sich das Verständnis der Gottesherrschaft als eines Raums der Freiheit.
Modell I: Charismatische Boten des Auferstandenen
Fast völlig begraben unter dem Flugsand der Geschichte waren die Spuren jener Wandermissionare, die in den ersten Jahrzehnten nach Jesu Tod und Auferweckung in Galiläa und in den Landgebieten Syriens wirkten, bis es der Bibelwissenschaft gelang, sie durch sorgfältige Rekonstruktion und Auswertung der Quellen wieder ans Licht zu bringen. Inzwischen hat sich die Gewissheit verdichtet, dass wir es bei diesem Kreis mit einem eigenständigen frühen Modell von Kirche zu tun haben, das in mancher Hinsicht an die vorösterliche Jüngergemeinschaft anknüpfte. Die Glieder dieses Kreises waren wandernde Charismatiker, die eine von der Nähe der Gottesherrschaft geprägte Existenz führten. Sie ließen alles hinter sich, was sie am unbedingten und radikalen Einsatz für ihren Auftrag hätte hindern können: Jesus als den durch die Auferweckung als messianischer Lehrer der Endzeit Legitimierten auszurufen.
Die deutlichste Spur, die sie hinterlassen haben, ist die sogenannte Spruch- oder Logienquelle, eine Sammlung von Worten Jesu, die später von den Verfassern des Matthäus- und Lukasevangeliums aus Quelle verarbeitet worden ist und sich aus deren Werken rekonstruieren lässt. Bei ihr handelt es sich nicht um eine „heilige Schrift“ für die Gemeinde – denn Gemeinde im späteren Sinn kannte dieser Kreis nicht –, sondern um ein missionarisches Handbuch, das Materialien für die Verkündigung sowie Dienstanweisungen für den Kreis der Wanderradikalen (Lk 10,1-12; Mt 10,7-16) enthielt.
Diese Dienstanweisungen vermitteln einen unmittelbaren Eindruck vom Stil ihres Wirkens: Sie zogen rastlos von Ort zu Ort, ohne Proviant und Geld; selbst die Mitnahme sonst für Wanderer unentbehrlicher Ausrüstungsgegenstände war ihnen untersagt (Lk 10,4). Bereits ihr äußeres Erscheinungsbild sollte zeigen, dass sie in ihrer alleinigen Bindung an die Gottesherrschaft keiner äußeren Sicherung bedurften. In die Häuser, wo man sie aufnahm, brachten sie gleichsam leibhaft die Nähe der Gottesherrschaft, und zwar nicht nur durch ihre Verkündigung, sondern auch durch Heilung von Kranken (Lk 10,8f). Dort durften sie auch übernachten und sich sie verköstigen lassen, wobei sie aber den Eindruck vermeiden sollten, den ihre äußeren Erscheinung nahe legen konnte: dass sie zu jenen wandernden Scharlatanen und Wundertätern gehörten, die damals in großer Zahl auftraten und als Schmarotzer berüchtigt waren. Hier bestand also wegen weitgehender äußerer Gleichheit der Lebensformen offensichtlich Verwechslungsgefahr.
Im Verhältnis zwischen den wandernden Boten und den von ihnen besuchten „Häusern“ fand in gewisser Hinsicht das Verhältnis zwischen den aus normalen gesellschaftlichen Bindungen herausgetretenen Gliedern des engeren Jüngerkreises Jesu und den ortsfest gebliebenen Sympathisanten des weiteren Jüngerkreises seine Fortsetzung. Auch den Mitgliedern der „Häuser“, die sich als Schüler des messianischen Lehrers Jesus verstanden, wurde nicht zugemutet, die radikale Lebensform der wandernden Charismatiker zu übernehmen. Zunächst dürfte es wohl auch zwischen den zum Glauben gekommenen „Häusern“ noch keinen institutionalisierten Zusammenschluss gegeben haben. Sie blieben vielmehr im Verband des Judentums und seiner Synagogengemeinden.
Der Wanderradikalismus in seiner ursprünglichen Form ist um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert erloschen. Das Modell der radikalen Zeugengemeinschaft ist jedoch bis heute ein Erbe der Kirche geblieben, das immer wieder in den verschiedensten Gestalten in Erscheinung tritt – als eine beunruhigende Herausforderung für alle kirchliche „Normalität“.
Modell II: Jerusalem – Ort der Sammlung des Gottesvolkes
Zeitgleich mit dem galiläischen Modell der Botenschaft für den Auferstandenen durch seine wandernden Jünger bildete sich ein weiteres Modell von Kirche heraus. Seine Entstehung ist fest mit einem geografischen Ort verbunden: Jerusalem, der heiligen Stadt Israels. Dorthin kehrte der Kreis der „Zwölf“ unter Führung des Petrus zurück, unmittelbar nachdem ihm in Galiläa durch die Erscheinung des auferstandenen Jesus die Gewissheit zu Teil geworden war, dass Jesus durch Gottes Handeln zum endzeitlichen Herrscher erhöht worden war. Für diese Rückkehr nach Jerusalem, dem Ort der Feinde Jesu, konnte es nur einen Grund geben: dessen Status als heilige Stadt und Mitte des Gottesvolkes. In Jerusalem werde nach jüdischer apokalyptischer Erwartung die endzeitliche Erneuerung beginnen; um das Heiligtum seines Gottes werde sich dann das erneuerte Israel sammeln, und zuletzt werden sich auch die Weltvölker, angezogen durch dieses heilvolle Geschehen, zur großen Wallfahrt zum Zion aufmachen. Deuteten die Zwölf die Auferweckung Jesu als den Anbruch der Vollendungszeit, so ergab sich für sie daraus die Erwartung, die von Jesus erhoffte Sammlung Israels werde jetzt in Jerusalem ihren Anfang nehmen. Hier sollte sich demnach ihr Auftrag, Stammväter des vollendeten Zwölf-Stämme-Volkes zu sein, erfüllen. So traten sie dort an Pfingsten, dem nächsten auf Jesu Todespessach folgenden Wallfahrtsfest, erstmals in Erscheinung. Die Erinnerung an dieses Ereignis, das sie als Begabung mit dem endzeitlich wirkenden Gottesgeist verstanden, steht denn auch hinter dem Pfingstbericht (Apg 2).
Für die Jerusalemer Urgemeinde, die damit ins Leben trat, erwies sich das Motiv der Sammlung des Gottesvolkes als entscheidender Institutionalisierungsfaktor. Es wurde auch zu dem theologischen Programm, das sie während der gesamten Zeit ihrer Existenz vertrat. Die Bezeichnung „Urgemeinde“ ist allerdings in sofern irreführend, als diese Gemeinde gerade nicht das Urmodell für weitere Gemeindebildungen gewesen sein dürfte! Sie war von ihrem Selbstverständnis her vielmehr ein einmaliges, weil speziell an die theologische Bedeutung Jerusalems als Mittelpunkt des endzeitlichen Gottesvolkes gebundenes Phänomen. So hat sie denn zunächst auch nicht ihre Aufgabe in einer nach außen ausstrahlenden missionarischen Verkündigung, sondern im Zeugnis am Ort gesehen.
Mit dem Schwinden der eschatologischen Hochspannung der Anfangszeit dürfte es dann zu einer gewissen Modifikation ihres Selbstverständnisses gekommen sein, dahingehend, dass sie sich als maßgebliche Mitte und zentraler Bezugsort der weltweit entstehenden Kirche sah. Sie war es, die – stellvertretend für alle Christen – die zentrale Position in der Heiligen Stadt des Gottesvolkes aufrecht erhielt und damit deren Anspruch, Volk Gottes zu sein, sichtbar legitimierte. Repräsentiert wurde die Sonderstellung der Urgemeinde durch Leitungsgestalten, die mit großer Autorität ausgestattet waren – zunächst durch Kefas/Petrus, dann, während einer anscheinend nur kurzen Übergangsperiode, durch das Dreiergremium der sogenannten „Säulen“ Jakobus, Kefas und Johannes (Gal 2,9), und schließlich, über mehrere Jahrzehnte bis zu seinem Martyrium, durch Jakobus, den Bruder Jesu. Die Stellung aller dieser Männer gründete sich auf ihrer Berufung durch den Auferstandenen als Apostel. Sie waren demnach Empfänger eines sie als Traditionsträger und Leiter der Kirche autorisierenden Auftrags Jesu (1Kor 15,5- 8). Als solche hatten sie überörtliche Bedeutung.
Trotz ihrer maßgeblichen Prägung durch dem Christusgeschehen in einmaliger Weise zugeordnete Personen gab es in der Urgemeinde auch organisatorische Strukturen, die unmittelbar aus der jüdischen Umwelt übernommen waren. So nennt die Apostelgeschichte – fast in einem Atem mit Kefas/Petrus, Jakobus und den „Aposteln“ – „Älteste“ als Träger gemeindeleitender Funktionen (Apg 15,4.6). Das ist eine deutliche Anleihe bei der organisatorischen Struktur jüdischen Synagogengemeinden. Deren „Älteste“ waren durch ihr Lebensalter und ihre gesellschaftliche Stellung hervorgehobene Männer. Sie wurden im allgemeinen weniger wegen ihrer theologischen oder geistlichen Qualifikation, sondern in Folge ihres Ansehens, ihrer weitreichenden Verbindungen und ihrer Wohlhabenheit mit der Leitung von Synagogen beauftragt. Man erwartete von ihnen, dass sie den Status der Synagoge nach außen sicherten und sie finanziell unterstützten. Entsprechende Erwartungen dürfte auch die „Urgemeinde“ gegenüber ihren Ältesten gehabt haben – ein deutlicher Hinweis darauf, dass auch in ihr die Alltagsrealitäten ihr Recht gefordert haben.
Die „Urgemeinde“ konnte ihre Sonderstellung zumindest bis zum Tod des Jakobus behaupten. Ein unverdächtiger Zeuge dafür ist Paulus. Obwohl er – wie noch zu zeigen sein wird – ein von Jerusalem völlig abweichendes Modell von Kirche entwickelt hat, hat er faktisch die Autorität der Jerusalemer stets anerkannt. So hat er die auf dem Apostelkonzil gegenüber Jakobus eingegangene Verpflichtung der Einhebung der Kollekte (Gal 2,10) minutiös erfüllt; ja er hat sogar seine Reise zu Jakobus zur Überbringung der Kollekte als Demonstration kirchlicher Einheit inszeniert, indem er sich auf ihr von einer Delegation der heidenchristlichen Gemeinden begleiten ließ (Apg 20,1-6). Dass diese Gemeinden Teile des weltweiten Volkes Gottes waren, das war auch in seinen Augen durch deren Gemeinschaft mit Jerusalem, der Mitte des Gottesvolkes, sichergestellt.
Die Jerusalemer „Urgemeinde“ ist zwar in der Katastrophe des Jahres 70 untergegangen. Damit ist aber keineswegs auch das Modell einer um einen zentralen Mittelpunkt zentrierten Kirche endgültig von der Bildfläche verschwunden. So hat sich Antiochia zu Beginn des 2. Jahrhunderts als kirchliches Zentrum der Provinz Asien herausgestellt und für sich selbst als Bischofssitz überörtliche Autorität beansprucht. Und schon um die Mitte des 2. Jahrhunderts war es dann die Kirche Roms, die auf Grund ihrer zentralen Mittelpunktsstellung für sich den Anspruch gesamtkirchlicher Autorität begründete.
Modell III: Erkenntnisgemeinschaft unter der Leitung des Geistes
In eine ganz andere Welt führen uns die johanneischen Schriften: das Johannesevangelium und die drei Johannesbriefe. Auf Grund zahlreicher Indizien gelangte die neuere Forschung zu der Einsicht, dass wir es hier mit einer Literatur zu tun haben, die der Sprach- und Gedankenwelt einer weitgehend eigenständigen christlichen Gruppe entstammt.
Mögen dabei auch manche Rätsel und Unsicherheiten – vor allem hinsichtlich ihrer geografischen Lokalisierung (Ostjordanland? Kleinasien?) – bleiben, so dürfte immerhin zunächst dies deutlich sein: Diese Gruppe hatte die Struktur einer von prophetischem Geist geprägten Schule. Sie hatte sich um einen Lehrer gesammelt, der in pneumatischer Freiheit die Geschichte Jesu mittels ganz spezifischer Denkmuster eigenständig ausdeutete. Dieser Lehrer erhob für sich den Anspruch, Jesus besser zu verstehen als die autorisierten Augenzeugen und Träger der offiziellen Jesusüberlieferung, besser als insbesondere Petrus. Er steckt denn auch hinter der geheimnisvollen Gestalt des Jüngers, „den Jesus liebte“, die mehrfach an entscheidender Stelle im vierten Evangelium als auftaucht (z.B. Joh 13,23-25; 21,20-23). Von Jesus geliebt sein meint, in einem Verhältnis unmittelbarer verstehender Nähe zu ihm zu stehen, die nur vom Geist Gottes selbst erschlossen werden kann.
Wenn nun der von Jesus geliebte Jünger seinen Schülern solche Nähe erschließt, so ist dies ebenfalls ein Werk des Geistes. So weiß sich die johanneische Schule denn auch von einem ganz spezifischen Wirken des Heiligen Geistes geprägt und bestimmt. Der Geist begegnet ihr als Paraklet, d. h. als ihr Beistand, Helfer und Anwalt (Joh 14,16f). Er ist als Nachfolger Jesu in ihr gegenwärtig, um ihre Glieder in die ganze Wahrheit einzuführen (Joh 16,13f). So ist er der vollmächtige Interpret, der die in Jesus erschienene Wahrheit je in immer neuer Weise zur Sprache bringt. Das Programm der johanneischen Schule ist also die Erschließung einer durch den prophetisch wirkenden Geist vermittelten vertieften Erkenntnis Jesu.
Erschlossen wird solche Erkenntnis primär dem je einzelnen. Ein individualistischer Zug ist unverkennbar: Wie jede einzelne Rebe mit dem Weinstock, so ist jeder einzelne Glaubende mit Christus verbunden (Joh 15,1-8). Jesus, der „gute Hirte“ kennt jedes einzelne Schaf seiner Herde und wird von jedem gekannt (Joh 10,14). So ist es denn auch der einzelne Glaubende, dem ewiges Leben (Joh 6,53) und Christusgemeinschaft (Joh 6,56) zugesagt wird. Hingegen fehlt in der johanneischen Literatur der Gedanke an die Kirche als Volk Gottes ebenso wie der Hinweis auf deren Struktur, Ordnung und Verfassung. Die Gemeinschaft der Glaubenden bleibt zwar nicht ausgeblendet, aber sie erscheint als etwas Sekundäres: Weil die einzelnen Glaubenden mit Christus verbunden sind, darum sind sie auch untereinander in geschwisterlicher Liebe verbunden (Joh 15,12). Kirche ist nach johanneischer Sicht die Gemeinschaft der Freunde Jesu, die als solche auch untereinander Freunde sind (Joh 15,15).
Unverkennbar tritt in diesem Modell die missionarische Dimension zurück. Das Zeugnis nach außen – sei es für Israel oder auch für die Weltvölker – wird allenfalls am Rand thematisiert. Maßgeblicher Institutionalisierungsfaktor der johanneischen Gruppe ist also nicht der Zeugnisauftrag, sondern das Streben nach vertiefter individueller Christus- und Heilserkenntnis. Ein elitär-esoterischer Grundzug ist unverkennbar. Darin gründen gleichermaßen wirkungsgeschichtliche Attraktivität wie Problematik des johanneischen Modells.
Modell IV: Versammlung der Glaubenden am Ort als „Leib Christi“
Um die Mitte des 1. ersten nachchristlichen Jahrhunderts traten zwei Faktoren in Erscheinung, die Selbstverständnis und äußeres Erscheinungsbild der christlichen Bewegung in der Folgezeit fundamental verändern sollten. Der eine Faktor war die theologische Grundsatzentscheidung für die Heidenmission. Auch Menschen aus den „Weltvölkern“ wurde nunmehr der Zugang zum christlichen Glauben eröffnet, ohne dass sie zugleich Glieder des Gottesvolkes Israel werden mussten. Der andere war der Übergang vom Land in die Stadt. Das Christentum wurde Stadtreligion. In den großen, multikulturell geprägten Metropolen des römischen Imperiums – zunächst in Antiochia, dann, im Zuge der planmäßig nach Westen ausgreifenden Mission des Paulus, in Thessalonich, Korinth und Ephesus – gewann der Chris- tusglaube eine schnell wachsende Anhängerschaft. In ihr bildeten die Juden eine Minderheit, deren Bindung an die Synagogengemeinden sich überdies schnell auflöste. So lag es nahe, dass die herkunftsmäßig inhomogenen Gruppen von Christusgläubigen nach neuen Lebensräumen suchten, die ihnen Zugehörigkeit und soziale Beheimatung bieten konnten.
Attraktive Modelle dafür bot das antike Vereinswesen. Religiöse, ethnische und soziale Gruppierungen erwählten sich einen Gott zum Patron, in dessen Zeichen sie regelmäßige festliche Mahlzeiten veranstalteten. Diese fanden entweder in Räumen von Heiligtümern, oder auch in Privathäusern statt, deren Besitzern dadurch eine besondere Rolle als Wohltäter und Gastgeber zufiel. So wissen wir aus dem 1. Korintherbrief des Paulus, dass sich in Korinth solche vereinsmäßige Strukturen unter den Christen herausgebildet hatten, und anderswo dürfte es ähnlich gewesen sein.
Paulus übt zwar an Fehlentwicklungen dieser Strukturen begründete Kritik, völlig in Frage stellt er sie jedoch nicht. Vielmehr entwickelt er ein Modell für deren Neugestaltung. Dieses gründet in der Zuversicht, dass gerade von den zentralen Motiven des Christusglaubens eine unwiderstehliche gemeinschaftsbildende Kraft ausgeht. Dieses Modell besagt: Kirche ist die jeweilige örtliche Gemeinschaft am Tisch des Herrn. Dort empfangen die „Vielen“, also Vereinzelte und Heimatlose, Menschen unterschiedlicher Herkunft und gesellschaftlicher Stellung, den „Leib Christi“, den konzentrierten Ertrag der dienenden Selbsthingabe des sich in den Tod hingebenden Herrn. Damit werden sie selbst zum „Leib Christi“; sie werden hineingenommen in eine verbindliche Gemeinschaft, die durch Teilhabe entsteht: „Weil ein Brot ist, darum sind wir, die Vielen, ein Leib, denn als die Vielen haben wir Anteil an dem einen Brot.“ (1Kor 10,17). Kirche ist demnach im eucharistischen Gottesdienst begründete Lebens- und Dienstgemeinschaft. Sie ist eine durch das Christusgeschehen verbindlich geprägte Sozialstruktur. Im geschwisterlichen Miteinander ihrer Glieder erweist der lebendige Christus selbst seine gegenwärtige Geschichtsmächtigkeit (1Kor 12,12-27).
Auf drei bedeutsame Konsequenzen dieses paulinischen Modells sei hier noch besonders verwiesen. Es stellte erstens die gottesdienstliche Versammlung als das für die Existenz von Kirche zentrale Geschehen heraus. „Kirche“ ist da, wo Christusgläubige zusammenkommen zum Hören des Wortes und zur eucharistischen Gemeinschaft am Tisch des Herrn. So ist für Paulus das Wort ekklesia zu aller erst Bezeichnung der gottesdienstlichen Versammlung (1 Kor 11,18). In ihr – und nirgends anders – gewinnt Kirche ihre konkrete geschichtliche Gestalt. Zweitens ist Kirche im Rahmen dieses Modells eine primär ortsbezogene Größe. So hat Paulus, wenn er von Kirche spricht, durchweg die konkrete örtliche Versammlung im Blick. Durch das, was in ihr durch den lebendigen Christus gewirkt wird, wird Kirche zur lebendigen Realität. Das Verständnis der Kirche als Volk Gottes geht darüber zwar nicht verloren, tritt aber doch gegenüber dem Leib-Christi-Motiv zurück. Alles liegt daran, dass jeweils am Ort die Christusgemeinschaft in Lebensbezügen ihren Ausdruck findet. Deshalb darf es keine lokalen Gruppenbildungen geben. Wo – wie etwa in Korinth – mehrere Hausgemeinden nebeneinander existierten, entstanden, von Paulus gefördert, neben deren Gottesdiensten auch gesamtgemeindliche gottesdienstliche Versammlungen, in denen die örtliche Einheit sichtbar wurde (1Kor 14,23). Drittens konnte sich in den paulinischen Gemeinden ein System gemeindeleitender Ämter entwickeln, das an der Struktur dieses Modells orientiert war: Aus dem Vorsitzenden bei den eucharistischen Versammlungen wurde der Episkope, der Verantwortung für die Leitung der örtlichen Gemeinde trug, und aus dessen Helfern wurden die Diakone, die für organisatorische und karitative Dienste zuständig waren (Phil 1,1).
Modell V: Das patriarchalisch geordnete Hauswesen Gottes
Das paulinische Kirchenmodell hat sich in den überwiegend heidenchristlichen Gemeinden weithin durchgesetzt. Aber es blieb auf die Dauer nicht unverändert. Um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert, in der Zeit der sogenannten „dritten christlichen Generation“, kamen auf die Kirche neue Herausforderungen zu. Weil sich die Hoffnung auf die baldige Parusie des Herrn nicht erfüllt hatte, musste sie sich auf einen längeren Weg durch die Geschichte einrichten. Wie konnte sie in sich verändernden Zeiten und Verhältnissen ihre Identität bewahren? Das war die große Frage. Sie wurde um so dringlicher, als die Rückbindung der Kirche an die Ursprungszeit ihre anfängliche Fraglosigkeit verlor. Die Apostel und die übrigen maßgeblichen Zeugen des Christusgeschehens waren entschwunden. Unterschiedliche, ja widersprüchliche Gestalten der Überlieferung lagen im Kampf miteinander. Vor allem die gnostische Bewegung, die sich auf neue, geheime Offenbarungen berief, verunsicherte die Gemeinden. Dazu kam noch ein Weiteres: Eine Ortsbestimmung der Kirche im Verhältnis zu den Institutionen und Lebensformen der hellenistisch-römischen Gesellschaft erwies sich als unumgänglich.
Aus alledem ergaben sich institutionalisierungswirksame Impulse, die im Schrifttum der Paulusschule, vor allem in den drei Pastoralbriefen sowie im Epheserbrief, ihren programmatischen Niederschlag gefunden haben. In ihnen begegnet uns das paulinische Kirchenmodell in einer so stark veränderten Form, dass man von einem neuen Modell sprechen sollte.
Charakteristisch für dieses Modell ist vor allem seine Ausrichtung am patriarchalischen Leitbild der Institutionen der spätantiken Gesellschaft. Die örtliche Gemeinde erscheint als „Haus Gottes“ (1 Tim 3,15) im Sinn einer Großfamilie mit streng abgestuften Rechten und Kompetenzen ihrer Mitglieder. Sie ist streng von oben nach unten durchkonstruiert. Oben steht der gemeindeleitende Episkope. Er hat die Rolle des Hausvaters. Entscheidendes Qualifikationsmerkmal für ihn ist darum, dass er seine autoritative Leitungskompetenz bereits in der eigenen Familie unter Beweis gestellt hat (1Tim 3,4). Er allein vertritt die Gemeinde nach außen und wacht über ihre rechte Ordnung nach innen. Ihm untergeordnet sind die Diakone (1Tim 3,8-13). Ganz unten stehen die Frauen. Sie werden zu strikter Unterordnung angewiesen. Jedes eigenständige aktive Wirken in der Gemeinde ist ihnen untersagt (1Tim 2,9-15).
Der zentral das Gemeindeleben bestimmende Faktor ist nun nicht mehr das von Christus geprägte Verhältnis der einzelnen Glaubenden zueinander, sondern das Verhältnis des Gemeindeleiters zu ihnen: war es doch zu aller erst die Einsetzung gemeindeleitender Amtsträger, durch die Christus die Entstehung von Kirche ermöglicht hatte (Eph 4,7-16). Der Auftrag der Gemeindeleiter geht demnach auf Christus selbst zurück – dies freilich nicht direkt, sondern über die Vermittlung der Apostel. Damit kommt der Sukzessionsgedanke ins Spiel. Durch die Amtsträger wird der Auftrag Christi an die Apostel, Kirche zu bauen und zu gestalten, weitergeführt. Die Verkündigung der Amtsträger ist an die durch die Apostel – und das heißt in den paulinischen Gemeinden konkret: durch Paulus – gesetzte Norm gebunden und muss sich kritisch an dieser messen lassen. Ebenso sind Verhalten und Lebenszeugnis der Amtsträger am normativen Leitbild apostolischer Existenz zu messen, das wiederum am Leitbild Jesu Christi orientiert ist (2 Tim 2,1-13). Apostolische Sukzession ist hier allerdings noch schwerlich im Sinn einer äußerlich aufweisbaren geschichtlichen Kontinuität zu verstehen, sondern als inhaltlich-sachliche Entsprechung, anhand derer sich die ungebrochene Kontinuität der Kirche mit den sie tragenden Anfängen aufweisen lässt.
Dieses patriarchalische Kirchenmodell ist sicherlich nicht der Gipfel, auf den alle Linien neutestamentlicher Ekklesiologie zulaufen. Dafür ist es zu einseitig. Es ist aber auch schwerlich ein Abfall von der anfänglichen Gestalt von Kirche. Denn eine solche einheitliche Anfangsgestalt hat es nicht gegeben. Es hat seine Bedeutung vielmehr als ein Versuch, neue Einsichten und Probleme aufzunehmen und institutionsgestaltend umzusetzen. Ob und wie weit er gelungen ist, das ist freilich eine Frage, die gerade wegen der großen Wirkungsgeschichte dieses Modells dringend der Diskussion bedarf.
Quelle: Bibel und Kirche 56, 4/2001, S. 203-211.