Wilhelm Vischer, Alttestamentliche Vorbilder unseres Pfarramts (1958): „Ein Pfarrer, dem das aufgegangen ist, der liest die Bibel mit offenen Sinnen für das, was um ihn herum vor sich geht. Das Problem «Christ und Welt» bewegt er in Fragen und Antworten. Er ist in der Gefahr, sich zu zersplittern. Weil man ihn von allen Seiten um seine Ansicht fragt, bildet er sich ein, er verstehe alles. Und am größten ist die Gefahr, dass er Christus verleugnet, indem er das sagt, was man gern hört, und zu dem rät, was Erfolg verspricht.“

Alttestamentliche Vorbilder unseres Pfarramts

Von Wilhelm Vischer

Der Hirt

An ihn denken wir zuerst, heißt doch in manchen Kirchen der Pfarrer geradezu der «Pastor». Bei genauerem Zusehen wird es je­doch fraglich, ob wir Pfarrer heute den Anspruch dieses alttestamentlichen Vorbilds erfüllen, ob unsere Kirchen das überhaupt von uns erwarten.

Im Alten Testament sind nämlich die Hirten nicht «Geistliche», sondern die politischen Führer des Volkes: der König, die mit ihm verantwortlichen Männer der Regierung und die Führer des Heers. Vor ihnen und, wenn sie ihre Sache gut machen, mittelbar durch sie, sonst eben ohne sie oder gar gegen sie, ist Gott selber «der Hirte Israels» (Ps. 80, 2). Als solcher ist er viel mehr als etwa die religiöse Komponente einer Menschengruppe. Israel, die Herde des HErrn, lebt vollständig von Ihm. Ihm verdankt es sein Dasein: «Er hat uns gemacht, und nicht wir selbst, zu seinem Volk und zu Schafen seiner Weide.» Deshalb soll am Dasein Israels «die ganze Erde (das heißt alles, was auf ihr lebt) erkennen, daß Er, der HErr, Gott ist» (Ps. 100), dessen Wirklichkeit nicht ein ideologischer Überbau, sondern der Grund alles Daseins ist.

Aus Schafen, die Er den Händen der Schlächter entrissen hat, bildet Er seine Herde. Er geht ihnen voran durch die Wüste. Er gibt ihnen sein heiliges Bergland zur Weide. Er nährt sie, Er macht aus ihnen eine Gemeinschaft, Er leitet sie quer durch die Weltgeschichte und verteidigt sie gegen die Wölfe. Sie existieren davon, daß sie seine Stimme hören (Ps. 78, 52-56; 23, 1-4; 95, 7).

Sein erster Hirtenknecht war Mose. Als Säugling aus dem Wasser gezogen, am Hofe Pharaos in der Weisheit der Ägypter ausgebildet, von dort in die Wüste geflüchtet und für die längste Zeit seines Lebens Schaf hirte auf den Bergen Midians geworden; so vorbereitet, erhält er aus dem feurigen Busch den Befehl, die Herde des HErrn in die Freiheit zu führen (Jes. 63, 10-14). Aaron soll ihm dabei helfen. Wenn Aaron in einem gefährlichen Augenblick meint, es gelte die religiösen Bedürfnisse einer Menge zu befriedigen, so verurteilt Gott das als die gröbste Verirrung. Der Hirtendienst, zu dem Mose be­rufen ist, hat einen ganz andern Auftrag. Er soll aus einem Menschen­haufen ein Volk schallen, vorderhand einzig in seinen- Art, aber das Muster für das, was aus der ganzen Menschheit werden soll, nämlich ein Volk, das nicht durch Hunger nach Nahrung und Macht zusam­men- und vorwärtsgetrieben wird, sondern vereinigt und geleitet wird durch die Stimme des einen wahren Hirten, die mit keiner andern, auch nicht mit der Stimme des eigenen Herzens verwechselt werden kann.

Die Mannigfaltigkeit dieses eigentümlichen politischen Amtes zeigt sich, wenn der HErr bei der Ansiedlung seines Volkes im Heili­gen Land « die Richter zu Hirten seines Volkes bestellt» (2. Sam. 7, 7). Sei’s Ehud, der linkshändige Tyrannenmörder, sei’s Debora, die Mutter in Israel, sei’s Gideon oder Jephta oder Simson oder welcher sonst, wenn der Geist des HErrn über sie kommt, dann führen sie die Herde aus dem Zwang wieder in die Freiheit des auserwählten Volkes, über das kein Mensch herrschen soll, weil der HErr selbst und allein über es herrschen will (Richt. 8, 23).

Die Richterzeit endet mit dem Ergebnis, daß Israel sich als unfähig erweist, diese reichsunmittelbare Freiheit zu leben. Um nicht unter­zugehen, verlangen seine Ältesten von Samuel: Setze einen König über uns, daß er uns regiere, wie es bei allen Völkern der Brauch ist. Wenn Gott Samuel anweist, diesem Begehren zu willfahren, so heißt das keineswegs, Er verzichte darauf, selbst der König dieses Volkes zu sein und hebe damit das Sonderrecht auf, das die Einzigartigkeit Israels innerhalb der Weltpolitik begründet. Im Gegenteil, durch die Person und das Amt des Königs will der unsichtbare Hirte seiner Herde sichtbarer gegenwärtig sein. Das muß der zum Kenia berufene Mensch wohl verstanden haben, sonst ist er unbrauchbar. Deshalb urteilt Golt nach den biblischen Berichten so anders über die Könige von Israel und Juda, daß er je nachdem an ihnen tadelt, was Königen anderer Völker zum Lob gereichen könnte. Am schärfsten, um nicht zu sagen am anstößigsten, ist das gleich beim ersten König, bei der Verwerfung Sauls.

Der Mann, den der HErr «nach seinem Herzen gesucht hat» und als Fürsten über sein Volk bestellt, ist David ben Isai (1. Sam. 13, 14). Er ist für alle Zeiten das vorbildliche Abbild des guten Hirten. Als der jüngste von acht Brüdern hütet er die Schafe seines Vaters auf der Flur Bethlehems. Von der Weide hinter den Schafen weg holt ihn der HErr der Heerscharen, damit er Fürst werde über sein Volk Israel (2. Sam. 7, 8). Im Augenblick, wo Samuel ihn salbt, kommt der Geist des HErrn über ihn «und bleibt auf ihm von jenem Tag an» (1. Sam. 16, 13).

Täuschen wir uns nicht! Das heißt nicht, das Vorbildliche an David sei, daß er, etwa im Gegensatz zu Saul, «rein geistlich» empfunden und gehandelt habe, in dem Sinn, wie wir das Wort «geistlich» meist verstehen. In den Chronikbüchern scheint es fast ein wenig so. Der Bericht in den Samuelbüchern hingegen, den wir wahrschein­lich Abjathar verdanken, «der die Lade Gottes des HErrn vor David getragen und alles mitgelitten hat, was David gelitten hat» (1. Kön. 2, 26), bringt unter allen Menschen des Alten Testaments den Hirten nach dem Herzen Gottes uns menschlich am nächsten. Als Hirten­knabe hat er geübt, glatte Steine zu schleudern. Kam der Löwe oder der Bär und trug ein Schaf weg von der Herde, so lief er ihm nach, erschlug ihn und riß es ihm aus dem Rachen; erhob er sich aber wider ihn, so ergriff er ihn beim Bart und schlug ihn tot. Im Ver­trauen auf den HErrn, der ihn aus der Tatze des Löwen und des Bären errettet hat, wagt er es, mit dem Hirtenstock und der Schleuder dem schwer bewaffneten Riesen entgegenzutreten, der die Schlacht­reihen des lebendigen Gottes verhöhnt hat (1. Sam. 17). Er dichtet, singt und spielt, liebt leidenschaftlich, wird Söldnerführer, Diplomat, Politiker. Und das Wesentliche ist, daß in allem, vom Anfang bis zum Ende seines bewegten Lebens, in seinem Glauben und in seiner Schuld, «Gott mit ihm ist» (2. Sam. 7, 9). Der HErr ist sein Hirt. So beweist Er sich durch seinen Knecht David und dessen Königtum am vollkommensten als den Hirten Israels.

An seinem Vorbild werden seine Nachfolger auf dem Thron ge­messen. Wenn trotz ihrer Untreue Gott die Nachkommen Davids weiterhin Könige sein läßt und sein auserwähltes Volk nicht preis­gibt, so tut Er es «um seines Knechtes David willen» und wegen des Versprechens, das Er ihm gegeben hat (1. Kön. 15, 1-5; 2. Kön. 8, 19).

Bestimmte Vorwürfe gegen einzelne dieser schlechten Hirten und das zusammenfassende Urteil über sie, nachdem der nordisraelitische Teil der Herde völlig zersprengt ist, und unmittelbar bevor der judäische Rest nach Babylonien getrieben wird, können wir bei Jeremia lesen unter der Überschrift «An das Königshaus von Juda» (Jer. 21, 11-23, 8), deutlich unterschieden von den «An die Pro­pheten» gerichteten Vorwürfen (23, 9-40). Hesekiel, der mitdeportiert wird und von Gott den Auftrag erhält, die Exilsgemeinde zu grün­den, drückt das Widersinnige in der Amtsführung der schlechten Hir­ten unübertrefflich aus mit dem Wort: sie haben sich selbst geweidet.

Weh den Hirten Israels, die sich selbst geweidet haben!
Sollen die Hirten nicht die Schafe weiden?
Die Milch genießt ihr,
mit der Wolle bekleidet ihr euch,
und das Gemästete schlachtet ihr;
die Schafe aber weidet ihr nicht.
Das Schwache habt ihr nicht gestärkt,
das Kranke nicht geheilt,
und das Gebrochene nicht verbunden.
Ihr habt das Versprengte nicht heimgeholt
und das Verirrte nicht gesucht,
und das Kräftige habt ihr gewalttätig niedergetreten.
So zerstreuten sich meine Schafe,
weil kein Hirte da war,
und wurden allem Getier des Feldes zum Fraß.

(Hes. 34)

Es ist auffallend, wie stark in diesem Bild die Fürsorge für die Schwachen als die wichtigste Pflicht der Regierung hervorgehoben wird. Das entspricht der sozialen Gesetzgebung Israels und ist darin begründet, daß der HErr der Welt bei seinem Eingriff in die Politik sich hinabbeugt zu den Unterdrückten. Indem Er sich mit den Hirtenstämmen Israels gegen die Großmacht Ägyptens verbündete, fing Er an, die politische Ordnung der Ausbeutung der Schwachen durch die Starken umzudrehen. Deshalb ist es verhängnisvoll, wenn die Könige Israels, statt nach Gottes Art, nach dem allgemein üblichen verkehrten Brauch der Welt regieren. Gott kann das nicht hingehen lassen, weil dadurch die ganze Erwählung Israels widersinnig wird. An Israel muß es deutlich werden vor aller Welt, daß solches Re­gieren gegen den Willen Gottes ist, zur Verelendung des Volkes und zum Verlust der politischen Existenz führt. Die Herde des HErrn wird zersprengt und den wilden Tieren zum Fraß überlassen.

So ist es folgerichtig, und das hätte wohl das Ende der Geschichte des auserwählten Volkes sein können. Im Augenblick, wo der letzte Rest unter die Völker zerstreut wird, erklären die beiden Propheten Jeremia und Hesekiel, daß darin Gottes Gerechtigkeit geschieht. Aber wunderbarerweise ist das nur der Vordersatz ihrer Botschaft. Ihr Hauptsatz lautet:

So spricht der HErr:
Siehe, ich, ich selbst
will nach meinen Schafen fragen,
will nach ihnen sehen.
Wie ein Hirt nach seiner Herde sieht
am Tage des Unwetters, wenn seine Schafe versprengt sind,
so werde ich nach meinen Schafen sehen
und sie erretten von allen Orten,
wohin sie zerstreut sind
am Tag des Gewölks und des Dunkels.
Ich werde sie aus den Völkern herausführen
und sie aus den Ländern sammeln.
Ich werde sie in ihre Heimat führen
und werde sie weiden auf den Bergen Israels.

Statt daß das Versagen der bestellten Hirten zum Untergang der Herde führt, veranlaßt es Gott dazu, sich persönlich der Herde und jedes einzelnen Schafes anzunehmen. Von da an wird in der biblischen Entwicklung das Individuum, der einzelne wichtig. Jedem einzelnen geht der göttliche Hirte nach. Auch «richtet Er zwischen Schaf und Schaf», das heißt Er bringt die einzelnen Mitglieder des Volks in die rechte Ordnung zueinander.

Bezeichnenderweise schließt dieses unmittelbare Eingreifen Gottes nicht aus, daß Er in der Zukunft wieder Hirtenknechte braucht. Durch Jeremia kündet Er an:

Dann setze ich über sie Hirten, die sie weiden,
daß sie sich nicht mehr fürchten
und nicht mehr erschrecken müssen,
und keines von ihnen vermißt wird.

Gott tut das in einer besonderen Absicht. Diese neuen Hirten­knechte haben das Volk auf eine letzte Neuordnung vorzubereiten:

Siehe, es kommen Tage, spricht der HErr,
da werde ich dem David einen gerechten Sproß erwecken.
Der wird als König herrschen und weise regieren
und Recht und Gerechtigkeit üben im Lande.

Oder wie Hesekiel es sagen muß:

Ich werde über sie einen einzigen Hirten bestellen,
der sie weiden soll,
meinen Knecht David.
Ich, der HErr, werde ihr Gott sein,
und mein Knecht David
wird Fürst sein in ihrer Mitte.

(Jer. 23, 1-8; Hes. 34 und 37, 15-28; dazu Amos 9, 11; Hos. 3, 5; Jes. 7, 1-9; 11, 1-10; Micha 2, 12. 13; 4, 6-8; 5, 1-3; 7, 14.)

Ein halbes Jahrhundert darauf lüftet Gott das Geheimnis, wie Er seine Herde rettet. Durch den großen Propheten, dessen Name ver­borgen bleibt, kündet Er an, Er werde demnächst sein Volk aus der babylonischen Gefangenschaft in heiliger Prozession zu seinem irdi­schen Königssitz Zion zurückgeleiten:

Siehe da, Gott der HErr!
Er zieht einher in Kraft,
und sein Arm schafft ihm den Sieg.
Er weidet seine Herde wie ein Hirt,
sammelt sie mit seinem Arm.
Die Lämmer trägt er in seinem Busen,
Die Mutterschafe leitet er sanft.

(Jes. 40, 10 f.; dazu 49, 9-12)

Auch nach dieser Botschaft führt der HErr seine Herde nicht ohne Knechte. Ihre Wahl überrascht in höchstem Maß. Der eine ist näm­lich der Perserkönig Cyrus. Ihn hat der HErr bei der Rechten er­griffen, ihm Völker und Könige übergeben mit dem entscheidenden Ziel, daß das auserwählte Volk in seine Heimat zurückkehre und seinen Priesterdienst für die Menschheit wieder aufnehme.

Er spricht zu Cyrus: «Mein Hirt!»
und all mein Vorhaben soll er vollführen.

(Jes. 44, 28)

Die unerhörte Mitteilung, daß Gott einen nichtisraelitischen Welteroberer beauftrage, als sein Hirt das auserwählte Volk nach Zion zurückzuführen, wird vertieft und überboten durch den Hinweis auf einen andern Knecht, durch dessen Martyrium Gott das Gericht über das untreue Volk wendet und es neu heiligt für den Priesterdienst, seine Gnade allen Menschen zu vermitteln.

Durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht,
der Gerechte, viele gerecht machen.
Denn er trägt ihre Sünden.

Alle, die das erkennen, stimmen ein in das Bekenntnis:

Wir gingen alle in der Irre wie Schafe,
ein jeglicher sah auf seinen Weg.
Aber der HErr warf unser aller Sünde auf ihn.

Da er gestraft und gemartert ward,
tat er seinen Mund nicht auf
wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wird,
und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer
und seinen Mund nicht auftut.

(Jes. 53)

Das letzte, was im Alten Testament über den Hirten und die Hirten gesagt wird, ist sehr dunkel. Es sind die Bildreden Sacharja 11, 4-17 und 13, 7-9. Was da steht, ist nicht nur in dem Sinn dunkel, daß die Worte schwer zu deuten sind, sondern noch viel mehr durch die düstere Ankündigung, das Hirtenamt ende erfolglos.

«Weide die Schlachtschafe!» befiehlt Gott dem Propheten. Denn die Herde des HErrn wird nur noch als Schlachtvieh betrachtet, und die Verkäufer gratulieren sich, gottseidank gute Geschäfte zu machen. Der Prophet muß in einem Monat drei Hirten entlassen. Dann ver­liert er selbst die Geduld, und die Schafe werden seiner überdrüssig. Er verlangt seinen Lohn und wirft die dreißig Silberlinge in den Opferstock des Tempels. Die beiden Hirtenstäbe «Freundschaft» und «Eintracht» zerbricht er (11, 4-14).

Nochmals muß der Prophet einen Hirten vorstellen, diesmal einen ruchlosen. Denn einen solchen wird Gott über das Land bestellen und ihn verfluchen (11, 15-17).

Schließlich ruft Gott das Schwert gegen einen, den Er seinen Hirten nennt, «den Mann, der mir am nächsten steht».

Ich schlage den Hirten,
daß die Schafe sich zerstreuen.

Nur ein kleiner, durch das Feuer geretteter und gereinigter Rest wird übrigbleiben. Zu ihnen wird Gott sagen: Mein Volk sind sie. Und sie werden sagen: Der HErr ist unser Gott (13, 7-9).

Es handelt sich jedenfalls um das jüdische Volk in der nachexilischen Zeit. Wir verzichten jetzt darauf, die Worte des Propheten auf diese oder jene geschichtliche Gestalt zu deuten. Nur das wollen wir fragen, nachdem wir festgestellt haben, daß bisher an allen Stellen die Hirten politische Führer waren, ob das auch hier noch anzunehmen ist. Sollten Könige gemeint sein, dann müßten wir entweder an die fremden Herrscher denken, die in nachexilischer Zeit die Oberhoheit über den jüdischen Staat hatten, oder wir müßten die Worte des Propheten auf Makkabäer beziehen. Näher hegt doch wohl die Annahme, daß die scharfe Kritik an den Hirten Hohepriester betrifft, deren außenpolitische Macht allerdings beschränkt, deren Verantwortung für die jüdische Gemeinschaft jedoch groß war.

Auf alle Fälle ist von dem einzigartigen politischen Anspruch, den Gott durch den Bund mit Israel erhoben haL, nach der babylonischen Gefangenschaft nicht mehr viel zu spüren. Aus dem Bund der freien Eidgenossen des HErrn ist eine religiöse Gemeinde geworden. Unter der Asche glimmt aber die Glut der Gottesherrschaft fort. Im Auf­stand der Makkabäer schlägt die Flamme heraus, entartet aber schnell in nationalistischem Chauvinismus, Tyrannei und Bruderzwist, so daß schließlich das römische Reich als «Schutzmacht» angerufen wird.

Was folgt aus alledem für unser Pfarramt? Ergibt sich der Schluß, daß Gott selbst verzichtet hat auf die Herrschaft, die im Alten Testa­ment den Begriff des Hirten prägte? Kann in der Christenheit das Hirtenamt nur noch als religiöse Führung verstanden und verwaltet werden?

Das ist die allgemeine Ansicht. Das Evangelium lautet jedoch ganz anders. Schon das Wort Evangelium bedeutet die Meldung eines Sieges. Von Anfang an ist klar, um welchen Sieg es sich handelt. Die Botschaft Johannes des Täufers, die Jesus nach der Hinrichtung dieses Wegbereiters mit höchster Vollmacht aufnimmt, ist zusammengefaßt in den Worten: Die Königsherrschaft Gottes ist nahe herbeigekom­men. Daß Jesus das politische Versprechen einlöst, das Gott als der Hirt Israels gegeben hat, wird unmißverständlich ausgedrückt durch den zusammenfassenden Bericht über seine Tätigkeit (Matth. 9, 35, 36): «Jesus ging umher in alle Städte und Dörfer, er lehrte in den Synagogen und verkündete das Evangelium vom Reich und heilte alle Krankheiten und Gebrechen. Als er das Volk sah, jam­merte es ihn, denn sie waren geschunden und niedergeschlagen wie i Schafe, die keinen Hirten haben.» In der Hirtenrede Johannes 10 gibt Jesus sich als den «guten Hirten» zu erkennen mit einer scharfen Polemik gegen bestimmte untreue Hirten und Vergewaltiger, näm­lich Politiker, die er als Mietlinge, Räuber und Mörder und als den Wolf bezeichnet[1].

«Der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe.» Wenn also Jesus wegen seines politischen Anspruchs vom Hohenrat der Juden und vom römischen Prokurator als «Judenkönig» hingerichtet worden ist, so ist das weder, wie die Juden meinen, der Beweis dafür, daß Jesus sich getäuscht hat und die Kraft nicht hatte, sich durchzusetzen, noch ist es, wie viele Christen meinen, der Beweis dafür, daß Gott sein Königreich nicht hienieden, sondern im Jenseits verwirklicht. Das Evangelium verkündet, daß Jesus durch die Hingabe seines Lebens den Sieg errungen hat. Die Berichte heben hervor, daß er damit das erfüllt hat, was im Alten Testament vom Hirtenamt Gottes geschrieben ist.

Nach dem Abendmahl sprach Jesus zu seinen Jüngern: In dieser Nacht werdet ihr euch alle an mir ärgern. Denn es steht geschrieben: «Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe der Herde werden sich zerstreuen» (Sach. 13, 7). Wenn ich aber auferstehe, will ich vor euch hingehen nach Galiläa (Mark. 14, 27, 28). Sein Sterben ist die Krisis des alten Gottesvolkes. Mit den Menschen, die in seinen Tod und in sein Auferstehen Inneingenommen sind, bildet Gott seine Herde neu. «Den großen Hirten der Schafe, unsern Herrn Jesus Christus, hat er von den Toten heraufgeführt (Jes. 63, 11) mit dem Blut des ewigen «Bundes» (Sach. 9, 11; Jes. 55, 3; lies. 37, 26; llebr. 13, 20; Matth. 26, 28; 1. Kor. 11, 25). Am stärksten hat Matthäus den Weg Jesu vom königlichen Einzug in Jerusalem bis zum Kreuz mit Hinweisen auf Sacharja 9-13 beschrieben: Matth. 21, 5 = Sach. 9, 9; Matth. 26, 15 = Sach. 11, 12; Matth. 26, 51 = Sach. 15, 7; Matth. 27, 9 = Sach. 11, 12, 13.

Durch das ganze Neue Testament hindurch wird bezeugt, daß Jesus jener Eine ist, auf dem nach Jesaja 40-55 die Hoffnung Israels be­ruht, der sich stumm zur Schlachtbank führen läßt und damit die andern erlöst, die alle in die Irre gegangen sind.

In seinem Namen und Auftrag wird die neue Herde Gottes ge­sammelt aus allen Völkern auf unserer Erde (Matth. 28, 16-20; Joh. 21, 15 ff.). Sie bezeugt durch ihr Dasein, daß diese Erde Gott gehört, und daß Er nichts auf ihr verlieren will. Sie hört die Stimme des guten Hirten und folgt ihr. So lebt sie anders als die andern. Noch in der alten Welt lebt sie in der neuen Ordnung. «Ihr wißt», sagt Jesus, «daß die, welche die Völker regieren, sie beherrschen, und daß die Großen sie vergewaltigen. Nicht so wird es bei euch sein, sondern wer immer bei euch groß werden will, wird euer Diener sein, und wer immer bei euch erster werden will, wird euer Knecht werden. Wie eben der Menschensohn nicht gekommen ist, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben als Lösegeld um viele zu befreien» (Jes. 53, 10 ff.; Matth. 20, 25-28). Das heißt, jetzt schon in der Ordnung des Königreiches Gottes zu leben.

Mitten zwischen den staatlichen, gesellschaftlichen und gewerk­schaftlichen Organisationen bildet diese Herde Jesu eine grundanders geartete Gemeinschaft. Sie ist nicht gebildet aus Selbstsicheren, die die andern kritisieren oder gar verdammen. Ihre Schafe sind alle ehemals Verirrte und immer wieder Irrende, an denen die Freude des Hirten zu sehen ist, der sich mehr freut über ein verlorenes Schaf, das er gefunden hat, als über neunundneunzig, die nicht ver­irrt waren (Matth. 18). Sie wissen sich verantwortlich einer für den andern. Ihr Herr sendet sie wie Schafe mitten unter die Wölfe mit dem Befehl, sich nicht zu fürchten (Matth. 10).

Fürchte dich nicht, du kleine Herde! Denn es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben (Luk. 12, 32).

Das sollte genügen, um einigermaßen deutlich zu machen, welche Bedeutung für unser Pfarramt das Vorbild des Hirten im Alten Testament dadurch hat, daß es uns das Königtum Golles und das politische Amt Jesu Christi vor Augen hält. Eduard Thurneysen weiß das längst. Seit seiner frühen Begegnung mit Christoph Blumhardt ist er als Prediger und als Seelsorger ein Bote des Reiches Gottes.

Der Priester

Die dreierlei Träger eines «geistlichen Amtes» im Alten Bund nennt und charakterisiert Jeremia, wenn er sie in einem polemisch­ironischen Wort (!) sagen läßt:

Nie wird dem Priester die Weisung ausgehen,
noch dem Weisen der Rat,
noch dem Propheten das Wort.
(Jer. 18, 18)

Von den dreien ist das Amt des Priesters am stärksten institutionell begründet und gebunden. Das bleibt sein Merkmal bei den Wand­lungen, die es in der Geschichte durchgemacht hat.

Bezeichnenderweise kann schon nicht jeder Israelit oder Jude Priester werden. Er muß einer besonderen Familie angehören. Der Stammbaum, mit dem die Priesterschrift Aaron einführt (2. Mos. 6,14) und die vielen andern Stammbäume im 4. Buch Mose, in den Chronik­büchern, bei Esra und Nehemia und auf andern Seiten des Alten und des Neuen Testamentes zeigen, wie genau das kontrolliert wurde. Es bildeten sich gesonderte Klassen und Rangstufen, vom Tempel­sklaven bis zum Hohenpriester, eine ganze Hierarchie. Jeder hat den seiner Abstammung und seinem Rang entsprechenden Dienst zu ver­richten. Der Übergriff in das Amt eines andern ist lebensgefährlich. Der Untergang der Rotte Korah, die das allgemeine Priestertum geltend machte («die ganze Gemeinde ist heilig, alle miteinander»), ist das abschreckende Beispiel (4. Mos. 16).

Die Priester sind innerhalb des auserwählten Volkes die noch ein­mal Abgesonderten. Die Leviten sollen keinen Grundbesitz haben, «weil der HErr ihr Erbgut ist» (5. Mos. 10, 9). In 48 Städten sollen sie auf die andern Stämme verteilt werden, frei für das geistliche Amt und durch den Zehnten unterhalten (4. Mos. 18 und 35).

Nach einem alten Spruch darf der Priester in seiner Bereitschaft für Gott sich durch keine Rücksicht auf seine Familie hemmen lassen:

Der von Vater und Mutter spricht: ich sehe sie nicht,
und seine Brüder nicht kennt
und von seinen Söhnen nichts weiß.
(5. Mose. 33, 9; 2. Mose. 32, 29; Matth. 10, 34-38; Luk. 14, 26.)

Wer irgendeinen Leibesfehler hat, ist untauglich zum heiligen Dienst (3. Mos. 21, 16 ff.). Die Dienstpflicht der Leviten dauert vom 125. bis zum 50. Lebensjahr (4. Mos. 8, 23 ff., nach 4, 3 beginnt sie erst mit dem vollendeten 30. Lebensjahr; vgl. Luk. 3, 23). Im 21. Kapitel des 3. Buches Mose finden wir einschränkende Bestimmungen über die Wahl der Ehefrau und die Beteiligung an Beerdigungen; ein Diener des lebendigen Gottes darf sich an keiner Leiche unter seinen Volks­genossen «verunreinigen», außer an seinen nächsten Blutsverwandten; der oberste Priester auch das nicht, nicht einmal an den Leichen seines Vaters und seiner Mutter (vgl. 1. Kön. 19, 19-21 und Luk. 9, 57-62).

Der Priester muß geweiht werden. Ein terminus technicus dafür sagt, «es wird ihm die Hand gefüllt» 2. Mos. 28, 41; Richt. 17, 5, 12 u. a.), was wohl besagt, daß ihm die Vollmacht zum Vollzug heiliger Handlungen übertragen wird. Es gehört dazu die Einkleidung in be­stimmte Gewänder und die Salbung, durch die er ein Christos wird. Tiere werden geschlachtet. Vom Blut eines Widders wird Aaron und seinen Söhnen an das rechte Ohrläppchen sowie an den Daumen der rechten Hand und an die große Zehe des rechten Fußes gestrichen und dann der Rest auf den Altar gesprengt, wohl um den Kontakt zwischen den Organen des dienenden Menschen und der Gottheit herzustellen (2. Mos. 28 und 29; 3. Mos. 8).

Die Aufgabe des Priesters ist es (nach dem Leitwort Jer. 18, 18), « Tora» zu erteilen, das heißt Weisung, wie die Menschen, die der heilige Gott in seine Lebensgemeinschaft au Genommen hat, sich zu verhallen haben, was sie im einzelnen Lun und was sie lassen sollen. Es handelt sich darum, von Fall zu Fall zu bestimmen, was dem Wesen Gottes und der Beziehung zu ihm entspricht, also zu entscheiden zwischen «heilig und profan», zwischen «rein und unrein». Dies nicht etwa nur in einem besonderen «heiligen» Bezirk, sondern in allen Bereichen des Lebens, weil das ganze Leben des Bundesvolkes geheiligt ist, das heißt Gott gehört, mit ihm und für ihn gelebt wird: von der Geburt bis zum Tod, das Essen und das Trinken, die Körper­pflege, die Kleidung, das Herstellen von Stoffen, die Wohnung, das Geschlechtsleben, Gesundheit und Krankheit, das Bestellen des Ackers, die Behandlung der Pflanzen und der Tiere, der Umgang mit Volksgenossen und mit Fremden, das Benehmen der Jungen oder der Alten und was sonst noch alles vorkommen mag. Es mit, konkret zu erkennen, was jetzt und hier heißt: «Ihr sollt heilig sein; denn ich bin heilig, der HErr euer Gott» (3. Mos. 19).

«Erkenntnis Gottes» muß der Priester haben.

Um nicht getrübt zu sein beim Unterscheiden von heilig und profan, rein und unrein, soll er Wein und berauschende Getränke nicht trinken (3. Mos. 10, 8-11; Hes. 44, 21). Dieses Verbot scheidet den Gottesdienst Israels von aller Frömmigkeit, die im religiösen Rausch und in der psychischen Erregung die Vereinigung mit Gott zu er­leben meint.

Ein Mittel, die Entscheidung zu finden, ist das Losorakel der Urim und Thummini (5. Mos. 33, 8 u. a.). In vielen Fällen wird der Priester nach der Tradition entschieden haben. Diese wurde mündlich weiler­gegeben, schon früh aber auch teilweise und mit der Zeit immer voll­ständiger schriftlich festgehalten. Die Kenner der Thora entwickelten sich zu «Schriftgelehrten». Jeremia hat das zum erstenmal am Aus­gang des 7. Jahrhunderts festgestellt. Daß er das gleich mit der scharfen Polemik tut, die im Neuen Testament aufgenommen wird, indem er sagt, der Lügengriffel der Schriftgelehrten habe die Thora des HErrn zur Lüge gemacht (Jer. 8, 8), muß uns nicht hindern, zunächst einmal die wissenschaftliche Leistung anzuerkennen.

Die Priester waren überhaupt von Berufs wegen die Wissenschaftler des auserwählten Volkes: Geschichtsforscher, Philologen, Mythologen, Botaniker, Zoologen, Mediziner, Agronome, Geographen, Physiker, Chemiker, Astrononie, Meteorologen, Juristen, Musiker, Architekten und nicht zuletzt Theologen. Denn sie interessierte jede Beziehung des Geschallenen zu dem HErrn, dem Gott Israels. Staunend stehen wir vor ihren Kenntnissen und vor der Kraft ihres systematischen Denkens, wenn wir die Priesterschrift lesen oder das Buch Hesekiels, des ehemaligen Priesters am Tempel zu Jerusalem.

Bei den andern Völkern des Alten Orients lag die Wissenschaft ebenfalls in den Händen der Priesterschaft. Wenn aber bei ihnen infolge der religiösen Gebundenheit der Wissenschaft die Erkenntnis der Wirklichkeit durch Aberglauben, Magie und Dogmatismus zu­rückgehalten wurde, so ist das bei den Priestern Israels in geringerem Maß der Fall, weil und insoweit als sie durch die Erkenntnis des wahren Gottes vom Aberglauben befreit und für die Erkenntnis auf­geschlossen waren, daß das Wesen des Menschen und der Welt, die er denkend erforscht, nicht in dem besteht, was sie an und für sich sind, sondern in ihrer Beziehung zum lebendigen Gott.

Mit alledem haben wir den wichtigsten Dienst des Priesters noch nicht erwähnt: er bringt im Heiligtum Gott die Opfer dar. Lesen wir die Vorschriften, nach denen die Priester Israels diesen Dienst zu verrichten haben, dann schaudert es uns, in welchem Maß sie Schlächter sind. Der Altar heißt und ist eine Schlachtbank. Aus der Stiftshütte und aus dem Tempel schlägt uns der Geruch warmen Blutes entgegen. Zwar wurden auch unblutige Gaben dargebracht, z. B. die Mincha, die Huldigungsspende, die aus Feinmehl mit einem Zusatz von Öl und Weihrauch bestand, gewürzt durch «das Salz des Bundes mit deinem Gott». Der goldene Altar, von dem der Duft von Räucherwerk aufsteigt, scheint erst nachträglich, wohl im Serubbabel-Tempel (6. Jahrhundert) eingeführt worden zu sein, nachdem die Bundeslade verlorengegangen war.

Warum ist das Opfer und in überwiegendem Maß das blutige Opfer, das zentrale Ereignis, nicht nur im Gottesdienst, sondern im gesamten Leben des auserwählten Volkes? Weil diese Menschen in der engsten Gemeinschaft mit Gott leben. Da wird die Tatsache akut, daß der Mensch «Sünder» ist. So, wie er ist, zerstört er beständig die Gemeinschaft sowohl mit Gott als auch mit den Mitmenschen. Die Nähe des heiligen Gottes vernichtet ihn. Damit das nicht ge­schehe, befiehlt ihm Gott ein Tier zu schlachten. Der Mensch stemmt seine Hände auf den Kopf des Tieres und überträgt seine Schuld auf das Tier. Es wird an seiner Statt getötet, und er darf leben. Wie für den einzelnen, so kann das für eine Gruppe oder für die Gesamtheit des Volkes entsprechend vollzogen werden. Das ist das Grundschema. Der Priester muß in jedem Fall die besondere Art der Schuld er­kennen, um dementsprechend das Ritual abzuwandeln.

Neben den Opfern, bei denen durch Vergießen des Blutes und durch Verbrennen des Fleisches Sünde gesühnt wird, gibt es die Ge­meinschaftsopfer, bei denen durch das Essen des gleichen Tieres die Lebensgemeinschaft der an der Mahlzeit Beteiligten mit Gott und untereinander wiederhergestellt und gestärkt wird. Es ist genau ge­regelt, in welcher Funktion die verschiedenen Priester je nach ihrer Klasse am Opferdienst mitwirken. Jeder soll und darf nur die Hand­lung ausführen, zu der er geweiht ist; sonst ist es sein Tod. Wie streng das gilt, zeigt der Fall von Nadah und Abihu, Aarons Söhnen, die im Augenblick, wo sie ein «fremdes Feuer», das heißt ein Feuer, das darzubringen sie nicht geweiht waren, auf den Altar bringen, vom Tod getroffen werden (3. Mos. 10).

Viele Priester haben nicht direkt mit den Opfern zu tun. Wohl ist das Opfer die Mitte aller heiligen Handlungen. Aber um das Opfer herum und im Zusammenhang mit ihm geschieht noch viel anderes: eine reiche Liturgie mit Gebeten und Gesängen und kosmischen Symbolen füllt die Stunden und Tage und Jahre. Ein Teil der Priesterschaft widmete sich ausschließlich dem Gesang.

Der Hinweis darauf, daß der Tempel ein Schlachthof war, kann leicht dazu führen, daß wir uns eine falsche Vorstellung machen von der Stimmung, die dort herrschte. So widerspruchsvoll uns das scheinen mag, nicht Todesschrecken, sondern große Lebensfreude zeichnet den Tempelkult aus. Israel freut sich vor Gott und mit Gott. Das ist sein Gottesdienst. Golles Gegenwart wendet alles Trauern. Als einst an einem Bußtag alles Volk, getroffen von den Worten des Gesetzes, weinte, rief der Priester Esra, der Schriftgelehrte, es zur Freude auf mit den Worten: «Dieser Tag ist heilig dem HErrn, eurem Gott. Darum seid nicht traurig und weinet nicht! Gehet hin, esset das Fette und trinket das Süße, und sendet denen auch Teile, die nichts für sich bereitet haben. Denn dieser Tag ist heilig unserm HErrn. Bekümmert euch nicht! Denn die Freude am HErrn ist eure Stärke» (Neh. 8, 8-12).

Im Grund ist das wohl zu verstehen. Weiß doch jeder Mensch, daß die Freude am Leben nie größer ist, als wenn sie aus der Angst, es verlieren zu müssen, geboren ist. Die Opfer haben dem auserwählten Volk ständig zum Bewußtsein gebracht, daß es sich an Gott verschuldet hat und durch keim‘ Anstrengung die unendliche Schuld wieder gut­machen kann. Jetzt aber nimmt Gott alle Schuld auf sich und schenkt seinem Volk das Leben aus lauter Gnade.

Alles wäre mißverstanden, wenn Israel den Opferdienst, den Gott ihm befiehlt, im Sinne des heidnischen Kultes als sein eigenes Werk verstände, das es teuer zu stehen kommt. Denn hier zeigen die Opfer nicht den hohen Preis an, den der Sünder bezahlt, sondern die teure Vergebung Gottes. Das Amt der Priester ist es, dies allem Volk zum Bewußtsein zu bringen. Je tiefer das auserwählte Volk seine Schuld vor Gott erkennt, um so höher ist die Freude, die es in der Begnadi­gung erlebt. Der Priester ist der Gehilfe dieser Freude.

So wichtig das Amt des Priesters ist, so gefährlich ist es. Durch das ganze Alte Testament werden Priester gewarnt und scharf ver­urteilt. Der Bericht vom goldenen Kalb deckt schonungslos auf, was für einen Verrat an Gottes Sache Aaron, der erste von ihnen und der Ahnherr aller Priester, begangen hat. Später sehen wir am Beispiel der Söhne Elis, wie das Priestertum entartet, und der Fluch Gottes als ein Blitz in den Hauptstamm der Priesterschaft schlägt, daß er verdorrt. Schlimmer als die rücksichtslose Selbstsucht der unerzoge­nen Priestersöhne ist der Mißbrauch, den das ganze Volk, offenbar in «bestem Glauben», mit dem wichtigsten Symbol treibt, indem es die Bundeslade auf das Schlachtfeld tragen läßt, um damit den HErrn der Heerscharen zum Sieg über die Philister zu nötigen.

Immer wieder erhebt sich aus den Kreisen der Priester der heftigste Widerstand gegen die von Gott gesandten Propheten, angefangen mit der Ausweisung des Amos durch den Oberpriester von Bethel, über den Trumpf, den die Priester Jerusalems meinen mit dem Tempel gegen Jeremia ausspielen zu können, bis hin zu der Dispu­tation Maleachis mit den Priestern.

Worin liegt nach dem Alten Testament die Gefahr des Priester­tums? Es ist der Hang, aus der Offenbarung des HErrn und aus dem Glauben eine «Religion» zu machen. Da werden die religiösen Bedürfnisse und die Mittel, sie zu befriedigen, wichtiger als der Wille Gottes. Was Gott sagt, wird verwechselt mit dem, was Menschen ahnen, von Gott denken und über ihn sagen. Gottes freies Wort wird gebunden. Mit Formeln werden Wirkungen erzielt. Der Heilige wird vertauscht gegen das Heilige, und das Heilige wird verdinglicht. Ort, Räume, Kleider, Gegenstände, Gebärden gewinnen einen sakra­len Charakter. Man bildet sich ein, Gottes Gegenwart hänge von innern oder äußern Umständen ab. und könne durch ein genau ge­regeltes liturgisches Handeln herbeigeführt werden. Traditionen hin­dern das Geschehen des ewig Neuen. Mit dem Gesetz versucht man, die Freiheit Gottes zu beschränken. Der Mensch meint, durch seine Opfer das zu bezahlen, was in Wahrheit das reine Geschenk Gottes ist.

Das Neue Testament bestätigt diese Kritik. Der Zusammenstoß Jesu mit der Priesterschaft führt zu heftigen Auseinandersetzungen, die ihre Höhepunkte erreichen, wenn Jesus die «Händler» aus dem Tempel treibt, und wenn die Priester Jesus auf Grund des Gesetzes an das Fluchholz hängen lassen.

Kann da überhaupt noch in Frage kommen, daß in der christlichen Gemeinde, daß durch unser Pfarramt etwas aufgenommen werde von dem Amt der Priester im Alten Testament? Wir haben allen Grund so zu fragen und uns sehr zu hüten vor der Versuchung, die unserm Amt von dieser Seite droht.

Aber gerade deshalb müssen wir etwas Entscheidendes bedenken: Das Evangelium verkündet, daß Jesus als der Hohepriester sich selbst als das Opfer für die Sünde der Welt dargebracht hat. Mit diesen Ausdrücken sagt es der Hebräerbrief; die andern Schriften des Neuen Testaments sagen dasselbe mit andern Ausdrücken. Sie können alle das Wesentliche des Werkes Jesu nicht ohne die priesterlichen Begriffe ausdrücken. Deshalb können wir es auch nur in diesen Be­griffen erfassen. Lehnen wir das ab, so entleeren wir das Evangelium.

Gewiß, weil und seitdem Jesus ein für allemal das vollgültige Opfer dargebracht hat, soll der alttestamentliche Priesterdienst nicht mehr stattfinden. Das andere darf uns jedoch nicht entgehen, daß Jesus nämlich zugleich den alttestamentlichen Priesterdienst be­stätigt hat. Er hat jenen Priestern «die Hände gefüllt», aus seiner Fülle haben sie Vergebung und Weisung genommen. Wenn jetzt der auferstandene Christus Diener beruft, so kann ihre Aufgabe nur darin bestehen, auszuteilen, was er erworben hat. Sie sollen diesen priesterlichen Dienst tun ohne die Bedingungen und die Schranken, die ihm im Alten Testament noch gesetzt waren. Wie die Schranke zwischen dem auserwählten Volk und den Heiden niedergelegt ist, so auch die Unterscheidung von Geweihten und Laien, von heilig und profan. Alles und alle werden dadurch geheiligt, daß sie in Jesus Christus zu Gott gehören.

Es ist nicht meine Aufgabe, zu zeigen, wie wir Pfarrer diesen priesterlichen Dienst tun können. Wohl aber ist hier der Ort, Eduard Thurneysen dafür zu danken, daß er uns das seit bald fünfzig Jahren klar und kräftig zeigt. So, wie er es uns vorlebt, kann es sich keineswegs darum handeln, den Dienst am Wort durch etwas Sakrales zu ergänzen, den Predigtgottesdienst dadurch zu «bereichern» und dem Bedürfnis nach sakramentaler Sicherung entgegenzukommen. Es han­delt sich vielmehr darum, Jesus Christus als den einen Mittler zwi­schen Gott und den Menschen zu erkennen, in theologischer Arbeit Wahrheit und Irrtum zu unterscheiden, und als Bote der heiligen Gnade mitten in der Schuld der Welt zu stehen.

So ist Eduard Thurneysen der priesterliche Pfarrer. So hat er für viele den Weg zu der Predigt und zum Abendmahl freigemacht. So ist seine Seelsorge Priesterdienst. So ist er führender Theologe. Das eine, worauf es ankommt, hat er, vielleicht am deutlichsten, kürzlich an der evangelischen Beichte gezeigt.

Der Weise

«Dem Weisen geht der Rat nie aus» (Jer. 18, 18). Wenn wir sehen, wie viele Menschen in den verschiedensten Lagen den Pfarrer um Rat fragen, dann wird uns sofort klar, daß er das sein sollte, was in Israel die Weisen waren. Sie sind im Alten Testament die Lehrer der Lebensweisheit im gewöhnlichsten und zugleich im umfassend­sten Sinn des Wortes. Sie zeigen, besonders dem heranwachsenden Jungen, wie er als Mensch leben soll und kann. Und wohl dem be­standenen Mann, der immer bereit ist, auf sie zu hören!

Der Weise unterscheidet weniger, wie der Priester, zwischen rein und unrein, als zwischen klug und töricht oder, was bezeichnender­weise aufs gleiche herauskommt, zwischen nützlich und schädlich, oder zwischen glücklich und unglücklich. Heil dem einen! Weh dem andern! Mit Recht möchte jeder gesunde Mensch möglichst viel vorn Leben haben. Er soll sich aber ja nicht durch ungezähmte Gier treiben lassen oder unrechte Mittel brauchen. Denn damit würde er sein Leben zerstören, seine Gesundheit untergraben, das gute Gewissen und die Achtung der Gesellschaft verlieren, und als verurteilter Lügner und Dieb alles unrecht Erworbene einbüßen. Es ist viel besser, ehrlich arm zu sein als ein reicher Schuft. Weil das ganze seelisch- leibliche Leben des Menschen auf das Stärkste erregt, wird durch die Anziehung des andern Geschlechts, ist der dringendste Rat, die ganze Kraft des Herzens und alle Lust zu sammeln in der Gemeinschaft mit dem einen geliebten Wesen; wer meint, er habe mehr von mehreren, entleert die Liebe.

Wir müssen es uns versagen, Beispiele der psychologischen Ein­sichten und der guten Ratschläge aus dem Schatz der alttestamentlichen Weisheit herauszugreifen. Doch müssen wir fragen: Wie kamen jene Weisen zu ihren Kenntnissen? Ihr Beruf war nicht, wie der­jenige der Priester, nur den Mitgliedern bestimmter Familien Vor­behalten. Die persönliche Begabung und dann eine gründliche Aus­bildung waren bestimmend. Wer lehren will, muß lernen wollen: lesen, schreiben, womöglich auch fremde Sprachen; im Umgang mit andern Menschen beobachten, wie sie aussehen, wie sie empfinden, wie sie reden, wie sie ihren Beruf ausüben, wie sie leiden, wie sie sich wohlfühlen; reisen, um andere Länder und Sitten kennen zu lernen und auf diese Weise besser vergleichen und werten zu können. Es gab offenbar private Schulen; an ihnen fanden Lehrer ihre Stelle und einen Lohn. Doch lehrten sie auch auf der Straße, oder sie wur­den um Rat gefragt von irgendwem bis hinauf zum König. Sie waren vorwiegend, aber nicht ausschließlich in den Städten.

Wie diese Weisheit sich nicht auf eine besondere Offenbarung Gottes beruft, so liegt ihr auch weniger an einer israelitisch-jüdischen Eigenart als an dem allgemein Menschlichen. Diese «Weltlichkeit» wird heute von den einen als Verlust an Substanz empfunden, von den andern als Überwindung nationaler Beschränktheit. Wie steht es damit?

Nach ihrer eigenen Aussage im 8. Kapitel der Sprüche Salomos war die Weisheit von Anfang bei Gott. Im Vergnügen mit ihr zu spielen, hat er für sie und mit ihr den Himmel gewölbt und die Erde aus­gebreitet und mit vielen lustigen, lebendigen Dingen erfüllt. Seitdem es Menschen gibt, spielt sie mit ihnen und zeigt ihnen, wie sie das vom ewigen Vater Geschaffene recht verstehen und recht brauchen können.

Sie ist also «Weltweisheit» und als solche die wahre Lebensweisheit für alle Menschen, nicht nur für Israel. Die Israeliten können und sollen durch den Gedankenaustausch mit andern Völkern sie besser kennenlernen j erwähnt werden vor allem «die Söhne des Ostens», das heißt die östlich vom Heiligen Land wohnenden Stämme, und die Ägypter. Das ist kein Widerspruch gegen die besondere Offenbarung, die Gott Israel schenkt. Denn er offenbart Israel, daß Er der Gott aller Menschen ist, ein und derselbe und der einzige wirkliche Gott aller, ob sie es wissen oder nicht. Nicht nur Israel, sondern auch den andern hilft er, den Sinn des Lebens zu finden. Israel darf Gott loben, wenn bei andern ein tieferer Gedanke gedacht worden ist.

Wesentliche Züge der Weisheit sind im Alten Testament besonders stark ausgeprägt. Die wahre Vernunft ist das Vernehmen, also nicht aus sich selbst geschöpfte und in sich selbst geschlossene Erkenntnis, sondern aufmerksam empfangene Mitteilung Gottes. «Ein hörendes Herz» hat Salomo gewünscht (1. Kön. 3, 9). Das hörende Herz ist der wirklich «gesunde» Menschenverstand. Der wahre Sinn und Zweck einer Sache oder eines Geschehens ist dann erkannt, wenn die kon­krete Beziehung zu Gott erkannt ist. Das zentrale Organ der Vernunft ist das Herz. In ihm sammeln sich die Eindrücke der Sinne, das Fühlen, das Denken und das Wollen. Theoretische und praktische Vernunft sind unlösbar verbunden. Ebenso das Geistige und das Stoffliche. Gottes Geist hat die materielle Welt geschaffen, um sich selbst durch sie zu erkennen zu geben. Es ist zu rechnen mit dem Einklang von Physik, Ethik und Metaphysik. Das, was wir Natur­gesetz nennen, ist Ausdruck ein und desselben Willens wie das Sittengesetz. Wer gut handelt, darf deshalb erwarten, daß es ihm gut gehe. Viele Sprüche der alttestamentlichen Weisheit versichern das.

Wir wissen aus Erfahrung, wie problematisch das ist. Wir sind geneigt, der alttestamentlichen Weisheit vorzuwerfen, sie habe das nicht gemerkt und begnüge sich mit flachem Utilitarismus. Bevor wir das tun, sollten wir gründlich überlegen, wie groß die Gefahr ist, das Problem dualistisch lösen zu wollen. Die Einheit Gottes, und mit ihr die Einheit der Wirklichkeit, in der wir leben, stehen auf dem Spiel. Wenn die Welt gut ist für das, was Gott will, so muß es dem Menschen gut gehen, der nach Gottes Willen in ihr lebt.

Wie stark auch die alttestamentliche Weisheit diese Übereinstim­mung betont, so verschweigt sie nicht, daß hier etwas nicht stimmt. Die Harmonie ist gestört, zwar nicht von Gott her, sondern vom Men­schen her. Der Mensch ist zwiespältig. Er steht in der Versuchung. Fragen quälen ihn, auf die er keine Antwort findet. Wo wird diese Wunde schonungsloser aufgerissen als an Hiob, und noch einmal in ganz anderer Weise durch den Prediger Salomo? Aber gerade da wird klar, daß der Mensch an ihr verbluten muß, wenn sie nicht geheilt werden kann, und daß nur Gott sie heilen kann. Sie ist deshalb so tief, weil diese Welt seine Welt ist. Es darf zwischen ihr und ihm kein Zwiespalt sein. Er muß die Offenbarung seiner Gottheit darin bewähren und vollenden, daß er sie erlöst, und nicht dadurch, daß er sich von ihr löst, sie preisgibt und sich in einem Jenseits ver­herrlicht.

Das Evangelium bestätigt das. Denn statt irgendeiner metaphysi­schen Lösung verkündet es, daß die Weisheit in der Person Jesu ein Mensch auf unserer Erde geworden ist. Der Rabbi von Nazareth wirkt als Weisheitslehrer und nimmt manches Wort seiner Vor­gänger auf. So ist auch begreiflich, daß seine Apostel ihre konkreten Anweisungen für das christliche Leben gern mit Sprüchen der alttestamentlichen Weisheit belegen.

«Und siehe, hier ist mehr denn Salomo» (Matth. 12, 42). Nicht etwa nur in dem Sinn, daß Jesus mehr weiß und tiefer denkt als die Weisen des Alten Testaments. Vielmehr ist er selbst die panze Wahrheit der Weltweisheit. Und das in der gleichen Weise, wie er der eine Erzhirte ist, der die ganze Herde dadurch rettet, daß er sein Leben für sie gibt, und wie er der eine Hohepriester ist, der sich selbst als das Opfer darbringt, aus dessen Fülle allein alle Vergebung ausge­teilt wird. Und wie sein Ausspruch: «Hier ist Größeres als der Tempel» (Matth. 12, 6), bedeutet, daß durch seine Hinrichtung der Tempel zu Jerusalem abgebrochen und durch seine Auferstehung der neue Tempel als sein «Leib» auferbaut wird (Joh. 2, 13-22), so zer­bricht sein Sterben die Weisheit der Welt, und beweist sein leibliches Auferstehen die Wahrheit, daß diese Welt Gott gehört (1. Kor. 1, 18-3, 23).

Ein Pfarrer, dem das aufgegangen ist, der liest die Bibel mit offenen Sinnen für das, was um ihn herum vor sich geht. Er bildet sich, er schärft seinen Verstand und bemüht sich, klar zu denken. Er hört und liest. Er sammelt Wissen und Erfahrung. Das Problem «Christ und Welt» bewegt er in Fragen und Antworten. Er ist in der Gefahr, sich zu zersplittern. Weil man ihn von allen Seiten um seine Ansicht fragt, bildet er sich ein, er verstehe alles. Und am größten ist die Gefahr, daß er Christus verleugnet, indem er das sagt, was man gern hört, und zu dem rät, was Erfolg verspricht.

«Die Furcht des HErrn ist der Weisheit Anfang.» Ein Pfarrer ist in dem Maß weise, als er sich der göttlichen Torheit nicht schämt, und sein Rat ist in dem Maß gut, als er sich unserer Ratlosigkeit bewußt ist.

Einen solchen Pfarrer in der heutigen Zeit kennen die vielen hundert jungen Menschen, die das Vorrecht hatten, bei Eduard Thurneysen in den Unterricht zu gehen, und jene Unzähligen, die aus der Stadt und vom Land, aus allen Schichten und Berufen, zu ihm kommen, weil er sie versteht und ihnen den guten Rat geben kann.

Der Prophet

Der Prophet, «dem das Wort nicht ausgeht» (in concreto, um Jeremia unschädlich zu machen), ist offenbar keiner jener einsamen Gesandten des HErrn. Neben jenen außerordentlichen gab es in Israel die gewöhnlichen Propheten, die ihren Beruf im Rahmen einer bestimmten Einrichtung ausübten. Sie waren entweder am Tempel angestellt oder am königlichen Hof, oder sie blieben unabhängig und boten ihre Dienste an, wo man sie brauchte und honorierte. Der Oberpriester von Bethel hielt Amos für einen solchen Berufspropheten, als er ihn auswies mit dem Befehl, er solle als Judäer mit seinen Gottessprüchen sein Brot in Judäa verdienen.

Wir kennen diese Propheten fast nur als Gegner der Gesandten Gottes. Das darf uns jedoch nicht hindern, die Bedeutung ihres Amtes zu erkennen. Es ist sozusagen ein offenes Fenster nach oben in dem Haus, das Israel sich eingerichtet hat. Denn das Wort, das auszu­sprechen die Aufgabe des Propheten ist, soll unmittelbar von Gott kommen, und unterscheidet sich dadurch von der Weisung des Priesters und dem Rat eines Weisen. So wird einer auch nicht Pro­phet auf Grund seiner Abstammung wie ein Priester oder dank seiner intellektuellen Begabung wie ein Weiser, sondern durch einen un­mittelbaren Eingriff Gottes. Das «Wort» wird ihm von Gott ein­gegeben, er hat es weder erlernt, noch durch eine rituelle Technik gefunden, noch hat er es selbst erdacht.

Die heutige Wissenschaft würde wahrscheinlich in manchen Fällen eine psychische Veranlagung feststellen. Es scheint auch, daß einige dieser Propheten Mittel angewendet haben, um die Erregungszu­stände hervorzurufen unter dem Einfluß und in der Art der alten kanaanäischen Prophetie. Man denke etwa an die Baalspropheten, die bei der Gottesentscheidung auf dem Karmel sich wie tanzende Der­wische in die Ekstase steigern (1. Kön. 18); oder an die «Propheten­schwärme», in deren Bannkreis Saul und seine Boten geraten sind (1. Sam. 10, 10-13; 19, 20-24). Elisa, der «der Vater» oder «Abt» von sogenannten «Prophetensöhnen» war, die in klösterlicher Ge­meinschaft lebten, ließ einmal Musik machen, damit die Hand des HErrn über ihn kam und das Wort ihm gegeben wurde (2. Kön. 3).

«Warum ist dieser Verrückte zu dir gekommen?» fragen die Offiziere den Oberst Jehu nach dem Besuch eines von Elisa gesandten Propheten, anerkennen dann aber sofort die Tat des «Verrückten», der Jehu im Namen des HErrn zum Gegenkönig gesalbt hat. Auf­fallend oft erscheinen die Propheten den andern Leuten als «ver­rückt». Ihr eigentümliches Sprechen wird als ein «Geifern» be­zeichnet. Im Tempel zu Jerusalem war ein Priester als «Aufseher über alle Verrückten und sich prophetisch Gebärdenden» bestellt mit der Befugnis, sie wenn nölig in den Block oder ins Halseisen schließen zu lassen (Jer. 29, 24 ff.). Dem Priester Zephanja wird Pflichtver­säumnis vorgeworfen, weil er Jeremia nicht eingesperrt habe. Dieses Beispiel und das gegen Hosea gerichtete Urteil: «Ein Narr ist der Prophet, verrückt der Mann des Geistes» (Hos. 9, 7), zeigen, daß das ein gemeinsamer Zug der berufsmäßigen und der von Gott gesandten Propheten ist. Daß ein Prophet diesen Eindruck macht, ist in der Sache begründet. Es liegt etwas Irrationales, Anormales im Wesen des Prophetischen.

Aber das ist durchaus kein Zeichen und noch weniger der Beweis für oder gegen die Echtheit eines «Wortes». Das Beispiel der Baalspropheten auf dem Karmel zeigt, daß eine Ekstase nichts anderes als psychische Erregung sein kann, ganz ohne Gott. Gottes Wort kann nüchtern sein. Anderseits ist die dichterische Form der meisten Prophetensprüche Ausdruck hoher Begeisterung. Darin liegt wieder die Gefahr, prophetische und poetische Inspiration zu verwechseln oder zu vermischen. Echte und falsche Prophetie sind also schwer zu unterscheiden. Das deuteronomische Kriterium, am Eintreffen oder Nichteintreffen des Geweissagten lasse sich erkennen, ob es ein Wort Gottes gewesen sei, oder ob der Prophet aus Vermessenheit geredet habe, bietet keine Hilfe im entscheidenden Augenblick, wo es sich darum handelt, einem Propheten zu glauben oder nicht zu glauben (5. Mos. 18, 15-22).

Die echten Propheten werfen den falschen vor, sie «weissagten durch Baal», das heißt sie seien erregt durch die mehr oder weniger geheimnisvollen Kräfte der Natur (Jer. 23, 13). Die Naturmystik zieht gewaltig an. Um so ernster müssen wir beachten, welchen schar­fen Kampf die Offenbarung des heiligen Gottes gegen diese Ver­wechslung führt. Im Alten Testament wird schonungslos aufgedeckt, daß das Sexuelle der mächtige Erreger dieser Religiosität ist.

«Sie verkünden die Vision ihres Herzens und nicht aus dem Munde des HErrn», lautet ein anderer Vorwurf (Jer. 23, 16). Die Vision unseres eigenen Herzens entsteht aus dem, was wir wünschen, viel­leicht aus tiefem Empfinden und tiefster Überzeugung, jedenfalls aus uns selbst, und das heißt noch lange nicht aus Gottes Mund. Gott ist auf alle Fälle größer als unser Herz (1. Joh. 3, 20), nicht nur als unser böses Herz, sondern auch als unser gutes Herz. Und weil unser Herz «ein trotziges und verzagtes Ding ist» (Jer. 17, 9), so kann es wohl sein, daß Gott nein sagt, wo wir ganz sicher sind, daß es gut herauskoinmen muß, und daß Er ein sieghaftes Dennoch sagt, wo wir alle Hoffnung aufgeben.

Hesekiel hat einmal aufgedeckt, daß sich das bis in die Seelsorge hinein verhängnisvoll auswirkt. Denn Seelsorge führt auf den Augenblick hin, wo einem Menschen persönlich mitgeteilt werden soll, was Gott ihm sagt. Da wendet sich Gott gegen Prophetinnen, die das Herz des Gerechten verzagt machen, dagegen die Hände des Gottlosen stärken. Warum machen sie das? Gott sagt: zu ihrem Vorteil. Sie fangen Seelen um einiger Hände voll Gerste und um etlicher Bissen Brotes willen (Hes. 13, 17-23).

Daß der Brotkorb, daß das Geld die Wahl des «Wortes» bei den falschen Propheten bestimme, sagt auch Micha: «Haben ihre Zähne etwas zu beißen, dann rufen sie: Frieden! Gegen den aber, der ihnen nichts in den Mund steckt, heiligen sie den Krieg» (Micha 3, 5).

Eine große Versuchung ist die patriotische Begeisterung, ganz be­sonders versuchlich, wenn es sich um Sieg oder Niederlage des Gottes­volks handelt. Spitzt sich gar die politische Entscheidung zu auf den Zweikampf Babel gegen Jerusalem, da scheint es keine echtere Pro­phetie geben zu können als die Aufforderung, zu glauben, der HErr werde sich im Sieg Jerusalems verherrlichen. Aber gerade da, in diesem entscheidenden Augenblick der Geschichte des Alten Bundes, hat Jeremia den Untergang Jerusalems ansagen und die Heilsbot­schaft als Betrug qualifizieren müssen.

Es fiel ihm schwer. Er hörte auf Gottes Wort, das als ein Schwert durch sein Herz ging. Als Bote des Gerichts erkannte er sich in einer Reihe mit den von Gott beauftragten Propheten, die ihm voran­gegangen waren. Dem Propheten Hananja, der erklärte, der Gott Israels habe das Joch des Königs von Babel zerbrochen, antwortete Jeremia: « Die Propheten, die vor mir und vor dir gewesen sind, von jeher, die haben über viele Länder und große Königreiche geweissagt von Krieg und Unheil und Pest. Wenn aber ein Prophet Heil weis­sagt, so wird man daran, daß sein Wort eintrifft, erkennen, daß in Wahrheit der HErr diesen Propheten gesandt hat» (Jer. 28).

Ist das der Ausdruck einer tragischen Weltanschauung? Nein! Wie tief und wahr die tragische Weltanschauung sein mag, vor dem Licht des lebendigen Gottes, das in den Worten der Propheten Israels auf­blitzt, schwinden die dunkeln Schatten des tragischen Schicksals. Da steht der Mensch verantwortlich in der Klarheit des göttlichen Wil­lens. Da geschieht Gericht und Gnade. Der Betrug der falschen Pro­pheten ist der Versuch, das zu verschleiern. «Sie rufen ‚Heil!‘, wo doch kein Heil ist. Das Volk baut eine Wand, und sie tünchen sie mit Schleim» (Hes. 13, 1-16).

Hingegen das Wort der wahren Propheten deckt die Wahrheit auf, indem es die Beziehung bestimmt, in der ein konkretes Gesche­hen zu Jesus Christus steht. Denn in ihm ereignet sich zu jeder Zeit die Begegnung von Gott und Mensch, durch die das Sein den Sinn erhält.

Vom Pfarrer wird erwartet, daß er nicht etwas Selbsterdachtes rede, sondern das sage, was Gott in Jesus Christus uns jetzt und hier sagen will. Daß er das von Amtes wegen tun soll, stellt ihn jenen beamteten Propheten näher als den Sonderbeauftragten Gottes in Israel. Ein korrekter Aufsatz über «Gott», der von der Kanzel herab vorgetragen wird, ist also noch keine Predigt. Das hat Eduard Thurneysen seinen Studenten und den Pfarrern deutlich gesagt. Aber er hat mehr getan als das. Er hat die Anweisung gegeben, wie wir ge­wöhnliche Menschen das Wort suchen und finden können, das Gott heute durch einen Menschenmund mitteilen will. Der Pfarrer muß sich in erster Linie Mühe geben, zu hören, und dies im Lesen der Bibel. «Es ist seine heilige Aufgabe, möglichst sorgfältig, möglichst aufmerksam, möglichst hingehend an die Bibel heranzutreten mal genau hinzuhören, was sie sage.» So macht es Thurneysen selbst, und so erfüllt er in vorbildlicher Weise den prophetischen Auftrag des Pfar­rers. So ist es ihm, wenn es darauf ankommt, gegeben, ein «Wort» zu sagen.

*

Nachdem wir gesehen haben, daß heute dem Pfarrer aufgetragen ist, was im Alten Bund auf vier verschiedene Ämter verteilt war, können wir die Frage nicht unterdrücken, ob das nicht zuviel ist. Welcher Pfarrer wüßte nicht, daß es viel zuviel ist? Und doch läßt sich nichts abstreichen.

Wir konnten darauf hinweisen, daß Eduard Thurneysen die Auf­gabe erfüllt. Um so dringender muß zum Schluß alles Gesagte in Thurneysens Sinn richtiggestellt werden. Er hat nie behauptet, das Pfarramt, in dem mehrere Ämter kumuliert sind, sei die Sache eines einzelnen. Es ist die Sache der ganzen Gemeinde und kann nur unter Mitarbeit der ganzen Gemeinde recht verwaltet werden. Das schärft Thurneysen unablässig den Pfarrern und der Gemeinde ein.

Die Aufgaben, die im Alten Bund auf verschiedene Ämter verteilt waren, sind durch den Dienst des Einen, Jesus Christus, nicht nur zusammengefaßt, sondern restlos erfüllt worden. Hatte Jesus Christus im Alton Bund seinen Dienst an den Menschen durch Menschen getan, so Lut er das im Neuen Bund wieder au! neue Weist“. Sein Werk geschieht jetzt durch die Kirche, die sein «Leib» auf der Erde ist.

Wird aus der Mitte einer Kirchgemeinde ein Mann herausgestellt als Amtsträger, wie das beim Pfarrer der Fall ist, so kann das nur den einen, allerdings bedeutsamen Sinn haben, daß durch diesen Einen allen Gliedern der Gemeinde vor Augen gehalten wird, was ihrer aller Aufgabe ist.

Möge Eduard Thurneysen an seinem siebzigsten Geburtstag in diesem alttestamentlichen Beitrag zur Pastoraltheologie den Dank erkennen, den im Namen vieler Amtsbrüder und Gemeindeglieder einer ihm heute sagt, der seit den ersten Schritten im Pfarramt sich an ihn halten und dann sogar einmal über ein Jahrzehnt lang in der gleichen Gemeinde mit ihm zusammen dem Worte dienen durfte.

Quelle: Gottesdienst – Menschendienst. Eduard Thurneysen zum 70. Geburtstag am 10. Juli 1958, Zollikon: Evangelischer Verlag AG, 1958, S. 251-275.


[1] Was E. Stauffer dazu in seinem Jesusbuch (Francke, Bern, 1957), S. 74 f., geschrieben hat, kann uns helfen, das genauer zu erkennen.

Hier der Text als pdf.

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