Von Joseph Wittig
Es braucht nicht erst in der Zeitung zu stehen, denn das wissen wir von allein, daß am 1. Januar ein neues Jahr beginnt. Und doch würden wir enttäuscht sein, wenn es nicht in der Zeitung stände! Oder wenn uns ein Freund besuchte und gar nichts vom neuen Jahre sagte. Es muß gesagt, es muß geschrieben sein, dann ist unser Herz erst zufrieden. Oder ist es dann überhaupt erst Wirklichkeit? Der Frühling kommt mit Tauwetter, der Sommer mit dem Goldschimmer seiner Ähren, der Herbst mit bunten Blättern, der Winter mit dem ersten Schnee. Das neue Jahr kommt, wenn wir es einander sagen. Es ist keine Schöpfung des Naturgeistes, sondern eine Setzung des Menschengeistes, eines guten Menschengeistes, der wohl wußte, daß die Menschheit immer wieder Anfang und Ende braucht, Anfänge und Enden wie Leitersprossen, wie Atemzüge, wie vorwärts tastende Hände. Darum immer wieder der Ruf: Ein neuer Tag, eine neue Woche, ein neuer Monat, ein neues Jahr! Bei den alten Römern war es üblich, daß immer der erste Monatstag öffentlich ausgerufen wurde. Die ersten Monatstage hießen darum die „Auszurufenden“ oder Calendae. Bei uns tut dies jetzt der Kalender, der eben darum so heißt. Erst jener öffentliche Ruf schuf dem Monat sein Recht und seine Geltung, und unser Kalender hat heute noch eine starke Bedeutung im Rechtsleben. Und im vollen Leben unseres Leibes und unserer Seele.
Wir müssen es uns also sagen, dann erst wird das neue Jahr. Dieses Sagen darf freilich keine bloße Mitteilung sein. Vielleicht genügt es auch nicht, wenn es nur ein Glückwünschen ist. Die deutsche Sage ist ja überhaupt nicht eine bloße Mitteilung oder nur ein Phantasiegebilde, sondern sie ist der Brunnen allen deutschen Wesens. Sie ist eine wahrhafte Eröffnung, ein Aufschluß der ursprünglichsten Wesenheiten und Kräfte unseres Volkes. So müssen wir uns sagen, daß das neue Jahr beginnt; wir müssen etwas Uraltes neu eröffnen.
Ich weiß nicht, ob es in der ganzen Grafschaft oder im ganzen schlesischen Gebirge so üblich ist, aber bei uns war es früher so, daß wir von den drei Heiligen Abenden um die Jahreswende sprachen. Der erste war der Christabend, der zweite der Jahresschluß, der dritte der Vorabend des Dreikönigsfestes. An allen drei Abenden gab es weiße Mandelsuppe. Ich fragte den Vater, warum. Der Vater antwortete: „Wohl darum, weil an diesen Tagen die Welt neu geschaffen ist, und auf der Welt gab es immer zuerst Milchsuppe. Wir wollen doch auch wieder neu werden!“ Daß mit der Geburt des Gottessohnes die Welt neu geworden ist, wußte ich damals schon. Im übrigen war mir die Antwort rätselhaft, und ich fragte weiter: „Wieso denn bei den heiligen Dreikönigen?“ Der Vater darauf: „Damit auch wir Mannsbilder noch hoffen dürfen, den rechten neuen Weg zu finden!“ — „Und zu Neujahr? Gelt, da wird das Jahr und die ganze Zeit neu geschaffen?“ — „Ja“, erwiderte der Vater, „wenn wir es ernst meinen!“
Und wie ernst er es meinte! Am Christabend nahm er das holzgeschnitzte Kindlein, legte es in die Krippe und sagte: „Jetzt ist uns der Herr und Heiland geboren!“ Das war nicht nur gewohnheitsmäßig hingesagt; das war eine wirkliche Geburt. Die ganze Stube füllte sich mit Glanz und Freude und seligem Werden.
Wenn dann der Vater nach der Milchsuppe am Jahresschluß den neuen Kalender brachte, die Januarseite aufschlug und dabei sagte: „Jetzt ist das alte Jahr zu Ende; jetzt kommt das neue Jahr; ich wünsche euch allen ein gesundes und glückliches Jahr“, dann war das alte Jahr wirklich vorbei und ein neues war gekommen, und wir freuten uns und waren selig, ohne zu fragen, warum. Wenn der Vater etwas sagte, so war es weder Zeremonie noch Symbol, sondern immer Wirklichkeit. Wenn der Vater etwas sagte, so eröffnete er etwas. Er eröffnete uns das neue Jahr.
Ich fragte den Vater: „Was ist denn das neue Jahr?“ Ich hatte es schon manchmal abgebildet gesehen als jungen Knaben, der das alte Jahr, einen gebrechlichen Greis, davonjagte. Aber diese Symbolik hatte mir nie gefallen. Der Vater antwortete: „Was das neue Jahr ist? Das neue Jahr ist alles, was du und ich und deine Mutter und die Geschwister und alle Leute und die ganze Welt in sich tragen und was in den nächsten zwölf Monaten herauskommen soll, Korn und Kehricht wie aus der Pleuder, Kraut und Unkraut wie aus dem Acker.“ Ich wäre nach dieser Antwort am liebsten ein Springbrunnen gewesen, aus dem all mein Gutes in tausend Strahlen emporgesprungen wäre, war aber nur ein Stücklein Ackererde, aus der es nur langsam hervorkeimte.
So meine ich es, wenn ich heute in dieses Buch setze: Das neue Jahr ist gekommen; ich wünsche allen, die dies lesen, ein gesundes und glückliches neues Jahr! Dem ganzen Volke wünsche ich es! Und es darf kein leeres Gerede und Geschreibe sein; es muß eine Eröffnung sein! Was kann ich ihm als Bücherschreiber eröffnen? Mein Vater war auch ein Held. Wenn er die starke Dampfmaschine in der Fabrik meisterte, oder das mächtige Mühlrad, das die anderen Maschinen antrieb, oder den herbeischießenden Strom, der sich wild auf das Mühlrad stürzte! Und doch nannten ihn alle Fabrikleute den Besinnlichen. Ich fragte ihn einmal, warum. Da antwortete er mir: „Ich weiß, daß mir ohne Besinnlichkeit nichts gelingt!“
Quelle: Anca Wittig (Hrsg.), Mit Joseph Wittig durch das Jahr, Leimen/Heidelberg: Marx Verlag, 1973, S. 23-25.