Ralf Frisch, Das Band zur Anderswelt: „»Und Friede auf Erden. Und den Menschen ein Wohlgefallen.« Diese Worte der Heiligen Schrift sind für mich Heiliger Abend ge­nug. Mehr brauche ich nicht. Mehr brauche ich nicht, um sie zu spüren, die Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen der Welt und der Anderswelt, zwi­schen Gott und Mensch. Mehr braucht es nicht, um die Hoff­nung nicht zu verlieren, dass er ja vielleicht doch da ist. Der Hei­land. Christ, der Retter.“

Das Band zur Anderswelt

»Friede auf Erden«: Der Segen der Weihnachtsengel schafft die Verbindung von Himmel und Erde

Von Ralf Frisch

Alle Jahre wieder am Heili­gen Abend zeigt es sich. Im Kerzenlicht der Christvespern und Christmetten geschieht et­was Merkwürdiges. Die Welt öff­net sich für die Anderswelt. Und anders als an den anderen drei­hundertvierundsechzig Tagen des Jahres scheint es, als sei der Him­mel vielleicht doch nicht leer. Es scheint, als gäbe es ein Band zwi­schen Himmel und Erde und als käme von dorther etwas Rettendes und Heilendes herab zu uns.

Otto Knopf, ein Schriftsteller aus meiner Frankenwaldheimat, hat den leise rieselnden Schnee ein weißes Band zwischen Him­mel und Erde genannt. Vielleicht erklärt das unsere Sehnsucht nach weißen Weihnachten. Und viel­leicht trotzen die Weihnachtslieder, in denen Schnee fällt, deshalb je­der Verkitschung. »I’m dreaming of a white Christmas.« Denn ich seh­ne mich nach einem offenen Him­mel, aus dem leise das ganz Ande­re in unsere Welt herabsinkt. Das ganz Andere, das nichts anderes als der Friede ist, den unsere ar­men Seelen und die arme Seele unserer Welt so bitter nötig haben. Was wäre friedlicher als Schnee, der an einem Adventsabend leise auf eine Landschaft in der Däm­merung fällt! Das zarte weiße Ele­ment stillt jeden Lärm, jede Hektik, jedes Chaos, jede Gewalt. Es hüllt die friedlose, auf Krawall gebürs­tete Welt in einen Mantel der Be­hutsamkeit und der Geborgenheit. Es bringt zum Vorschein, was noch nicht ist: den Frieden auf Erden.

Das liest sich spießbürgerlich und peinlich romantisch. Wie ein erbärmlicher Verdrängungsme­chanismus, der das Grau und das Grauen der Dinge mit Schneeka­nonen zu übertünchen sucht. Und doch könnte sich darin eine tie­fe Wahrheit verbergen. Die Wahr­heit, dass eine himmellose Welt die Hölle wäre. Die Wahrheit, dass der Friede auf Erden nicht mach­bar, schon gar nicht menschen­machbar ist und dass er uns wie Schnee aus dem Himmel zufal­len und die wunde Welt wie ein lindernder weißer Verband bede­cken muss. Die wunde Welt, deren Selbstheilungskräfte schon immer erschöpft waren und deren ver­zweifeltes und friedloses Aufbäu­men gegen ihren möglichen Un­tergang nur offenbart, wie groß die Hoffnungslosigkeit des heillos überforderten und überschätzten Menschen ist. Dietrich Bonhoeffer schrieb einmal: »Wie sollen Men­schen irdische Spannungen aus­halten, wenn sie von der Spannung zwischen Himmel und Erde nichts wissen?« Wie sollen Menschen die Welt überstehen, wenn sie das Band zwischen Himmel und Erde nicht zu sehen vermögen?

Aber natürlich ist der Schnee nicht der Heiland. Selbst das wei­ßeste Weihnachtsfest kann den Schmerz nicht lindern und die Welt nicht heilen. Das Band, das Himmel und Erde verbindet, ist ein Anderer. Es gibt wunderbare Malereien der Renaissance, auf denen der Engel des Herrn der Jungfrau Maria erscheint und ihr die Geburt Jesu verkündigt. Auf manchen dieser Bilder sieht man zwischen dem Engel und Maria tatsächlich ein Band. Ein Band, das sich auf geheimnisvoll ver­schlungenen Wegen von der gött­lichen zur menschlichen Sphä­re windet. Ein Band, auf dem die Worte des Engels zu lesen sind. »Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden!«

Für mich ist das Weihnachts­evangelium des Lukas von jeher dieses Band. Wenn ich es im Got­tesdienst am Heiligen Abend in der Übersetzung Martin Luthers höre, dann öffnet sich für mich der Him­mel, und der Friede fällt zart und leise aus ihm herab in mein Herz. Mir würde nichts fehlen, wenn Christvespern und Christmetten nur aus fünferlei bestünden: Aus dem Lied »O du fröhliche«, aus ei­nem Vaterunser, aus dem Lied »Stil­le Nacht, heilige Nacht«, aus ei­nem Segen, aus einer langen Stille im Kerzenschein und aus eben je­nem Weihnachtsevangelium. Je­der Buchstabe dieses Evangeliums müsste mit unendlicher Ernsthaf­tigkeit und Weihe verlesen werden, also mit jener heiligen Haltung, die unbeirrbar davon überzeugt ist, dass die Worte des Weihnachts­evangeliums Heilige Schrift sind und dass sie das Herz Gottes und das Herz der Welt zu erweichen vermögen. Und zwar so sehr, dass der Vater aller Dinge den Himmel zerreißt und einmal mehr seinen Heiland zur Welt kommen und der Brutalität der Welt in den Arm fal­len lässt. Vor allem würde ich mir wünschen, dass bei der Verlesung des Weihnachtsevangeliums nach den Worten »Ehre sei Gott in der Höhe« eine feierliche Pause ge­macht wird. Eine Pause, die dem Wort Gottes Zeit lässt, vom Himmel zur Erde zu finden. Eine Pause, auf die das schönste »Und« der gan­zen Bibel folgt. »Und Friede auf Er­den«. Am liebsten ist es mir, auch das zweite, aus der neuesten Lu­therübersetzung leider verschwun­dene »Und« zu hören. »Und den Menschen ein Wohlgefallen.«

»Und Friede auf Erden. Und den Menschen ein Wohlgefallen.« Diese Worte der Heiligen Schrift sind für mich Heiliger Abend ge­nug. Mehr brauche ich nicht. Mehr brauche ich nicht, um sie zu spüren, die Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen der Welt und der Anderswelt, zwi­schen Gott und Mensch. Mehr braucht es nicht, um die Hoff­nung nicht zu verlieren, dass er ja vielleicht doch da ist. Der Hei­land. Christ, der Retter. Der Einzi­ge, der den Lauf der Welt wenden und ihre Wunden heilen kann. Der Einzige, der bewerkstelligen kann, was kein Mensch der Welt zu bewerkstelligen vermag. Dass der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz mehr sein werden. Dass der Krieg endet. Und Friede auf Erden wird. Friede auf Erden. Und den Men­schen ein Wohlgefallen.

RALF FRISCH ist Professor für Systematische Theologie und Philosophie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg.

Quelle: Weihnachten feiern. Die Sonderausgabe des Sonntagsblatts, Evangelische Wochenzeitung für Bayern, WEIHNACHTEN 2023, S. 8f.

Hier der Text als pdf.

1 Kommentar

  1. Lieber Jochen,
    vielen Dank, dass Du uns so weiträumig mit Texten versorgst, die ins
    Gedächtnis gehören. Der Text von Ralf Frisch freilich gehört wohl ins
    Quarantäne-Gedächtnis. Wenn irgend ein Symbol, das in diesem Fall noch
    überdies kein biblisches ist, sich mit sprachlicher Artistik verbindet,
    ist das eben dann alles, das Ralf Frisch genügen mag- Wer immer noch der
    biblischen Botschaft versucht zu folgen, muss sich verhöhnt wissen: das
    reicht doch, ist doch super, und super bin vor allem ich – sehr her, wie
    unterhaltsam das alles ist. An sochen Symbolisierungsphantasien sterben
    ohnehin viele Predigten ab.

    Herzliche Grüße
    Hans

    Prof. i.R. Dr. Hans G Ulrich

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