Nächstenliebe, Bruderliebe und die Frage der Reinheit: „Die Reinheitserklärung ‚Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte; sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist’s, was den Menschen unrein macht.‘ (Markus 7,15) ist der revolutionäre Satz Jesu. Er ermöglicht die Annäherung bzw. Nächstennähe, die gemeinschaftliche Reinheitsdistanzierung zurückzustellen weiß. Die Begegnungsnähe mit der jeweiligen Hilfsbedürftigkeit wird nicht länger in die Gemeinschaftsverpflichtung zurückgenommen.“

Nächstenliebe, Bruderliebe und die Frage der Reinheit

Wir sind es gewohnt, das Gebot der Nächstenliebe, wie Jesus es im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lukas 10,25-37) erzählerisch entfaltet, als dessen revolutionäre ethische Botschaft anzusehen. Der bzw. die Nächste steht nicht in einer vorhandenen Beziehung, sondern erweist sich als „nächstlich“ in der Begegnung, wo Hilfsbedürftigkeit und Hilfsvermögen zueinander finden.

Im Kontrast dazu wird im Neuen Testament im Rahmen einer „Konventikel-Ethik“[1] eine Bruder- bzw. Geschwisterliebe gelehrt (vgl. Röm 12,10; 1.Thess 4,9; Joh 13,34; Röm 13,8; 1.Joh 3,11). In einer Gemeinschaft – durch Her- oder Zusammenkunft konstituiert – gilt die eigene Liebe den Menschen, denen man sich verbunden weiß bzw. denen man verpflichtet ist. Die Gemeinschaft wiederum ist durch eine gemeinsame Lehre bzw. durch gemeinsame Lebensregeln von anderen Gruppen bzw. Menschen abgegrenzt. Somit haben Lehre und Gemeinschaftspraxis Vorrang vor Liebeserweisen. Das Augenmerk der Bruderliebe (philadelphia) liegt auf der Beibehaltung bzw. Integrität der jeweiligen Gemeinschaft. Dazu werden auch Kontaktgeschehen in der Unterscheidung von rein/unrein bzw. heilig und profan reglementiert (vgl. Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Berlin : Reimer, 1985). Man vergleiche dazu die Beschlüsse der sogenannten Apostelversammlung (Aposteldekret) in der Apostelgeschichte: „Es gefällt dem Heiligen Geist und uns, euch weiter keine Last aufzuerlegen als nur diese notwendigen Dinge: dass ihr euch enthaltet vom Götzenopferfleisch und vom Blut und vom Erstickten und von Unzucht. Wenn ihr euch davor bewahrt, tut ihr recht.“ (15,28f).

In der Erzählung vom barmherzigen Samariter entsprechen weder der Priester noch der Levit der Hilfsbedürftigkeit des unter die Räuber gefallenen, da eine Hilfe mutmaßlich zu einem Kontaktgeschehen mit einem Leichnam führen müsste, was wiederum eine kultische Verunreinigung zur Folge hätte (vgl. 3.Mose 19,11). Wo die Einhaltung von Reinheit und damit die Integrität einer Gemeinschaft im Hinblick auf zwischenmenschliche Interaktion bzw. Kommunikation vorgegeben ist, kann eben keine unbedingte Hilfeleistung zur Geltung kommen.

Wenn Jesus eine unbedingte Nächstenliebe proklamiert, hat dies eine Lehre zur Voraussetzung, die in Markus 7,1-23 entfaltet wird. Es ist die Invertierung von Rein- und Unreinheit, wodurch Leiblichkeit nicht länger als beflecklich gilt. Die Reinheitserklärung „Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte; sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist’s, was den Menschen unrein macht.“ (V 15) ist der revolutionäre Satz Jesu. Er ermöglicht die Annäherung bzw. Nächstennähe, die gemeinschaftliche Reinheitsdistanzierung zurückzustellen weiß. Die Begegnungsnähe mit der jeweiligen Hilfsbedürftigkeit wird nicht länger in die Gemeinschaftsverpflichtung zurückgenommen.


[1] Der Begriff geht zurück auf Martin Dibelius, Der Brief des Jakobus, KEK 15, Göttingen 121984, S. 71.

Hier mein Text als pdf.

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