Von Wolfgang Huber
1. Begriff und Geschichte
Sich von den Menschenrechten einen klaren Begriff zu verschaffen, ist heute gerade deshalb dringlich, weil ihre Verletzung allgegenwärtig ist. Kein Jahrhundert hat massivere und massenhaftere Verletzungen der Menschenrechte erlebt als das unsere: Folter und Hunger, willkürliche Verurteilungen und Völkermord, Einschränkungen der Glaubens- und Meinungsfreiheit sind zu globalen Erscheinungen geworden. Zugleich aber ist die Forderung nach der Verwirklichung elementarer menschlicher Rechte global geworden, auch wenn in den unterschiedlichen religiösen, kulturellen und politischen Traditionen dafür sehr unterschiedliche Begründungen gegeben werden. Das Zusammenprallen zwischen wachsenden Menschenrechtsverletzungen und wachsendem Menschenrechtsbewußtsein ist das Signum, unter dem wir in der Gegenwart nach Menschenrechte fragen.
Der neuzeitliche Menschenrechtsgedanke hat Wurzeln, die weit in die Geschichte zurückreichen. Die stoische Vorstellung, daß alle Menschen gemeinsame Rechte haben, weil ihnen eine gemeinsame Natur eignet, gehört ebenso zur Vorgeschichte des Menschenrechtsgedankens wie die jüdisch-christl. Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, aus der sich seine besondere Würde herleitet. Besonderes Gewicht für die Ausbildung der neuzeitlichen Menschenrechte hat aber die englische Rechtstradition. In den Religionskämpfen des 17. Jahrhundert kommt es zu Kodifikationen, in denen die Forderung nach Religionsfreiheit in die Gewährleistung politischer Freiheiten ständischer Art überführt wird (Petition of Rights, 1628; Agreement of the People, 1647; Habeas-Corpus-Akte, 1679; Bill of Rights, 1689). Doch die so gewährten Rechte sind prinzipiell wie faktisch an die Staats- und Standeszugehörigkeit gebunden. Es ist deshalb ein neuer Schritt, daß die im Zuge der amerikanischen Unabhängigkeitskämpfe entstandene Virginia Bill of Rights vom 12. Juli 1776 die Rechte beschreibt und kodifiziert, die dem Menschen als Menschen vor aller Standes- und Staatszugehörigkeit zukommen; ähnliche Menschenrechte werden 1790 als Zusatzartikel der amerikanischen Bundesverfassung von 1789 angefügt. Den Hintergrund der amerikanischen Menschenrechtserklärungen bildet die christl. Aufklärung, verknüpft mit Argumenten des rationalen Naturrechts. Historisch von ihnen beeinflußt, aber doch von einem wesentlich anderen Geist geprägt ist die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, eines der Anfangsdokumente der Französischen Revolution. Die natürlichen und unverjährbaren Menschenrechte, die zu erhalten der Zweck aller politischen Gemeinschaftsformen ist, werden nun ausschließlich aus den Voraussetzungen einer rationalen Philosophie begründet. Dies sowie der Terror, in den die Französische Revolution mündete, hat die Rezeption des Menschenrechtsgedankens auf dem Kontinent sehr erschwert. Mit unterschiedlichen Begründungen hat sich während des 19. Jahrhundert sowohl das kath. Lehramt als auch der überwiegende Teil evangelischer Theologie von ihm distanziert. Gleichwohl drangen wichtige Elemente des Menschenrechtsgedankens in das Rechtsbewußtsein wie in die Verfassungstexte ein. In Gestalt der Grundrechte prägen sie die Verfassungsentwicklung des Jahrhunderts. Der über das einzelne Staatswesen hinausweisende Anspruch, der ursprünglich mit dem Begriff der Menschenrechte verbunden war, tritt dadurch allerdings für lange Zeit in den Hintergrund.
Er gewinnt erst wieder an Gewicht angesichts der Mißachtung menschlicher Würde und der Verletzung menschlicher Rechte, für die in unserem Jahrhundert die Namen von Auschwitz und Hiroshima als Symbol stehen. Das Erschrecken über diese Ereignisse rief die Einsicht wach, daß die internationale Staatengemeinschaft zu einer Übereinkunft über die elementaren Menschenrechte gelangen müsse; das Völkerrecht mußte sich zum Humanrecht weiterentwickeln. Deshalb kam es schon bald nach der Gründung der Vereinten Nationen zur Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948. Diese Deklaration ist kein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag; deshalb bemühte man sich in den Vereinten Nationen um die Formulierung und Verabschiedung von Konventionen über die M, die durch die Ratifikation Rechtsverbindlichkeit für die Mitgliedsstaaten erlangten. Die wichtigsten derartigen Konventionen sind die beiden Menschenrechtspakte von 1966; der eine behandelt die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, der andere die staatsbürgerlichen und politischen Rechte. Neben diesen Bemühungen auf der Ebene der Vereinten Nationen ist es auch zu regionalen Menschenrechtskodifikationen gekommen; für den europäischen Bereich hat die europäische Menschenrechtskonvention von 1950 besonderes Gewicht. Schon seit der Menschenrechtserklärung von 1948, verstärkt aber seit den beiden Konventionen von 1966 ist die Frage nach dem Verhältnis von individuellen Freiheitsrechten und sozialen Menschenrechte ein Grundproblem jeder Menschenrechtsinterpretation.
In die einzelstaatlichen Verfassungen gehen die Menschenrechte in der Gestalt von Grundrechten ein. Dabei ist es für das Bonner Grundgesetz von 1949 charakteristisch, daß es sich für die Einführung der Grundrechte ausdrücklich zunächst auf die Menschenwürde und sodann auf die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte beruft (Art. 1 GG). Dadurch ist zugleich ein Auslegungskanon festgestellt, der in der Grundrechtstheorie der letzten Jahrzehnte nicht immer beachtet worden ist; er bindet das Grundrechtsverständnis an die elementaren Menschenrechtsstandards der internationalen Rechtsgemeinschaft.
2. Die Grundfigur der Menschenrechte
Die historischen wie die aktuellen Menschenrechtskataloge enthalten unterschiedliche Elemente. Betrachtet man sie im Blick auf ihren Kerngehalt, so zeigt sich: Freiheit, Gleichheit und Teilhabe machen zusammen die Grundfigur der Menschenrechte aus. Die Menschenrechte schützen die Freiheit der Bürger gegenüber unrechtmäßigen Eingriffen insbesondere der staatlichen Gewalt; deshalb gehören Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit, die Justizgrundrechte und der Schutz des Eigentums zu ihrem klassischen Grundbestand. Sie proklamieren aber ebenso die Gleichheit aller Menschen; sie enthalten insofern eine revolutionäre Tendenz gegenüber allen Zuständen, die durch unlegitimierbare Ungleichheiten und Diskriminierungen charakterisiert sind. Und sie postulieren die wirksame Teilhabe aller Betroffenen an den politischen Entscheidungen wie an den gesellschaftlichen Gütern. Die Zusammengehörigkeit dieser drei Elemente im Menschenrechtsgedanken ist grundlegender als die spätere Unterscheidung oder Entgegensetzung von individuellen und sozialen Rechten; diese hat ihre Begründung nicht im Wesen der Menschenrechte selbst, sondern allein in dem Umstand, daß individuelle Rechte leichter durch gerichtlichen Rechtschutz verbürgt werden können als soziale Rechte; dies gilt insbesondere dann, wenn – wie in kapitalistischen Staaten – wichtige wirtschaftliche Entscheidungen der unmittelbaren staatlichen Einflußnahme entzogen sind. Indes ist der gerichtliche Schutz zwar eine wichtige, aber keineswegs die einzige Form der Durchsetzung der M; deshalb kann in diesem Argument allein kein hinreichender Grund für die Ablehnung sozialer Menschenrechte gesehen werden.
3. Theologische Interpretationen
Nachdem Theologie und Kirche – jedenfalls in den Großkirchen – den Menschenrechten über eine lange Zeit hinweg distanziert oder ablehnend gegenüberstanden, haben diese nach dem 2. Weltkrieg im theologisch-kirchlichen Bereich verstärkte Aufmerksamkeit gefunden. Der ÖRK hat sich schon in den ersten Jahren seines Bestehens an den Bemühungen um die internationale Kodifikation der Menschenrechte beteiligt. Die röm.-kath. Kirche hat sich – mit besonderem Nachdruck in der Enzyklika – JOHANNES’ XXIII. „Pacem in terris“ von 1963 und in der Pastoralkonstitution des 2. Vatikanische Konzils „Gaudium et spes“ von 1965 – den Menschenrechtsgedanken zu eigen gemacht. Dieses neue Verhältnis der Kirchen zu den Menschenrechten wird auf unterschiedlichen Wegen theologisch begründet.
a) Eine erste Begründung besteht darin, die Menschenrechte aus dem Recht Gottes auf den Menschen abzuleiten. Diese Begründung arbeitet indes mit einer Äquivokation, wenn sie das Verhältnis Gottes zum Menschen und die Stellung des Menschen im politischen Gemeinwesen mit dem gleichen Begriff des Rechts belegt; sie steht außerdem in der Gefahr, die besonderen historischen und rechtlichen Strukturen der. Menschenrechte zu verwischen.
b) Das kath. Lehramt arbeitet mit einer doppelten Begründung der Menschenrechts Sie werden zum einen aus dem jedermann einsehbaren Naturrecht, zum anderen aber aus besonderen Inhalten der christl. Offenbarung hergeleitet. Doch die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Glaube im Blick auf die Menschenrechte kann durch solch eine doppelte Begründung gerade nicht gelöst werden.
c) Es ist vorgeschlagen worden, auf jede Begründung der Menschenrechte im Horizont christl. Theologie zu verzichten. Doch dieser Vorschlag beruht auf der zweifelhaften Voraussetzung; daß über den Gehalt der Menschenrechte kraft der Autonomie der menschlichen Vernunft ein Einverständnis herzustellen sei. Unberücksichtigt bleibt dabei der geschichtliche Charakter der Vernunft ebenso wie das Faktum, daß die Menschenrechte keineswegs einvernehmlich interpretiert werden, sondern sich vielmehr im Streit befinden.
d) Eine funktionale theologische Theorie der Menschenrechte zielt darauf, die funktionalen Entsprechungen zwischen dem Appell an die Unverfügbarkeit der menschlichen Würde, der in den Menschenrechten zum Ausdruck kommt, und dem Gedanken der Rechtfertigung des Menschen vor Gott allein durch Gnade herauszuarbeiten. Bei dieser Interpretation treten jedoch die Elemente der christlichen Überlieferung in den Hintergrund, die sich nicht einfach in das neuzeitliche Menschenrechtsbewußtsein – insbesondere in seiner westlich-liberalen Fassung – einfügen lassen.
e) Eine weitere Interpretation geht von den unterschiedlichen Akzentuierungen und widersprüchlichen Fassungen des Menschenrechtsgedankens in der Neuzeit aus. Sie versucht, deren gemeinsamen Kerngedanken als das Ineinander von Freiheit, Gleichheit und Teilhabe zu identifizieren, und interpretiert diese grundlegenden Momente hinsichtlich ihrer Entsprechung und ihrer Differenz zu Grundinhalten des christlichen Glaubens. Indem der Glaube auf die Zuwendung des Menschen zu Gott wie auf die Verbundenheit mit dem Mitmenschen gerichtet ist, bekräftigt er das Eintreten für die Menschrechte, enthält aber zugleich Impulse, die über die existierenden Kodifikationen der Menschenrechte hinausweisen.
Es ist eine wichtige ökumenische Aufgabe, das Gespräch über den Beitrag der Christenheit zum Verständnis der Menschenrechte fortzusetzen. Von noch höherem Gewicht aber ist es, durch praktisches Handeln zur Verwirklichung der Menschenrechte beizutragen. Auf welche Weise das geschehen kann, ist insbesondere seit dem Beginn des ökumenischen Programms zur Bekämpfung des Rassismus (1970) Gegenstand lebhafter Auseinandersetzungen. Die Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (Helsinki, 1975), die ausdrücklich auf die Menschenrechte Bezug nimmt, hat auch im ökumenischen Bereich verstärkte Überlegungen zu der Frage ausgelöst, was die Kirchen zu Realisierung der Menschenrechte beitragen können.
Lit.: R. Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschrechte, 1964; F. Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, 1974; Die Kirche und die Menschenrechte. Ein Arbeitspapier der Päpstlichen Kommission Iustitia et Pax, 1975; E.-W. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, 221 ff.; J. M. Lochman/J.Moltmann (Hrsg.), Gottes Recht und Menschenrechts Studien und Empfehlungen des Reformierten Weltbundes, 1976; J. Baur (Hrsg.), Zum Thema Menschenrechte, 1977; W. Huber/H. E. Tödt, Menschenrechtliche Perspektiven einer menschlichen Welt, 21978; M. Honecker, Das Recht des Menschen. Einführung in die evangelische Sozialethik, 1978; G. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, 21978; Chr. Lewek/M. Stolpe/J. Garstecki (Hrsg.), Menschenrechte in christlicher Verantwortung, 1980; E. Lorenz (Hrsg.) „… erkämpft das Menschrecht“. Wie christlich sind die Menschenrechte? 1981; H. E. Tödt, Menschenrechte – Grundrechte, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Bd. 15, 1982.
Quelle: Hanfried Krüger et al. (Hg.), Ökumene Lexikon, Frankfurt, 21987, Sp. 803-806.