Martin Buber, Im Anfang (1924): „Es kommt nicht darauf an, ein ‚Ideal‘ zu verkün­den und seine Erfüllung zu fordern, zu verfechten und abzuwarten, sondern darauf, an jedem Morgen mit der Verwirklichung des Rechten neu zu be­ginnen, ohne zu wissen, wie weit man heute kommt, wissend, dass es am nächsten Tag erneuten Anfang gilt — und dass in diesem All-Tag verborgen unser Vollenden und unsere Vollendung ruht.“

Im Anfang (1924)

Von Martin Buber

Die ersten Worte der Schrift „Im Anfang schuf Gott“ haben unsere Weisen so gedeutet: „Um des Anfangs willen – um der Thora willen, die Anfang genannt ist, um Israels willen, das Anfang genannt ist.“ Eins der weisesten chassidischen Bücher, der „Raw Jewi“, aber führt die Deutung aus: „Gott verlangt vom Menschen nur das Anfängen: daß er anfange, das Rechte zu tun, und Gott wird ihm helfen, es zu vollenden, denn ohne Hilfe von Gott kann man ja nichts zu Ende führen. Wenn aber Gott ihm hilft, womit dient er Gott? er hat ja selber nichts getan! Damit verhält es sich so: Das Wesen des Dienstes ist eben das Anfangen, da gehört die Tat dem Menschen; dann aber ist sie nicht mehr sein, denn vom Himmel wird ihm beigestanden. Das ist der Sinn des Wortes ‚Im Anfang‘: um des Anfangens in allem Rechttun willen hat Gott die Welt erschaffen.“

Wie tief werden wir durch diese Lehre belehrt! Es gibt also etwas, was uns in Wahrheit zugewiesen ist, was wir und nur wir selber zu tun vermö­gen, was niemand, auch Gott nicht, uns abnimmt. Dieses eine zu tun und immer wieder zu tun sind wir da, das ist mit uns gemeint, das ist unser und aller Schöpfung Sinn. Es kommt also nicht darauf an, ein „Ideal“ zu verkün­den und seine Erfüllung zu fordern, zu verfechten und abzuwarten, sondern darauf, an jedem Morgen mit der Verwirklichung des Rechten neu zu be­ginnen, ohne zu wissen, wie weit man heute kommt, wissend, daß es am nächsten Tag erneuten Anfang gilt — und daß in diesem All-Tag verborgen unser Vollenden und unsere Vollendung ruht.

Wird Zion Gottes Werk oder der Menschen Werk sein? Es kann nur Gottes Werk sein; und es kann sein Werk nur sein, wenn es der Menschen Werk ist.

Quelle: Martin Buber, Politische Schriften, hrsg. v. Abraham Melzer, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins, 2010, S. 449.

Hier der Text als pdf.

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