Alois Hahn über Beichte und Selbsterkenntnis: „Es ist für die Geschichte des christlichen Abendlandes, für die Entstehung des hier geltenden Menschenbildes und die vorherrschenden Ty­pen des Selbstbewußtseins von großer Bedeutung gewesen, dass Selbstthematisierung als allgemein verbindliche Aufgabe im Zu­sammenhang von Schuldbekenntnissen institutionalisiert worden ist. Sie ist in diesem Kontext angeleitet von Sündenkatalogen, die die Beobachtung des eigenen Verhaltens und des Innenlebens ausrichten und im Dienst gesteigerter Selbstkontrolle stehen.“

Da wissen wir um die Problematiken einer Beichtpflicht. Und doch kann man den Einfluss einer durch das IV. Laterankonzil (1215) kirchlich verordneten Ohrenbeichte auf den Zivilisationsprozess in West- und Mitteleuropa nicht hoch genug einschätzen. Diese hat mit Hilfe von Beichtspiegeln bzw. Bußbücher (Pönitentialien) in der breiten Bevölkerung skrupulöse Introspektionsprozesse nachhaltig angeleitet und damit einen gewissenhaften „inneren Menschen“ (homo interior) befördert.
Zur Recht schreibt Hubertus Lutterbach: „Tatsächlich war die christliche Beichte die einzige Institution, die den Menschen seit dem Beginn des Frühmittelalters zur Verfügung stand, um das eigene Handeln unter Anleitung regelmäßig zu reflektieren. Ohne Übertreibung darf die christliche Buße und ihre Geschichte für die westliche Welt als alleiniger »Biographiegenerator«, oder womöglich treffender: als allein verbliebener Introspektionsgenerator im Zeitraum zwischen 600 und 1500 – also über die fast tausend Jahre Mittelalter hinweg – gelten.“ (
Introspektion und Selbstthematisierung in Beichte und Supervision, KZG 28, 2015, S. 334.)
Alois Hahn hatte sich als Soziologe der kulturgeschichtlichen Bedeutung der Beichte angenommen. Hier ein Auszug aus „Identität und Selbstthematisierung“ (1987):

Beichte und Selbsterkenntnis

Von Alois Hahn

Menschen neigen nicht von Natur aus dazu, sich über ihr Leben Rechenschaft abzulegen. Ob sie das tun und in welcher Form, hängt davon ab, ob es Institutionen gibt, die die Individuen zwingen oder es ihnen gestatten, ihre Vergangenheit zum Thema zu machen. Solch ein Rückblick auf die eigene Vita ist nie ohne Anleitung der Aufmerksamkeit möglich.

Im europäischen Raum ist eine der wichtigsten Institutionen dieser Art die Beichte gewesen. Ihre verschiedenen historischen Formen signalisieren in kennzeichnender Weise unterschiedliche Methoden und Zielsetzungen der Selbstbeschreibung. Es ist für die Geschichte des christlichen Abendlandes, für die Entstehung des hier geltenden Menschenbildes und die vorherrschenden Ty­pen des Selbstbewußtseins von großer Bedeutung gewesen, daß Selbstthematisierung als allgemein verbindliche Aufgabe im Zu­sammenhang von Schuldbekenntnissen institutionalisiert worden ist. Sie ist in diesem Kontext angeleitet von Sündenkatalogen, die die Beobachtung des eigenen Verhaltens und des Innenlebens ausrichten und im Dienst gesteigerter Selbstkontrolle stehen: Das Wissen, das man so von sich gewinnt, entspringt dem Gewis­sen.

Die Beichte ist natürlich nicht der einzige »Biographiegenerator« in Europa gewesen. Lebensbeschreibungen können sich z.B. auf die Aufzählung von bedeutenden Heldentaten beschränken und statt auf Gewissenserforschung auf Sicherung von Ruhm abzielen. Sie können auch der bloßen Weitergabe von wichtigen Erfahrungen dienen. Jedoch ist gerade die Beichte eine soziolo­gisch besonders interessante Variante eines solchen Biographiegenerators, weil sie spätestens seit dem 4. Laterankonzil (1215) zumindest einmal jährlich für alle Christen vorgeschrieben war und der Verstoß gegen diese Vorschrift schwere religiöse und weltliche Strafen nach sich zog.

So ist es denn nicht verwunderlich, daß seit einigen Jahren die Geschichte der Beichte nicht nur Theologen oder Kirchenhistori­ker im engeren Sinne interessiert, sondern insbesondere auch soziologische und zivilisationstheoretische Forschungen angeregt hat. Besonders stimulierend haben in diesem Zusammenhang die Überlegungen Foucaults gewirkt, die auf die Beziehung von Beichte und anderen Formen der Selbstüberwachung aufmerk­sam gemacht haben. Für die Geschichte der Beichte im Mittelal­ter sind namentlich die Forschungen Le Goffs, Tenders und Delumeaus stark rezipiert worden. Ferner gibt es neuere Unter­suchungen, die dem Zusammenhang von Beichte, Psychoanalyse und autobiographischen Formen der Selbstthematisierung aus soziologischer Perspektive nachgehen.

Im einzelnen läßt sich etwa der folgende allgemeine Überblick über die geschichtliche Entwicklung der Beichte geben.

In der christlichen Urkirche hat es eine regelmäßige Beichte, wie wir sie auch heute noch in der katholischen Kirche kennen, nicht gegeben. Die Urkirche definierte sich als Elite, als erwählte Schar religiöser Virtuosen. Dieser Anspruch ist nicht vereinbar mit häufigem Rückfall in schwere Sünden. Außerdem entspricht dem sehr dichten Gemeinschaftsleben eine hohe Sichtbarkeit des Ver­haltens. Im Vordergrund steht deshalb nicht das Bekenntnis, sondern die Buße. Das Problem ist der Skandal der sichtbaren Unheiligkeit eines Mitglieds der Gemeinschaft der Heiligen. Er kann typischerweise nur durch lange öffentliche Bußprozeduren abgebaut werden, in denen schrittweise der schuldig gewordene Sünder wieder in die Gruppe integriert wird. Solche Öffentlich­keit der Buße schließt normalerweise jede Wiederholung aus. Es handelt sich um ein einmaliges Zugeständnis. Es gibt übrigens, wie neuere Forschungen von Riegel zeigen, eine Reihe struktu­reller Ähnlichkeiten zwischen der Bußpraxis der alten Kirche und gewissen revolutionären kommunistischen Gruppen in der jünge­ren Vergangenheit.

Für die Kirche ergab sich in dem Moment eine neue Situation, als sie zur Massenorganisation wurde. Nun war nicht mehr mit geistlichem Virtuosentum als Normalfall zu rechnen. Die öffent­liche Buße und die Einmaligkeit des Bekenntnisses sind unter diesen Umständen zu schwerfällige Instrumente. Massenkon­trolle hat die Sünde als zwar bedenkliches, aber doch routinemä­ßig zu bearbeitendes Phänomen zu behandeln. Als erfolgreichste Technik erwies sich in diesem Kontext die von den angelsächsi­schen Mönchen entwickelte »Tarifbeichte«. Sie suchte im wesent­lichen äußere Handlungen zu kontrollieren und religiös zu sank­tionieren. Man stellt einen Sündenkatalog auf und ordnet ihm bestimmte Strafen wie Tarife zu. Diese werden für die Beichtväter in den Pönitentialbüchern, einer neu entstehenden Textgattung, zusammengestellt. Nicht die Bosheit der Absicht, sondern die Schwere der Tat bestimmt die Buße.

Eine neue Stufe wird in dem Moment erreicht, wo sich der Schwerpunkt der Sündenanalyse von den äußeren Akten auf Intentionen verschiebt und wo Verantwortung nicht nur für Tun, sondern auch für Erleben übernommen werden muß. Diese Veränderung läßt sich in Europa deutlich im 12. Jahrhundert diagnostizieren. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Sündenlehre des Abälard.

Die Beichte wird jetzt ein Forum, vor das nicht nur Handlungen, sondern auch Absichten gezogen werden. Es kommt zu gestei­gerter Aufmerksamkeit auf Motive und zu intensiverer Verlage­rung des Blicks auf das eigene Innere und damit zu einer deut­licheren Empfindung der Besonderheit des Einzelnen. Subjektivi­tät ergibt sich als Folge sozialer Kontrollprozesse, in denen sich Sinngebung des Daseins als Resultat introspektiver Arbeit her­ausstellt. Eine der anschaulichsten Folgen dieser durch das 4. La­terankonzil zur allgemeinen Christenpflicht gemachten Befas­sung mit sich selbst ist ein neues Gefühl für die Einzigartigkeit des Individuums, wie es sich etwa in der Individualisierung der Grabplastik zeigt oder in der Dramatisierung der Todesangst und in der Betonung des unmittelbar auf den Tod folgenden individu­ellen Seelengerichts und der Verbreitung der Fegefeuerlehre.Der einzelne wäre bald am Ende mit seinem Blick ins Innere, wenn ihm keine Karte für seine Seelenlandschaft an die Hand gegeben würde. Bald nach dem Laterankonzil entstand denn auch eine neue Gattung von Handbüchern für den Beichtvater, in denen die Welt der Sünden, der Tugenden, der Intentionen und Motive, die Grade der Freiheit und Verantwortung kasuistisch vermessen und systematisiert werden. Es handelt sich bei diesen Texten um die Summae Confessorum oder die Sum­mae de Casibus Conscientiae. Ihre Hauptfunktion lag wohl darin, daß sie in einer Zeit kom­plexer werdender, differenzierterer Handlungs­welten durch moralische und – wenn man so sagen darf – »psychologische« Respezifikationen allgemeiner Prinzipien dem Beichtvater und über ihn auch dem Beichtkind konkretere Orien­tierungen und eine größere Sicherheit bei der Beurteilung der ethischen Qualität von Handlungen und Motiven boten. Auf diese Weise kann angesichts neuer und nicht eindeutiger Lebens­lagen Schuldangst reduziert werden. So wie der Analysand auf der Couch des Psychotherapeuten im psychoanalytischen Struk­turmodell ein Muster für sein individuelles Triebschicksal findet, so fand der mittelalterliche Kaufmann, Handwerker, Gelehrte, Priester oder Adlige in der Kasuistik der Summen einen Raster zur Beurteilung seiner Sünden. Alle Summen zeigen denn auch eine relativ präzise Kenntnis der beruflichen Differenzierung und der mit jedem Beruf oder Stand speziell verbundenen Versuchun­gen und Gewohnheitssünden. Ohne deren genaue Kenntnis wäre moralische Führung unmöglich.

Eine der wichtigsten Neuerungen in den Beichtauffassungen der katholischen Kirche zeigt sich in der Idee der Generalbeichte, wie sie während der Gegenreformation aufkommt. Haben die übli­chen Beichten zwar die Funktion, das Gewissen zu erforschen, so tilgen sie doch auch andererseits die bereuten Sünden. Demge­genüber bietet die Generalbeichte Anlaß, auch die schon verzie­henen Sünden noch einmal zu beichten. Es geht um eine wirkli­che Sündenbiographie. Das gesamte Leben wird in einer be­stimmten Weise rekapituliert. Der Hintergrund solcher Konzepte hängt mit der größeren Skepsis gegenüber dem Rückfall in die Sünde zusammen, der eigentlich bei wirklicher Reue nicht so regelmäßig sein dürfte, wie er es für gewöhnlich doch ist. Auf diese Weise erzeugt der Rückfall den Verdacht, daß die Beichte wegen mangelnder Reue von Anfang an nicht gültig war. In diesen Überlegungen sind unschwer Parallelen zu reformierten Auffassungen erkennbar. Bei den Calvinisten gab es zwar keine Beichte mit sakramentalem Charakter, wohl aber Sündenbe­kenntnisse in der Familie und in der Gemeinde und vor allem die individuelle Gewissenserforschung, die oft in Form eines syste­matischen Tagebuchs durchgeführt wurde. Da man entweder erwählt oder verworfen ist, da die Verdammten aber an ihrem sündigen Lebenswandel zu erkennen sind, sichert einzig ein gottwohlgefälliges Leben ein gewisses Vertrauen in die eigene Erwähltheit. Es kommt insbesondere in calvinistisch geprägten Gebieten deshalb nicht zufällig zu einer geistlichen Selbsterfor­schung, die manchmal zur ängstigenden Qual werden kann, bisweilen aber auch in eine an sich verbotene Selbstgefälligkeit oder Selbstgerechtigkeit umschlägt, in jedem Falle aber auch in ihren säkularisierten Formen im Dienst strikter Selbstkontrolle steht. Wie vor allem Foucault und in anderer Weise auch Eliasgezeigt haben, ist die moderne Zivilisation mit Prozessen ge­steigerter Fremdüberwachung verbunden, die schließlich verin­nerlicht werden und als Selbstkontrollen wirksam werden. Die gegenreformatorischen Konzepte der Generalbeichte und ihre reformierten Pendants reihen sich ein in jene institutionellen Mechanismen, die zur Herausbildung des modernen zivilisato­risch geprägten Menschentyps beigetragen haben. Daß auch die Entstehung des modernen bürgerlichen Romans in England mit den dort üblichen subtilen Schilderungen psychischer Binnenla­gen und den Beschreibungen komplexer seelischer Empfindungsgeflechte dem ursprünglich religiös begründeten Verfahren der Introspektion viel verdankt, ergibt sich ebenfalls aus den neueren Forschungen zur Geschichte der Selbstthematisierungen.

Quelle: Alois Hahn, Identität und Selbstthematisierung, in: Ders./Volker Kapp (Hrsg.), Selbstthematisierung und Selbstzeugnis. Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt a.M.: Suhrkamp,1987, 9–24, hier 18–22.

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