Martin Bubers Brief an Mahatma Gandhi in Sachen Juden in Palästina von 1939: „Wir sind über­zeugt, dass es möglich sein muss, einen Ausgleich zwischen diesem An­spruch und dem anderen zu finden, weil wir dieses Land lieben und an seine Zukunft glauben, und weil, da gewiss auch auf der anderen Seite solche Liebe und solcher Glaube vorhanden sind, ein Zusammenschluß zu gemeinsamem Dienst an dem Land nicht unerreichbar sein kann. Nun aber kommen Sie und erledigen das ganze existenzielle Dilemma mit der einfachen Formel. »Palästina gehört den Arabern.«“

Nach seiner Übersiedlung nach Palästina im März 1938 bestand eine von Martin Bubers ersten Aufgaben darin, auf einen zionismuskritischen Artikel The Jews in Palestine von Mahatma Gandhi zu reagieren, den dieser am 26. 11. 1938 in Harijan. A Journal of Applied Gandhiism veröffentlicht hatte:

Brief an Mahatma Gandhi

Von Martin Buber

Jerusalem, 24. Februar 1939.

Der Unglückliche hört nicht zu, wenn rings um ihn die eitlen Mäuler sein Schicksal beschwatzen; wenn aber, den leeren Lärm durchstoßend, eine Stimme ihn beim Namen anruft, die er seit langem kennt und ver­ehrt, eine große ernste Stimme, horcht er auf. Was diese Stimme mir zu sagen hat – so denkt er –, das kann nur guter Rat und echter Trost sein, denn der da redet, weiß, was Leid ist, er weiß, daß der Leidende des ech­ten Trostes fast noch mehr als des guten Rats bedarf, und er hat beides, Weisheit, um richtig zu raten, und jene schlichte Einheit von Glauben und Liebe, der allein sich das Geheimnis des Tröstens erschließt. Doch was er nun zu hören bekommt, enthält zwar Elemente einer ihm, eben aus dem Munde dieses Sprechers, wohlbekannten und an sich hohen Lo­bes würdigen Anschauung, aber auf ihn und seine Lage passen sie gar nicht, sie sind gar nicht wirklich an ihn gerichtet, jedem Wort merkt er an, daß es nur aus allgemeinen, wie gesagt sehr preisenswerten Grundsätzen geschöpft ist, und daß der Sprecher ihn, den Angerufenen, in die­ser seiner Lage nicht sieht, ihn, ehe er das Wort ergriff, nicht angesehen hat, daß er ihn und seine Lage nicht kennt. Dazu kommt aber noch, daß sich mit Rat und Trost ein Drittes mischt, das beide übertönt: der Vor­wurf. Nicht als wollte der Leidende in dieser Stunde von dem verehrten Manne keine Anklage entgegennehmen – im Gegenteil: erst wenn sich mit dem guten Rat und dem echten Trost der gerechte Vorwurf verbände und beiden ihren Sinn und Grund gäbe, erkennte er im Bringer des Wor­tes den Boten. Aber die Anklage, die da geäußert wird, ist eine ganz an­dere, als die er aus dem Sturm der Ereignisse und aus dem schweren Schlage des eigenen Herzens vernimmt, eine fast entgegengesetzte, – er prüft, er forscht, nein: sie ist nicht gerecht. Und das durchbohrt den Pan­zer seines Schweigens. Was das Wüten des Feindes nicht zustande brach­te, bewirkt der freundliche Zuspruch: er muß antworten. Daß die Meister der Eishölle, ruft er, auf einen kunstfertig hergestellten Popanz meinen Namen kleben, ist in ihrem Wesen und im Wesen ihrer Beziehung zu mir begründet; aber du, Mann des guten Willens, wie weißt du nicht, daß man den sehen muß, den man anspricht, ihn in seiner Beschaffenheit, an seinem Orte, von seinem Schicksal umwittert!

Juden werden verfolgt, beraubt, mißhandelt, gepeinigt, umgebracht. Und Sie, Mahatma Gandhi, sagen, ihre Lage in dem Lande, in dem ihnen dies widerfährt, entspreche genau (an exact parallel) der Lage der Inder in Südafrika zur Zeit, als Sie dort Ihre berühmte »Wahrheitskraft« – oder »Seelenstärke« – (satyagraha-)Kampagne eröffneten: dort hätten die In­der durchaus denselben Platz eingenommen (there the Indians occupied precisely the same place) und die Verfolgung habe auch dort eine religiö­se Färbung (a religious tinge) gehabt. Auch dort habe die Verfassung die Gleichberechtigung zwischen Weißen und Farbigen, einschließlich der Asiaten, abgelehnt, auch dort seien den Indern Ghetti angewiesen wor­den, und die übrigen Disqualifikationen seien ebenfalls nahezu von der gleichen Art gewesen wie die der Juden in Deutschland (almost of the same type as those of the Jews in Germany). Ich habe diese Sätze Ihres Artikels wieder und wieder gelesen, ohne sie zu verstehen. Ich habe Ihre Reden und Schriften aus der südafrikanischen Zeit, obgleich ich sie gründlich kannte, nochmals gelesen und mir jede Beschwerde, die Sie darin vorbringen, mit aller Aufmerksamkeit und Phantasie vergegenwär­tigt; ich habe dasselbe mit den Berichten Ihrer Freunde und Schüler über jene Zeit getan; aber all das hat mir nicht geholfen zu begreifen, was Sie von uns sagen. In Ihrem ersten mir bekannten Vortrag, von 1896, haben Sie, unter den Pfuirufen der Versammlung, zwei besondere Vorgänge als Zeugnis angeführt: daß eine Europäerbande einen indischen Dorfladen anzündete und einigen Schaden verursachte, und daß eine andere Bande brennende Raketen in einen anderen städtischen Laden warf. Wenn ich dagegen die Tausende und Tausende zerstörter und verbrannter jü­discher Geschäfte stelle, werden Sie vielleicht entgegnen, das sei nur ein Unterschied der Quantität, und die Handlungen seien doch almost of the same type. Aber wissen Sie nichts, Mahatma, von der Verbrennung der Synagogen und der Thorarollen? Wissen Sie nicht, was da an heiligem, zum Teil uraltem Gut der Gemeinschaft in Flammen aufgegangen ist? Ich habe nie davon gehört, daß Buren oder Engländer in Südafrika ein in­disches Heiligtum verletzt hätten. Und dann finde ich noch eine konkrete Beschwerde in jenem Vortrag angeführt: daß drei indische Schullehrer, die sich entgegen dem Verbot nach neun Uhr abends auf der Straße be­fanden, verhaftet und erst danach freigesprochen worden seien. Das ist alles, was Sie an Derartigem vorbringen. Aber wissen Sie, oder wissen Sie nicht, Mahatma, was ein Konzentrationslager ist und wie es darin zugeht, welches die Martern des Konzentrationslagers, welches seine Methoden des langsamen und des schnellen Umbringens sind? Ich kann nicht an­nehmen, daß Sie es wissen, denn sonst wäre dieses tragikomische »almost of the same type« Ihnen doch wohl nicht über die Lippen gegangen. Die Inder wurden in Südafrika verachtet und verächtlich behandelt, aber rechtlos waren sie nicht, vogelfrei waren sie nicht, Geiseln für das er­wünschte Verhalten des Auslandes waren sie nicht. Und meinen Sie etwa, ein Jude könnte in Deutschland auch nur einen einzigen Satz eines Vortrags wie jenes von Ihnen öffentlich aussprechen, ohne niedergeschlagen zu werden? Was für eine Bedeutung hat es, auf etwas Gemeinsames hin­zuweisen, wenn man solche Verschiedenheit unbeachtet läßt?

Es scheint mir nicht überzeugend, daß Sie Ihre Weisung an uns, in Deutschland satyagraha zu üben, mit dieser Ähnlichkeit der Voraussetzungen begründen. Ich habe in den fünf Jahren, die ich selbst unter dem gegenwärtigen Regime verbracht habe, viele Handlungen echter Seelen­stärke von Juden erlebt, die sich ihr Recht nicht abdingen und sich nicht niederbeugen ließen, aber nicht allein keine Gewalt, sondern auch keine List gebrauchten, um den Folgen solcher Haltung zu entgehen. Aber diese Handlungen haben offenbar keinen Einfluß auf das Handeln der Gegen­seite ausgeübt. Gewiß: Heil und Ehre jedem, der solche Seelenstärke be­kundet! Aber als Parole der allgemeinen Haltung, die eine Wirkung zu tun geeignet erscheint, kann ich sie für die deutschen Juden nicht anerkennen. Man kann einsichtslosen Menschenseelen gegenüber eine wirksame Haltung der Gewaltlosigkeit einnehmen, auf Grund der Möglichkeit, ihnen dadurch allmählich Einsicht beizubringen, aber einer dämonischen Uni­versalwalze kann man so nicht begegnen. Es gibt eine Situation, in der aus der satyagraha der Seelenstärke keine satyagraha der Wahrheitskraft wer­den kann. Das Wort »Martyrium« bedeutet Zeugenschaft; wenn aber kein Mensch da ist, der das Zeugnis entgegennimmt? Zeugenschaft ohne Zeugnis, unwirksames, unbeachtetes, verwehendes Martyrium, das ist das Los unzähliger Juden in Deutschland. Gott allein nimmt ihr Zeugnis entgegen; der »siegelnde« Gott, wie es in unseren Gebeten heißt, besiegelt es; aber eine Maxime des angemessenen Verhaltens kann man daraus nicht ableiten. Solches Martyrium wird getan; doch wer darf es fordern!

Aber Ihre Vergleichung der Lage der Juden in Deutschland mit der der Inder in Südafrika nötigt mich, Sie auf einen noch wesentlicheren Unter­schied aufmerksam zu machen. Das ist freilich ein Unterschied, von dem ich, so groß er ist, recht wohl begreife, daß er Ihnen gar nicht bewußt war, als Sie die exact parallel aufstellten. Es ist so gut zu begreifen, daß es Ihnen, wenn Sie an Ihre südafrikanische Zeit zurückdenken, ganz selbstverständlich ist, daß es auch damals diese große Mutter Indien für Sie gegeben hat, wie es Ihnen auch damals selbstverständlich war, daß es sie gibt. Das war und ist für Sie so selbstverständlich, daß Sie sich offenbar gar nicht den fundamentalen Unterschied zwischen all den Völkern vergegenwärtigen, die solch eine Mutter haben – es muß nicht eine so große Urmutter sein, es kann auch ein kleines, schmales Mütterlein sein, aber eben eine Mutter, Mutterschoß und Mutterherz -, und einem Volk, das verwaist ist, oder dem man von seinem Lande sagt: Dies ist deine Mutter nicht mehr.

Als Sie in Südafrika waren, Mahatma, lebten dort etwa 150 000 Inder. Aber weit mehr als zweihundert Millionen lebten in Indien! Und diese Tatsache nährte die Seelen der hundertfünfzigtausend; ob sie es wußten oder nicht, sie hatten Kraft zu leben und Mut zu leben von dieser Tatsa­che her. Fragten Sie sie da, wie Sie die Juden fragen, ob sie want a double home where they can remain at will? Sie sagen den Juden, wenn Palästina ihr Heim sei, müßten sie sich mit dem Gedanken vertraut machen, daß sie genötigt würden to leave the other parts of the world in which they are settled? Haben Sie den Indern in Südafrika auch gesagt, wenn Indien ihr Heim sei, müßten sie sich mit dem Gedanken vertraut machen, daß sie genötigt würden, nach Indien zurückzukehren? Oder sagten Sie ihnen, Indien sei ihr Heim nicht? Und wenn, was freilich unvorstellbar ist, die Hunderte Millionen Inder morgen über die Erde verstreut würden, und übermorgen würde ein anderes Volk sich in Indien festsetzen, und die Juden würden erklären, daß trotzdem dort noch Platz sei für Begründung eines National Home für sie, das ihrer Diaspora eine starke organische Konzentration, die Errichtung einer lebendigen Mitte gewährt, soll dann ein jüdischer Gandhi – angenommen, daß es so etwas geben kann – ihnen antworten (was Sie den Juden antworten): This cry for the Natio­nal Home affords a colourable justification for your expulsion? Oder sie belehren, ähnlich wie Sie die Juden belehren: Das Indien der vedischen Vorstellung ist nicht eine geographische Gegend, es ist in euren Herzen? Ein Land, von dem ein heiliges Buch den Söhnen dieses Landes erzählt, ist niemals bloß in den Herzen, ein Land wird nie zum bloßen Symbol. Es ist in den Herzen, weil es in der Welt ist; es ist ein Symbol, weil es eine Wirklichkeit ist. Zion ist das prophetische Bild einer Verheißung für die Menschheit; aber es wäre nur eine schlechte Metapher, wenn es den Zionsberg nicht wirklich gäbe. Dieses Land heißt »heilig«, aber es ist nicht die Heiligkeit einer Idee, es ist die Heiligkeit eines Stücks Erde; was Idee ist und nichts anderes, kann nicht heilig werden, aber ein Stück Erde kann heilig werden, wie ein Mutterleib heilig werden kann.

Zerstreuung ist erträglich und zuweilen sogar sinnreich, wenn es ir­gendwo eine Sammlung, eine wachsende heimatliche Mitte gibt, ein Stück Erde, wo man nicht in der Zerstreuung, sondern in der Sammlung ist und von wo aus der Geist der Sammlung in alle Stätten der Zerstreu­ung hinaus wirken kann. Wo es das gibt, gibt es ein aufstrebendes ge­meinsames Leben, das Leben einer Gemeinschaft, die heute zu leben wagt, weil sie morgen zu leben hoffen darf. Aber wo der Zerstreuung diese wachsende Mitte, dieses unablässige Geschehen der Sammlung fehlt, da wird sie zur Zerstückelung. Von da aus ist die Frage unseres jüdischen Schicksals unablösbar an die Möglichkeit der Sammlung, diese aber an Palästina gebunden.

»Warum sollen sie nicht«, fragen Sie, »wie andere Völker der Erde je­nes Land zu ihrer Heimat machen, wo sie geboren sind und ihren Le­bensunterhalt erwerben?« Weil ihr Schicksal ein anderes ist als das aller anderen Völker der Erde, und zwar ein Schicksal, das nach Wahrheit und Gerechtigkeit keinem Volk der Erde zuzumuten ist. Weil ihr Schicksal Zerstreuung ist, nicht Zerstreuung eines Teils und Bewahrung des Kerns wie bei anderen Völkern, sondern nichts als Zerstreuung ohne Kern und Mitte, und weil jedes Volk fordern darf, einen lebendigen Kern der Sammlung zu besitzen. Weil hundert angenommene Heimaten ohne eine angestammte und selbstverständliche ein Volk krank und elend machen. Weil auf stiefmütterlichem Boden zwar Wohlstand von Einzelnen und Leistung von Einzelnen gedeihen mag, aber das Volkswesen verküm­mert. Und wie Sie, Mahatma, wünschen, daß nicht bloß alle Inder leben und wirken können, sondern daß auch das indische Wesen, die indische Weisheit, die indische Wahrheit gedeihe und fruchtbar sei, so wünschen wir es für das Judentum. Ihnen braucht es gar nicht bewußt zu werden, daß das Gedeihen des indischen Wesens ohne die Verbindung der Inder mit ihrem Mutterboden und ohne ihre Sammlung auf ihm nicht gewähr­leistet wäre; aber wir wissen, worauf es ankommt: weil eben dieses uns versagt ist oder doch versagt war bis zu diesen Geschlechtern, die begon­nen haben, an der Wiedergewinnung des Mutterbodens zu arbeiten.

Aber das ist noch nicht alles, ja, es ist für uns, für die Juden, die so denken wie ich, noch nicht das Entscheidende, so schmerzlich drängend es auch ist. Sie sagen, Mahatma Gandhi, für den Ruf nach einem natio­nalen Heim, der Sie »nicht sehr anspreche«, werde eine Beglaubigung (sanction) »in der Bibel gesucht«. Nein, so ist es nicht. Wir schlagen die Bibel nicht auf und suchen darin nicht nach Beglaubigungen. Eher ist es umgekehrt: die Verheißungen der Wiederkehr, der Wiederherstellung, die die Sehnsucht von hundert Generationen gespeist haben, geben auch denen von heute einen elementaren, von wenigen in seiner Bedeutung ganz erkannten, aber auch im Leben der vielen, die nicht an die Botschaft der Bibel glauben, wirksamen Antrieb. Auch dies jedoch ist noch nicht das Entscheidende für uns, die wir zwar nicht in jedem Satz der Schrift ein Stück göttlicher Offenbarung sehen, aber dem Geist vertrauen, der ihre Sprecher angeweht hat. Nicht die Verheißung des Landes ist für uns das Entscheidende, sondern die Forderung, deren Erfüllung an das Land, an die Existenz einer freien jüdischen Gemeinschaft in diesem Land gebunden ist. Die Bibel sagt uns nämlich, und unser innerstes Wissen bestätigt es, daß einst, vor mehr als dreitausend Jahren, unsere Ein­wanderung in dieses Land im Bewußtsein eines Auftrags von oben ge­schah, hier, mit den Generationen unseres Volkes, eine gerechte Lebens­ordnung aufzurichten, wie sie eben nicht von Einzelnen im Bereich der privaten Existenz, sondern nur von einem Volk in der Gestaltung seiner Gesellschaft zu verwirklichen ist: Gemeinschaftsbesitz am Boden[1], regel­mäßig wiederkehrender Ausgleich der sozialen Unterschiede[2], Verbür­gung der Unabhängigkeit jeder Person[3], gegenseitige Hilfe[4], gemein­same Sabbatruhe, die Knecht und Tier als Wesen gleichen Anspruchs mitumfaßt[5], Sabbatjahr, in dem sich mit der Schonung der Natur ein freier Zugang aller zu ihren Früchten verbindet[6]. Das sind nicht von weisen Männern zweckmäßig erdachte Gesetze, sondern was die Füh­rung eines Volkes, offenbar selber überrascht und überwältigt, als die gesetzte Aufgabe, als die Bedingungen der Landnahme erfährt. Keinem Volk sonst ist dergleichen an den Anfang seines Weges gestellt worden. So etwas vergißt man nie, man entledigt sich seiner nie. Wir haben da­mals nicht zustande gebracht, was uns aufgetragen worden war, wir sind unverrichteter Sache ins Exil gegangen, aber das Gebot ist bei uns ge­blieben, und es ist drängender geworden als je. Wir brauchen eigene Er­de, um es zu erfüllen, wir brauchen die Freiheit, unser eigenes Leben zu ordnen; auf fremdem Boden und unter fremder Satzung ist kein Ver­such zu wagen. Es kann nicht sein, daß uns die Erde und die Freiheit zur Erfüllung versagt werden. Wir sind nicht begehrlich, Mahatma; wir wollen nur endlich gehorchen können.

Nun mögen Sie freilich fragen, ob ich für das jüdische Volk spreche, wenn ich »wir« sage. Nein, ich spreche nur eben für die, die das Gerech­tigkeitsgebot des biblischen Israel als Auftrag an sie selbst empfinden. Und wären dies nur wenige, so sind sie der Kern des Volkes und die Zu­kunft des Volkes hängt an ihnen, denn die Uraufgabe des Volkes lebt in ihnen, wie das Keimblatt im Kern der Frucht. Und im Zusammenhang damit muß ich Ihnen auch dies sagen, daß Sie zu Unrecht voraussetzen, die Juden von heute glaubten durchweg an Gott, und daraus ableiten, wie sie sich zu verhalten haben. Die Judenheit macht heute eine schwere Glaubens­krise durch; ja, es scheint mir, daß die Glaubenskrise der heuti­gen Menschheit, ihre Unfähigkeit, wirklich an Gott zu glauben, sich in dieser Krise der Judenheit konzentriert: hier ist sie noch schwerer, noch gefährlicher, noch entscheidungsvoller als irgendwo anders in der Welt. Und diese Glaubenskrise ist auch hier in Palästina nicht überwunden; vielmehr erkennen wir hier noch mehr als irgendwo sonst in der Judenheit, wie schwer sie ist. Aber wir erkennen zugleich, daß sie nur hier zu überwinden ist. Nicht aus dem Leben von isolierten und preisgegebenen Einzelnen kann sie überwunden werden, wiewohl erhofft werden darf, daß in ihrer großen Not das Fünklein des Glaubens erwacht. Die Über­windung kann nur aus dem Leben einer Gemeinschaft kommen, die den Willen Gottes zu tun beginnt, zumeist ohne ihn als solchen zu tun, ohne zu glauben, daß Gott ist und daß er dies will. Sie kann aus diesem Leben der Gemeinschaft dann kommen, wenn glaubende Menschen ihr zur Sei­te stehen, die nicht richten und fordern, nicht drängen und predigen, sondern mitleben, helfen, warten und bereit sind für den Augenblick, wo es an ihnen sein wird, Fragenden die wahre Antwort zu geben. Dies ist die innerste Wirklichkeit des jüdischen Lebens in Palästina; vielleicht wird sie nicht bloß für die Überwindung der Glaubenskrise in der Judenheit, sondern auch für die Überwindung der Glaubenskrise in der Menschheit von Bedeutung sein. Die Begegnung dieses Volks mit diesem Land hat nicht bloß eine heilige Urgeschichte; wir fühlen ein noch un­erschlossenes Geheimnis in ihr. Sie, Mahatma Gandhi, der Sie um den Zusammenhang von Überlieferung und Zukunft wissen, sollten nicht zu denen gehören, die ohne Ahnung und Teilnahme an dieser unserer Sache vorbeigehen.

Sie sagen aber – und es ist für mich das Gewichtigste von allem, was Sie auf uns zu sagen –, Palästina gehöre den Arabern, und es sei daher »unrecht und unmenschlich, die Juden den Arabern aufzuerlegen«.

Hier muß ich etwas Persönliches einschalten, um Ihnen deutlich zu machen, von welchen Voraussetzungen aus ich diese These nun betrach­ten will.

Ich gehöre einem Menschenkreise an, der, seit Palästina von den Briten erobert worden ist, nicht aufgehört hat, dafür zu kämpfen, daß die Juden einen echten Frieden mit den Arabern suchen. Unter einem echten Frieden verstanden und verstehen wir, daß die beiden Völker gemeinsam das Land bewirtschaften sollen, ohne daß eins dem andern seinen Willen aufzwingen darf. Das erschien uns in Anbetracht der internationalen Gepflogenheiten unseres Zeitalters sehr schwierig, aber nicht unmöglich. Wir waren und sind uns dessen bewußt, daß es in diesem außergewöhn­lichen, ja beispiellosen Fall darauf ankommt, neue Wege der Völkerver­ständigung und des Völkereinvernehmens zu suchen. Auch darin stan­den und stehen wir unter einem Gebot.

Grundlegend war für uns die Einsicht, daß hier zwei vitale Ansprüche sich einander gegenüber erheben, zwei Ansprüche verschiedener Her­kunft und verschiedener Art, die nicht sachlich gegeneinander abge­wogen werden können, zwischen denen nicht sachlich entschieden wer­den kann, dieser sei gerecht und jener ungerecht. Wir empfanden und empfinden es als unsere Aufgabe, den Anspruch, der dem unseren ent­gegentritt, zu verstehen, zu ehren und uns um eine Versöhnung beider Ansprüche miteinander zu bemühen. Auf den jüdischen Anspruch konnten und können wir nicht verzichten; ist doch an dieses Land noch Höheres als das Leben unseres Volkes, nämlich sein Werk, und das heißt: der göttliche Auftrag an es, gebunden. Aber wir waren und sind über­zeugt, daß es möglich sein muß, einen Ausgleich zwischen diesem An­spruch und dem anderen zu finden, weil wir dieses Land lieben und an seine Zukunft glauben, und weil, da gewiß auch auf der anderen Seite solche Liebe und solcher Glaube vorhanden sind, ein Zusammenschluß zu gemeinsamem Dienst an dem Land nicht unerreichbar sein kann. Wo Glaube und Liebe sind, kann auch ein anscheinend tragischer Wider­spruch zur Lösung gelangen.

Um diese unerhört schwierige Aufgabe erfüllen zu können, deren An­erkennung wir ja auch gegen einen ebenso törichten wie natürlichen in­nerjüdischen Widerstand durchzusetzen haben, bedurften wir des Bei­stands der wohlmeinenden Menschen aller Völker und hofften darauf. Nun aber kommen Sie und erledigen das ganze existenzielle Dilemma mit der ein­fachen Formel. »Palästina gehört den Arabern.«

Was bedeutet das, ein Land gehöre einer Bevölkerung? Sie wollen mit Ihrer Formel doch offenbar nicht bloß einen Zustand beschreiben, son­dern ein Recht deklarieren. Sie wollen damit offenbar sagen, ein Volk habe das ausschließliche Besitzrecht auf das Land, in dem es angesessen sei, ein so ausschließliches Besitzrecht, daß, wer darin ohne die Erlaubnis dieses Volkes siedelt, einen Raub begeht. Aber auf welchem Weg haben sich wohl die Araber das Besitzrecht auf Palästina erworben? Doch wohl auf dem der Eroberung, und zwar einer siedelnden Eroberung. Als einer solchen gestehen Sie ihr also zu, daß sie ein ausschließliches Besitzrecht begründe, während die nachfolgenden nur auf Herrschaft, nicht auf Siedlung aus­gehenden Eroberungen der Mamluken und der Türken in Ihren Augen freilich keins begründen, sondern das des im Land verblie­benen früheren Eroberervolkes unberührt lassen. Besiedlung durch Eroberergewalt begründet also für Sie ein Besitzrecht an Palästina, während eine Siedlung wie die jüdische, deren Methoden zwar nicht immer dem arabischen Lebensanspruch gerecht wurden, aber auch im bedenklich­sten Falle von denen des Eroberers weit entfernt blieben, Ihrer Ansicht nach keine Anteilnahme an diesem Besitzrecht zu begründen vermag. Zu solcher Konsequenz gelangen Sie dadurch, daß Sie wie von einem Axiom von dem Satz ausgehen, ein Land gehöre seiner Bevölkerung. In einer Epoche der Völkerwanderung würden Sie zunächst das Besitzrecht des Volkes vertreten, dem Verdrängung oder Ausrottung droht, ist diese aber vollzogen, müßten Sie, vielleicht nicht gleich, aber nach einer angemessenen Zahl von Generationen, nunmehr dem Vergewaltiger das Land »gehören« lassen.

Vielleicht ist die Zeit nicht fern, wo – etwa nach einer Katastrophe, deren Ausmaß wir uns heute noch nicht vorzustellen vermögen -, die Vertreter der Menschheit sich über eine Neu­ordnung des Verhältnisses zwischen Menschen, Völkern und Ländern, über eine Besiedlung dünn­bevölkerter Territorien ebenso wie über eine gemeinschaftliche Bewirt­schaftung der notwendigen Rohstoffe und über eine folgerichtige Inten­sivierung des Bodenbaus des Erdballs werden verständigen müssen, um eine neue, ungeheuer vergrößerte Völkerwanderung zu verhüten, an der die Menschheit zugrunde zu gehen drohte. Soll dann den Männern, die die Rettung wagen, das Dogma des »Gehörens«, des unabänderlichen Besitzrechts, des heiligen status quo entgegengehalten werden? Gewiß, wir sind Zeugen, wie das in der Tiefe des Völkerlebens drängende Ge­fühl, dieses Dogma müsse angefochten werden, verhängnisvoll mißbraucht wird; aber sind an diesem Mißbrauch nicht jene Vertreter der mächtigsten Staaten mitschuldig, die jede Prüfung des Dogmas wie ein Sakrileg behandelten?

Und wenn nicht die Völker wandern, aber ein Volk? Und wenn dieses wandernde Volk zu seiner alten Heimat verlangt, wo neben jenem Volk, dem sie jetzt »gehört«, auch noch für einen wesentlichen, für einen zentrumbildenden Teil von ihm Raum ist? Wenn dieses wan­dernde Volk, dem sie einst, freilich ebenfalls auf Grund siedelnder Eroberungsgewalt, gehörte und das einst aus ihr durch reine Herrschaftsgewalt vertrieben worden war, nun einen freien oder ohne Beeinträchtigung fremden Lebensraumes freiwerdenden Teil des Landes zu besetzen strebt, um end­lich wieder eine Volksheimat zu haben, eine Heimat, wo seine Menschen als Volk leben können? Dann helfen Sie, Mahatma Gandhi, die Schranke vorziehen und helfen rufen: »Bleibt fort! Dieses Land gehört nicht euch!« Statt zu helfen, einen echten Frieden zu stiften, der uns gibt, was wir brauchen, ohne den Arabern zu nehmen, was sie brauchen, – auf der Grundlage einer gerechten Abmessung, was von ihnen wirklich ge­braucht wird und was unserem Bedürfen zugestanden werden darf!

Eine solche Abmessung des Lebensraums für alle ist möglich, wenn man damit eine um­fassende Intensivierung des gesamten palästinensischen Bodenbaus verbindet. Bei der gegenwärtigen, hilflos primitiven Fellachenwirtschaft ist der zur Ernährung einer Familie benötigte Raum um ein vielfaches größer als er dann wäre. Soll an den sinnlos geworde­nen Formen einer überalterten Wirtschaft festgehalten, soll eine Produktivierung des Bodens vermieden werden, um einem Zuzug neuer Siedler ohne Beeinträchtigung der alten vorzubeugen? Ich wiederhole: ohne Be­einträchtigung. Das soll die Grundlage des Einvernehmens sein, das wir anstreben.

Sie sorgen, Mahatma, nur um das »Besitzrecht« der einen Seite, nach dem Recht der anderen, der nach Erde hungernden, auf ein freies Stück Erde, fragen Sie nicht. Aber da ist noch je­mand, den Sie nicht befragen und der doch, wenn es gerecht, das heißt auf Grund der ganzen erkenn­baren Wirklichkeit, zugehen soll, befragt werden müßte: das ist diese Er­de hier selbst. Fragen Sie sie, was die Araber in 1300 Jahren und was wir in 550 für sie getan haben! Muß ihre Antwort nicht ein gewichtiges Zeug­nis in einer gerechten Verhandlung darüber sein, wem dieses Land »gehört«?

Mir scheint, Gott schenke überhaupt keinen Fleck seiner Erde so her, daß der Besitzer sagen dürfte, was Gott in der Schrift sagt: »Mein ist das Land«. Auch den siedelnden Eroberern leiht er, meine ich, das eroberte Land nur her und wartet ab, was sie damit anfangen.

Man sagt mir aber, ich dürfe nicht bloß den Ackerboden ehren und die Wüste verachten. Man sagt mir, die Wüste wolle auf das Werk ihrer Kin­der warten, uns Zivilisationsbeladene er­kenne sie als ihre Kinder nicht mehr an. Ich habe Ehrfurcht vor der Wüste, aber ich glaube nicht an ihr unbedingtes Widerstreben, denn ich glaube an die große Ehe des Men­schen (Adam) mit der Erde (Adama). Dieses Land erkennt uns an, denn es wird fruchtbar durch uns, und eben dadurch, daß es uns fruchtbar wird, erkennt es uns an. Unsere Siedler kommen nicht wie die abendlän­dischen Kolonisatoren hieher, um Eingeborene für sich arbeiten zu las­sen, sie setzen sich selber ein, ihre Kraft und ihr Blut, um dieses Land fruchtbar zu machen. Aber wir wollen seine Fruchtbarkeit nicht für uns allein. Die jüdischen Bauern haben angefangen, ihre Brüder, die ara­bischen Bauern, zu lehren, diesen Boden intensiver zu bebauen; wir wol­len sie es weiter lehren, zusammen mit ihnen wollen wir ihn bearbeiten, das heißt auf Hebräisch: ihn bedienen. Je fruchtbarer dieser Boden wird, um so mehr Raum wird hier sein für uns und für sie. Wir wollen sie nicht verdrängen, wir wollen mit ihnen leben. Wir wollen sie nicht beherr­schen, wir wollen mit ihnen dienen.

Sie haben einmal gesagt, Mahatma, die Politik umstricke uns heutzutag wie die Windungen einer Schlange, denen man nicht entschlüpfen könne, was immer man versucht; Sie begehrten daher, sagten Sie, mit der Schlange zu ringen. Hier ist die Schlange in ihrer größten Macht zu se­hen. Juden und Araber haben Anspruch auf dieses Land, aber die An­sprüche lassen sich faktisch miteinander versöhnen, wenn sie nur auf das vom Leben selbst und von einem Willen zur Versöhnung bestimmte Maß zurückgeführt werden, das heißt, wenn sie in die Sprache von Bedürfnissen lebender Menschen für sich und ihre Kinder übersetzt wer­den. Statt dessen werden sie nun aber unter dem Einfluß der Schlange zu prinzipiellen, zu politischen Ansprü­chen zugespitzt und werden mit all der Rücksichtslosigkeit vertreten, die die Politik den von ihr Geführ­ten einflößt. Das Leben mit seinen Wirklichkeiten und Möglichkeiten entschwindet ebenso wie der Wille zur Wahrheit und zum Frieden, nichts wird mehr gewußt und gefühlt als die politische Parole allein. Die Schlange siegt nicht bloß über den Geist, sondern auch über das Leben. Wer will mit ihr ringen?

Mitten in Ihren Ausführungen, Mahatma, steht ein gutes Wort, das wir dankbar aufnehmen. Wir sollten suchen, sagen Sie, das arabische Herz zu bekehren. Nun denn, helfen Sie uns, es zu tun! Auch bei uns sind viele törichte Herzen zu bekehren, die jener völkischen Selbstsucht ver­fallen sind, welche nur den eigenen Anspruch kennt; das werden wir hof­fentlich selbst zustande bringen. Aber zu dem anderen Werk der Bekehrung brauchen wir Ihre Hilfe. Ihre Rüge gilt jedoch nur den Juden, weil sie es dulden, daß die britischen Bajonette sie gegen die Bombenwerfer verteidigen. Über diese selbst äußern Sie sich wesentlich zurückhalten­der: Sie sagen, Sie wünschten, daß die Araber den Weg der Gewaltlosig­keit gewählt hätten, aber according to the accepted canons of right and wrong sei nichts gegen ihr Verhalten zu sagen. Wie ist es nun möglich, daß Sie hier, was Sie doch sonst nirgends tun, den accepted canons eine, wenn auch nur bedingte, Geltung zugestehen! Sie werfen uns vor, daß wir, die wir selber kein Heer besitzen, es zulassen, daß das britische man­ches blinde Morden verhindert; denen aber, die täglich, ohne hinzu- sehen, wen’s trifft, den Mord in unsere Reihen tragen, lassen Sie in Anbetracht der accepted canons eine verständnisvolle Nachsicht ange­deihen. Überschauen Sie alles, Mahatma, Tun und Lassen, Recht und Unrecht beider Seiten – sollten Sie da nicht erkennen, daß wir gewiß nicht am wenigsten Ihre Hilfe brauchen?

Wir haben in diesem Land neu zu siedeln begonnen, 35 Jahre ehe ihm der »Schatten des britischen Geschützes« nahte. Nicht wir haben diesen Schatten aufgesucht, nicht um unsere, sondern um die britischen Inter­essen zu wahren, ist er hier erschienen und geblieben. Wir wollen die Gewalt nicht.

Aber Sie, Mahatma Gandhi, haben nach den Beschlüssen von Delhi, Anfang März 1922, ge­schrieben: »Have I not repeatedly said that I would have India become free even by violence rather than that she should re­main in bondage?« Damit haben Sie etwas sehr Wichtiges ausgespro­chen: daß die Gewaltlosigkeit für Sie ein Glaube und nicht ein politisches Prinzip ist –, daß aber das Verlangen nach der Freiheit Indiens in Ihnen noch stärker ist als Ihr Glaube. Um dessen willen liebe ich Sie.

Wir wollen die Gewalt nicht. Wir haben nicht, wie unser Volkssohn Jesus und wie Sie, die Lehre der Gewaltlosigkeit ausgerufen, weil wir mei­nen, daß ein Mann zuweilen, um sich oder gar um seine Kinder zu retten, Gewalt üben muß. Aber wir haben von der Urzeit an die Lehre der Ge­rechtigkeit und des Friedens ausgerufen; wir haben gelehrt und gelernt, daß der Friede das Ziel der Welt und daß die Gerechtigkeit der Weg zu ihm ist. Also können wir nicht Gewalt üben wollen. Wer sich zu Israel zählt, kann nicht Gewalt üben wollen.

Nun aber sagen Sie, unsere Gewaltlosigkeit sei of the helpless and the weak. Das entspricht der Wirklichkeit nicht. Sie wissen nicht oder beden­ken nicht, welche Seelenstärke, welche satyagraha dazu gehört hat, hier, unter jahrelangen unaufhörlichen Taten der blinden Gewalt an uns, un­seren Frauen und unseren Kindern, an uns zu halten und nicht mit Taten der blinden Gewalt zu antworten.

Und andrerseits haben Sie, Mahatma, damals, 1922, die Worte ge­schrieben: »I see that our non-violence is skin-deep … This non-violence seems to be due merely to our helplessness . Can true voluntary non­violence come out of this seeming forced non-violence of the weak?« Als ich damals diese Worte las, begann meine Verehrung für Sie, eine so große, daß auch Ihre Ungerechtigkeit gegen uns ihr nicht Abbruch zu tun vermag.

Sie sagen, es sei »a stigma« gegen uns, daß unsere Ahnen Jesus gekreu­zigt haben. Ich weiß nicht, ob das wirklich geschehen ist; aber ich halte es für möglich. Ich halte es für ebenso möglich, wie daß das indische Volk unter anderen Umständen und wenn das, was Sie lehren, seiner eigenen Neigung stärker entgegen wäre (»India«, sagen Sie, »is by Nature non-vio­lent«) Sie hingerichtet hätte. Völker verschlingen nicht selten das Große, das sie geboren haben. Wie kann man dergleichen ohne Wider­spruch als »Stigma« eines Volkes bezeichnen! Ich möchte Ihnen aber nicht verschweigen, daß ich zwar nicht unter den Kreuzigern Jesu, aber auch nicht unter seinen Anhängern gewesen wäre. Denn ich kann mir nicht verbieten lassen, dem Übel zu widerstreben, wo ich sehe, daß es daran ist, das Gute zu vernichten. Ich muß, wie dem Übel in mir, so dem Übel in der Welt widerstreben. Ich kann nur darum ringen, es nicht durch Gewalt tun zu müssen. Ich will die Gewalt nicht. Aber wenn ich nicht anders als durch sie verhindern kann, daß das Übel das Gute vernichte, werde ich hoffentlich Gewalt üben und mich in Gottes Hände geben.

»India«, sagen Sie, »is by nature non-violent«. Das war es nicht immer. Das Mahabharata ist ein Epos der kriegerischen, der disziplinierten Gewalt. In der größten seiner Dichtungen, der Bhagavad-Gita, wird erzählt, wie Arjuna auf dem Schlachtfeld zur Einsicht kommt, er wolle die Sünde nicht begehen, seine Verwandten zu töten, die ihm entgegenstehen, und Bogen und Pfeile fallen läßt; aber der Gott verweist ihm solches Tun als unmännlich und schändlich: ein Besseres als einen gerechten Kampf gebe es für einen Ritter überhaupt nicht.

Ist das die Wahrheit? Wenn ich die meine zu bekennen habe, muß ich sagen: Ein Besseres als die Gerechtigkeit gibt es für einen Menschen überhaupt nicht, es sei denn die Liebe; wir sol­len für die Gerechtigkeit auch kämpfen können, aber liebend kämpfen.

Ich habe diesen Brief an Sie, Mahatma, sehr langsam geschrieben. Immer wieder habe ich ausgesetzt, zuweilen nach einem kurzen Absatz tagelang, um mein Wissen und meine Mei­nung nachzuprüfen. Immer wieder bin ich tage- und nächtelang mit mir ins Gericht gegangen, ob ich nicht an irgendeinem Punkte das Maß der von Gott einer menschlichen Gemeinschaft erlaubten und sogar anbefohlenen Selbsterhaltung überschreite und in die schlimme Verirrung der kollektiven Selbstsucht verfalle. Freunde und mein eigenes Gewissen haben, wo diese Gefahr drohte, mich dazu gebracht, mich zu reinigen. Darüber sind etliche Wochen ver­gangen, und eine Zeit ist gekommen, wo über die jüdisch-arabische Sache in der Hauptstadt des britischen Reiches verhandelt wird und, wie es heißt, auch entschieden werden soll. Aber die wahre Entscheidung kann in dieser Sache nicht von außen, sondern nur von innen kommen. Ich darf daher diesen Brief schließen, ohne das Ergebnis von London ab­zuwarten.

Quelle: Martin Buber, Politische Schriften, hrsg. v. Abraham Melzer, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins, 2010, S. 93-106.


[1] Lev. 25, 23.

[2] Lev. 25, 13.

[3] Ex. 21, 2.

[4] Ex. 23, 4f.

[5] Ex. 23, 12.

[6] Lev. 25, 2-7.

Hier der Brief als pdf.

Hier Gandhis Artikel in deutscher Übersetzung als pdf.

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