Über die Komponisten des 18. Jahrhunderts und deren Musik
Von Karl Barth
Und nun schließen wir unseren Überblick über die äußere Lebensgestalt der Zeit, indem wir endlich auch ihrer Musik gedenken. Wir berühren damit ein Gebiet, von dem wir gewiß werden gestehen müssen, daß es geschichtlich und überhaupt gedanklich außerordentlich schwer auch nur einigermaßen zu erfassen ist. Es ist aber die Tatsache, daß dieses Jahrhundert neben allem Anderen auch und vielleicht vor allem ein musikalisches Jahrhundert gewesen ist, wie jedenfalls vor ihm vielleicht doch auch seither kein anderes, und es ist die besondere Art seiner Musikalität etwas für seinen ganzen Geist so Bezeichnendes, daß wir, wenn wir diesen seinen Geist zu verstehen suchen, unmöglich ohne eine Andeutung nach dieser Seite auskommen können. Wir können die Geschichte einer vergangenen Zeit studieren, wir können ihre Bauwerke und sonstigen Kunstwerke, wir können ihre Porträts und ihr Kostüm betrachten, wir können ihre Bücher lesen, aber wir können — und das bedeutet eine unerhörte Schranke des Verstehens — die Stimme ihrer Menschen nicht mehr hören mit einziger Ausnahme der Übertragung, in der wir sie eben in ihrer Musik, soweit sie uns überliefert ist, vor uns haben. Sollte eine vergangene Zeit nicht vielleicht gerade in dieser Form am intimsten zu uns reden? Wieviel seltsame, verallgemeinernde Darstellungen und Beurteilungen gerade des 18. Jahrhunderts wären ganz unmöglich gewesen, wenn ihre Urheber die Tatsache, daß dies doch auch das Jahrhundert Bachs und Haendels, Glucks und Haydns gewesen ist, vor Augen und auch nur ein paar Takte aus dem Werk eines dieser Männer in den Ohren gehabt hätten, bevor sie das Gerede etwa über die «einseitige Verstandeskultur» dieser Zeit und so manches ähnliche Schlagwort wieder einmal zu Papier brachten. Friedrich der Große war eben nicht nur der Sieger von Leuthen und nicht nur der Freund Voltaires und nicht nur der intellektuelle Schöpfer des preußischen Landrechts, sondern er war, so wichtig das Alles ist, wirklich auch passionierter Flötenspieler, und es darf mindestens gefragt werden, ob eine intensive geschichtliche Betrachtung nicht zu erwägen hat, ob er nicht hier noch mehr er selbst gewesen sein möchte als dort. Mit welcher Beteiligung, ja Hingabe hat diese Zeit zu musizieren — und was vielleicht für die Echtheit ihrer Musikalität noch bezeichnender ist — Musik zu hören gewußt! Aber freilich: wenn wir sie nun auch von dieser Seite zu sehen versuchen, so werden wir ihr ihre eigene Musikalität lassen müssen. Wer, weil er nur die moderne Welt kennt, diskussionslos den Lyrismus Beethovens oder Schuberts, der eben dieser ganz anderen modernen Welt angehört, zum Maßstab nimmt, wer J. S. Bach unter dem Gesichtspunkt Richard Wagners würdigt: «Wie die Sphinx mit dem menschlichen Gesichte aus dem Tierleibe erst noch hervorstrebt, so strebt Bachs edler Menschenkopf aus der Perücke hervor», oder wer umgekehrt in Bach einen echten Heiligen des Protestantismus verehren zu sollen und in seinen Passionen und Kantaten flugs die ganze Theologie Luthers hören zu können meint, oder wiederum, wer auf ihn einfach den an sich unbestreitbaren Spitzensatz anwendet, daß seine Musik wie alle große Musik rein menschlich und darum zeitlos ist, der wird hier nicht mittun können. Aber es dürfte sich noch fragen, ob echte, gegenwärtige Musikalität, statt mit der echten Musikalität einer vergangenen Zeit so umzugehen, nicht vielmehr gerade in deren Zeitlichkeit und nicht abseits von ihr ihre Zeitlosigkeit finden und ehren wird.
Wir können die Probleme nur streifen, die sich hier, wenn wir diesen Weg für richtig halten, einstellen. Ich würde es für angemessen halten, von der Tatsache auszugehen, daß mit allen kleinen auch und gerade die großen Musiker des 18. Jahrhunderts in ihrer eigenen Sicht wie in der ihrer Zeitgenossen nicht sowohl das gewesen sind, was wir heute Künstler oder Komponisten nennen, als vielmehr ganz einfach Handwerker dieses bestimmten, der Ehre Gottes und der Ergötzung des Gemütes dienenden Faches: eines Faches, das zunächst einfach in der Meisterung eines oder mehrerer bestimmter musikalischer Instrumente bestand, wobei wir gewiß sofort als bezeichnend festzuhalten haben, daß diese Instrumente im 18. Jahrhundert mit Vorliebe das Klavier oder dessen damalige Vorgänger und die Orgel, also die für die Polyphonie bestimmten Instrumente gewesen sind. Kunst kommt hier noch entscheidend von Können. Kunst ist Fertigkeit. Kraft dieser Fertigkeit wurde Bach zuerst berühmt und war er auch noch als der «alte Bach» ein Gegenstand der Bewunderung Friedrichs des Großen. Kraft dieser Fertigkeit ist noch der junge Mozart in ganz Europa als ein Wunder bestaunt worden. Das Komponieren aber war bei den Kleinen und bei den Großen dieser Zeit nur eine Anwendung, Erweiterung, Vertiefung eben des Musizierens als eines Faches, der Beweis des vollendeten Könnens, das hier wie überall den Meister ausmacht. Nicht Empfindung, nicht Erlebnis, nicht Mystik und nicht Protestantismus, sondern Kunst als Können, als Fertigkeit in der Handhabung strengster Regeln, gewiß nicht ohne «Invention», wie man damals sagte, aber Invention immer neuer Notwendigkeit, Invention in der Aussprache nicht sowohl subjektiver Erregung als vielmehr objektiver Gesetze, das brauchte es, um eine Fuge zu schreiben. Und was in einer geschriebenen und aufgeführten Fuge im eigenen Urteil eines Bach das allenfalls Gute ist, im Unterschied zu einer schlechten, das ist wiederum die in ihr bewiesene Kunst als handwerkliches Können. Das Schöne muß sich sozusagen selbstverständlich ergeben (ungesucht und auch gar nicht abstrakt zu suchen) aus dem im handwerklichen Sinn Ordentlichen. Ohne subjektive Erregung wird es dabei nicht abgehen. Es wird auch gewiß «schön» sein, was dabei herauskommt. Aber ein sachverständiger Bewunderer wie Friedrich der Große wird gerade nicht das Schöne an sich, sondern das Schöne der hier hörbar werdenden Ordentlichkeit bewundern. Die ungebrochene Zuversicht, daß die so verstandene Kunst von selbst zur Ehre Gottes und zur Ergötzung des Gemütes ausschlagen werde — dies ist die erste Eigentümlichkeit der für diese Zeit typischen Musik gewesen.
Worin aber besteht die hier gesuchte und geübte Meisterschaft? Ich würde sagen: sie besteht in der Souveränität, in der der Musiker zuerst dem klangerzeugenden Instrument und dann der Fülle der Möglichkeiten der durch das Instrument zu erzeugenden Klänge gegenübersteht. Im frohen Bewußtsein dieser Souveränität bevorzugt er das polyphone Instrument und die polyphone Komposition. Es handelt sich darum, die sozusagen rohe amorphe Masse des möglichen Klanges zu humanisieren, ihr — nicht das menschliche Subjekt als solches, wohl aber das dem menschlichen Subjekt bewußte Gesetz, die Klangordnung, die es «erfindet», d. h. in sich selbst als objektiv gültige Ordnung vorfindet, aufzudrängen, aufzuerlegen, einzuprägen, bis der Klang nicht mehr bloßer Klang, sondern als Klang Ton geworden ist. Und es handelt sich weiter darum, aus der wirren Masse möglicher Klangverbindungen Harmonie und aus der ebenso wirren Masse möglicher Klangfolgen einen nunmehr aus dem Menschen herausgestellten, den Raum durchdringenden, tönenden Kosmos herauszuarbeiten. Wer das kann, wer die Gesetze, die dabei anzuwenden sind, kennt und trotz und in ihrer Verborgenheit und verwirrenden Vielheit mit ihnen umzugehen weiß, der ist ein maestro. Bach hat sich nicht für ein Genie gehalten, und seine Zeitgenossen haben ihn bekanntlich auch nicht als solches behandelt. Sein Selbstbewußtsein traf aber mit dem, worin sie ihn zu schätzen wußten, darin zusammen, daß er sich zweifellos in diesem Sinn für einen Meister seiner Kunst hielt. Musizieren heißt: den Klang dem Gesetz unterwerfen. Das ist die zweite Eigentümlichkeit der Musik dieser Zeit: die Selbstverständlichkeit und Geradheit, mit der sie an die Existenz, an die Erkenntnis und Anwendbarkeit dieses Gesetzes glaubt, die unbedingte Sachlichkeit, mit der sie es handhabt.
Fragen wir aber weiter, inwiefern nun ein solches Musizieren als im Geiste jener Zeit der Ehre Gottes und der Ergötzung des Gemüts dienend zu verstehen, was nun eigentlich als der scopus dieses Musizierens aufzufassen ist, so würde ich sagen: das ist der scopus dieses Musizierens, daß es nicht trotz sondern gerade auf Grund jener Voraussetzung als virtuose Ausübungskunst sowohl wie als Kompositionskunst ein wirkliches reines Spielen wird. Von der Musik keines Jahrhunderts kann man das so prägnant sagen. Jene Verfügung über die Welt des Klanges einmal erreicht, scheint sich das Musizieren auf dem Hintergrunde strengster Arbeit hier um so unbedingter zu einem zugleich völlig überlegenen und völlig absichtslosen Umgehen mit den Möglichkeiten dieser Welt zu gestalten. Res severa verum gaudium! Nur und erst auf Grund jener handwerklich meisterlichen Vertonung der Klangwelt — aber auf Grund dieser Vertonung, dieser Neuschöpfung nun sicher und notwendig — kann gespielt werden. Und dann ist doch eben dieses Spielen der Sinn des Ganzen gewesen. Hier, erst und nur hier, hat die musikalische Schönheit ihren Ort. Sie besteht eben in der auf die Unterwerfung unter das Gesetz begründeten Freiheit, in der wir den Musiker sich ergehen hören. Es ist Goethe, der vielleicht das Tiefste gesagt hat, was sich von der Musik Bachs sagen läßt: «Als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich’s etwa in Gottes Busen kurz vor der Weltschöpfung möchte zugetragen haben, so bewegte sich’s auch in meinem Innern, und es war mir, als ob ich weder Ohren, am wenigsten Augen und wieder keine übrigen Sinne besäße noch brauchte.» Man beachte: «kurz vor der Weltschöpfung.» Es gibt bekanntlich auch eine Bibelstelle, nach der so etwas wie eine Unterhaltung der ewigen Harmonie mit sich selbst, und zwar ebenfalls kurz vor der Weltschöpfung, und zwar ebenfalls in Form eines Spielens stattfindet, Spr. 8, 27-31: «Da er die Himmel bereitete, war ich daselbst, da er die Tiefe mit seinem Ziel faßte. Da er die Wolken droben festete, da er festigte die Brunnen der Tiefe, da er dem Meer das Ziel setzte und den Wassern, daß sie nicht überschreiten seinen Befehl, da er den Grund der Erde legte: da war ich der Werkmeister bei ihm und hatte meine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit und spielte auf seinem Erdboden, und meine Lust ist bei den Menschenkindern.» Wäre das nicht die Offenbarung höchsten Formwillens, eines vielleicht erst hier in seinem ganzen Absolutismus sich erweisenden Formwillens, wenn die Musik des 18. Jahrhunderts es in ihrem Erfolg, in ihrer alle Handwerklichkeit vergessen machenden Gelöstheit und Überlegenheit geradezu der Weisheit des Schöpfers gleichtun wollte? Wie dem auch sei: alle frühere Musik ringt noch viel zu sehr mit dem Rohstoff des Klanges und von der späteren Musik von Beethoven ab muß man wohl sagen, daß sie die Tonwelt viel zu wenig um ihrer selbst willen gewollt und geliebt hat, als daß man sie in derselben Eindeutigkeit als Spiel verstehen könnte. Die Musik des 18. Jahrhunderts, die Musik des Absolutismus, spielt, und darum ist sie nicht nur in ihren großen, sondern auch in ihren weniger großen Vertretern in eigenartiger Weise schöne Musik. Ein wenig auf allen den Deutschen, Italienern, Franzosen, an die man da denken kann, ruht etwas von dem Glanze der Freiheit, die das Eigentümliche dieser Zeit auf diesem Felde ist.
Es gibt auch auf dem Gebiet der Musik etwas noch Größeres oder jedenfalls Sprechenderes als jene Freiheit. Es ist dann auf dem Plan, wenn der vollen musikalischen Freiheit gegenüber das nicht aufzuarbeitende und auch durch kein irdisches Spiel aufzuhebende Rätsel der menschlichen Existenz wieder sichtbar wird und wenn dann das Spiel der ganz Ton gewordenen, der ganz humanisierten Klänge, wie das Meer an ein Felsenufer zu branden scheint, immer noch das Meer, aber nun das Meer nicht in einer letztlich doch nur scheinbaren Unendlichkeit, sondern in seiner wirklichen Endlichkeit. Wenn ich recht sehe oder höre, kann man das weder von Bach oder Haendel, noch von Gluck oder Haydn sagen. Sie sind als Musiker naive Kinder ihres Jahrhunderts. Ihr Musizieren gleicht dem Meer, da, wo kein Ufer sichtbar ist. Es gibt einen Musiker, der Alles auch hatte, was jene auszeichnete vor denen, die vor ihnen waren und vor denen, die nach ihnen kamen. Er hatte aber darüber hinaus noch etwas für sich: die Wehmut oder das Entsetzen des Wissens um die Grenze, vor der als glücklicher Unwissender auch und gerade der absolutistische Mensch in seiner schönsten Gestalt steht. Er hörte, wie sein Don Juan, den Schritt des steinernen Gastes. Er ließ sich aber, wie sein Don Juan, nicht irre machen darin, rein weiter zu spielen in Gegenwart des steinernen Gastes. Er gehörte noch ganz dem 18. Jahrhundert an und war doch auch schon einer von den Menschen des Übergangs, von denen zu reden in dieser Vorgeschichte unsere Hauptaufgabe sein wird. Wir gedenken des Namens Wolfgang Amadeus Mozart.
Quelle: Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich: TVZ, 61994, S. 49-53.