Hans Joachim Iwand zum Verhältnis von Juden und Christen nach 1945: „Eigentlich müsste man denken, dass wir Überlebenden jedes Glied dieses so hart ge­troffenen Volkes, wenn es zurückkehrt oder unter uns lebt, in ganz besonderer Weise ehren müs­sen. Es sind ja die letzten Lebenden, an denen wir noch etwas gutmachen können, nicht gutma­chen im ewigen, aber doch im zeitlichen Sinn. Ich sehe es immer als eine besondere Gnade an, wenn einer von ihnen, der dies überstanden hat, unser Haus betritt.“

Zum Verhältnis von Juden und Christen nach 1945[1]

Von Hans Joachim Iwand

Als die Judenverfolgung in Deutschland begann, haben wir eines nicht gesehen: daß damit das Christentum gemeint war. Man wird vielleicht überhaupt sagen dürfen, daß überall da, wo eine planmäßige Judenverfolgung vorgenommen wurde, diese stets von schlimm­sten Folgen für das Christentum gewesen ist, so in Spanien beim Ausgang des Mittelalters und später um die Jahrhundertwende in Rußland und Polen. Nun sind auch wir schuldig geworden und verstehen erst hinterher, was das alles eigentlich bedeutet. Hätten wir es rechtzeitig begriffen, wäre es nicht geschehen, solche Ereignisse werden nur vollzogen von Zeiten und Menschen, die mit Blindheit geschlagen sind.

Es ist in mancher Hinsicht verständlich, daß viele Menschen in unserem Volk heute von dem furchtbaren Geschehen der Judenverfolgung und -ausrottung nichts wissen wollen. Das liegt einfach daran, daß diese Ereignisse so furchtbar und schrecklich waren, daß wir sie heute noch gar nicht fassen können. Wir haben zu ihnen noch kein historisches Verhältnis und können noch keines haben, denn wir haben es ja geduldet, daß dies geschah, und mancher unter den noch Le­benden ist daran mitwirkend aktiv gewesen. Sie waren völlig wehrlos, sie wurden abgeführt vor unseren Augen, wie Schafe, die zur Schlachtbank geführt werden. Kaum jemand in Deutschland weiß, wie und wo sie gestorben sind. Hin und wieder, kurz nach 1945, erschienen ein paar Au­genzeugenberichte, die uns erzählten, daß sie heldenhaft gestorben sind, Männer mit Kindern im Arm, vor sich das offene Grab, aber mit der Hand nach oben weisend auf den Vater aller Ge­rechtigkeit. Oder ich denke an den Bericht über den Kampf der wehrlosen Juden im Ghetto von Warschau. Eigentlich müßte man denken, daß wir Überlebenden jedes Glied dieses so hart ge­troffenen Volkes, wenn es zurückkehrt oder unter uns lebt, in ganz besonderer Weise ehren müs­sen. Es sind ja die letzten Lebenden, an denen wir noch etwas gutmachen können, nicht gutma­chen im ewigen, aber doch im zeitlichen Sinn. Ich sehe es immer als eine besondere Gnade an, wenn einer von ihnen, der dies überstanden hat, unser Haus betritt. Sie sind die einzige Gelegen­heit, die uns Gott noch gelassen hat, ihnen zu zeigen, wie lieb wir sie haben. Aber solange kein gutes Gewissen wieder gewonnen wurde, erinnert die Begegnung mit den Juden uns an Dinge, an die wir nicht denken mögen. Darum die erschütternde Verstocktheit, die hier und da wieder anzutreffen ist. Wir haben eben noch nicht begriffen, daß seit diesem großen Massacre der Weg zum Frieden im Herzen unseres Volkes niemals an der Judenfrage vorbei, sondern nur mitten durch sie hindurch führt. Die evangelische Synode in Berlin-Weissensee[2] hat versucht, hier einen Anfang zu machen. Leider ist sie damit noch lange nicht durchgekommen. Es gibt heute Christen, die wissen, daß das Schicksal der Juden und das der Christen wunderbar und untrennbar zusammen­hängt. Das Mittelalter hat das auch noch gewußt, wenn es die Synagoge und die Kirche in zwei Frauengestalten nebeneinander stellte. Aber wir wissen es doch noch tiefer. Wir wissen es heute vom Leiden und von der Schuld her. Dort in jenen mittelalterlichen Gestalten trug die Synagoge die Binde vor den Augen, die Frauengestalt, die die Kirche darstellte, sah offenen Auges frei in die Zukunft. Wir würden das so nicht mehr darstellen können, wir würden wohl sagen müssen, daß sie um unseretwillen gelitten haben, um der Sache willen, die wir vergessen haben. Denn wo immer das Christentum in Gefahr ist, zurückzufallen in den Mythos des Heidentums, da werden die Juden uns erinnern an den Gott, der keine anderen Götter neben sich duldet. Und wir unse­rerseits werden, so von ihnen erinnert und zurechtgebracht, ihnen dann in aller Demut bezeugen dürfen, daß eben dieser ihr Gott uns in Jesus Christus als der vergebende und erlösende erschie­nen ist.

Quelle: Jürgen Seim, Iwand-Studien, Köln: Rheinland-Verlag, 1999, S. 65f.


[1] Verfasst Anfang der fünfziger Jahre.

[2] Auf der in Berlin-Weißensee tagende Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) am 27. April 1950 wurde ein „Wort zur Schuld an Israel“ beschlossen.

Hier der Text als pdf.

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