Hans G. Ulrich, Menschenrechte und christliche Tradition. Evangelische Aspekte: „Der Gottesdienst ist der Ort, an dem Christen erfahren, was es heißt, nicht zurückgeworfen zu werden auf „bloßes Menschsein“, sondern Bürger zu sein.“

Menschenrechte und christliche Tradition. Evangelische Aspekte

Von Hans G. Ulrich

Welche Impulse die Artikulation und die praktische Einforderung von Menschenrechten von den christlichen Traditionen erhalten haben, ist in vieler Hinsicht umstritten, aber mehr noch eine in vieler Hinsicht offene Frage. Vor allem ist offen, wie die Fragestellung überhaupt lauten kann und welcher Weg der Klärung einzuschlagen ist, wenn man eine Verbindung zwischen Menschenrechten und christlichen Traditionen sucht. Zu diskutieren ist in Bezug auf die Fragestellung auch, von wo aus und woraufhin sie zu stellen ist. Wenn etwa gilt, im Rückblick festzustellen, was an Impulsen aus der christlichen Tradition registriert werden kann, die wie auch immer das Hervortreten von Menschenrechten beeinflusst oder gar bestimmt haben, dann ist diese Fragerichtung selbst noch daraufhin zu befragen, woraufhin sie gestellt wird. Soll sie etwa dazu dienen, eine gegenwärtig nicht sichtbare Verbindung zwischen Menschenrechten und christlicher Tradition ins Licht zu rücken, um die Geltung der Menschenrechte zu stärken, soll sie etwas Inhaltliches verdeutlichen, das für die gegenwärtige Arbeit mit den Menschenrechten wichtig ist oder soll sie das Nachdenken über das Inhaltliche auf eine neue Spur setzen, die womöglich bisher noch nicht kenntlich geworden ist, oder soll sie womöglich Urheberrechte reklamieren, um umgekehrt die Geltung christlicher Tradition zu stärken? Es gibt eine Reihe von solchen Zugängen, von denen einige mehr oder weniger erkundet worden sind. Es liegt nahe, dass für einzelne christliche Traditionen dies im Besonderen geklärt wird. Damit ist vermutet, dass sich durchaus verschiedene Zugänge zu den Menschenrechten und verschiedene Verortungen abzeichnen. Eine andere Frage ist dann, was die Reichweite dieser Traditionen ist, wo und wie [184] von ihnen Impulse ausgegangen sind und wie gegenwärtig oder künftig ihre Verbindung zu den Menschenrechten explizit werden kann. Diese nachträgliche Interpretation erfordert eine eigene hermeneutische Arbeit.[1]

Manche Versuche der Rekonstruktion und Interpretation sind unternommen worden. Die Verbindung zwischen der Artikulation und Begründung der Menschenrechte in verschiedenen philosophischen und rechtstheoretischen Hinsichten mit theologischen Kontexten und umgekehrt ist unterschiedlich eng oder lose. Davon bleibt unterschieden, wie die Menschenrechte in die Grammatik, die Systematik der Traditionen eingeschrieben sind – wie sie sich genuin damit verbinden, wenn dies denn möglich ist, und über welche Brückentopoi das möglich ist.

Auch von evangelischer Seite sind manche Versuche unternommen worden, zu zeigen, wie die Menschenrechte in der theologisch-ethischen Tradition verortet werden können. Dazu gehört die Interpretation von Wolfgang Huber und Heinz-Eduard Tödt, die von einer Analogie zwischen den Menschenrechten und christlich verstandenen Kennzeichen der Menschlichkeit des Menschen sprechen.[2] Sie finden die Analogie im Verständnis von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Kennzeichen humanen Lebens. In christlicher Sprache wird so per analogiam entschlüsselt, was die Menschenrechte voraussetzen oder enthalten.[3] Zu fragen ist dann, in welcher Weise die theologische Pointe in diesen Analogien – etwa beim Verständnis der Freiheit der Person – einen genuinen Impuls setzt, der die Bedeutung der Menschenrechte profiliert. Es ist aber deutlich, dass diese Interpretation keine tiefere Verwurzelung der Men­schenrechte in der christlichen Tradition, gar eine in geschichtlicher Wirksamkeit fassbare, aufgezeigt hat.

Die zentrale Frage ist, an welchen neuralgischen Punkten die Menschenrechte im Besonderen einzufordern gewesen sind oder auch künftig eingefordert werden müssen. Das betrifft nicht nur die Frage, welche Menschenrechte in welchem Zusammenhang besonders verletzt worden sind, sondern auch die Frage, inwiefern einzelne Menschenrechte eine systematische Bedeutung haben für das Verständnis der Menschenrechte, ihres inneren Zusammenhangs und ihrer darin wurzelnden Wirksamkeit, und wie diese Bedeutung in die christliche Tradition eingeschrieben ist. Zu den mit der christlichen Tradition untrennbar verbundenen neuralgischen Punkten gehört die Bekenntnisfreiheit und darin enthalten die Freiheit, den christlichen Glauben zu leben. Dieses Problem der Freiheit hat Christen immer betroffen. Hier haben Christen sich de facto in der Konfliktzone von Menschenrechten bewegt und Angriffsflächen geboten. Wo sie [185] Christus bekannt haben, haben sie ein Menschenrecht praktiziert, das andere Menschenrechte einschließt, sofern das Bekenntnis des christlichen Glaubens die Freiheit praktiziert, die mit der Christusherrschaft gegeben ist.

Die These II der Barmer Theologischen Erklärung (1934) lautet:

„Durch Gott seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung.“ (1. Kor. 1, 30)

Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.

Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.

Dies ist zugleich die Proklamation einer Praxis von Freiheit, die nicht durch diese oder jene Herrschaftsverhältnisse definiert oder beschränkt werden kann. Was immer als Freiheit politisch oder rechtlich zu gelten hat, muss vielmehr mit dieser ihrerseits politischen Freiheitspraxis übereinstimmen. Die Barmer Theologische Erklärung hat damit die Bedeutung des christlichen Bekenntnisses für die Menschenrechte auf den entscheidenden Punkt gebracht, der der Grammatik dieses Bekenntnisses entspricht.

Mit der Praxis der Bekenntnisfreiheit wird deutlich, dass Menschenrechte, die eine solche Praxis zu schützen haben, politische Rechte sind. Die Praxis, die sie schützen, betrifft das Zusammenleben unter gleichen Rechten für alle, die in einem entsprechend rechtlich verfassten politischen Gemeinwesen leben. Wenn Christen Bekenntnisfreiheit ausüben, dann muss dies auch für alle anderen gelten. An dem Recht auf Bekenntnisfreiheit wird sichtbar, dass es überhaupt darum geht, das Zusammenleben als ein politisches zu fassen und dieses nicht stattdessen durch wie auch immer verwurzelte inhaltliche Bindungen, erst recht nicht durch ideologische oder andere Überzeugungen zu sichern versuchen. Es geht um solche Rechte politischer Praxis, ohne die kein politisches Gemeinwesen existieren kann, wenn dieses zumindest daran gemessen als ein freiheitliches gelten soll. Menschenrechte werden so als Rechte explizit, die dieses Zusammenleben direkt als politisches schützen und die jeden Menschen als einen Bürger schützen, vor allem so schützen, dass er seine Bürger-Existenz wahrnehmen kann. In diesem Sinn sind sie Freiheitsrechte. Sie schützen die Praxis politischer Bürger. Es geht um die Freiheit einer bürgerlichen Existenz durch gleiche Rechte für alle, die in einem politischen Gemeinwesen zusammenleben.

In der politischen Praxis, von Rechten geschützt, gleich zu sein, erweist sich so systematisch als der neuralgische Punkt, von dem alle anderen Rechte bestimmt werden. Hannah Arendt hat im Blick darauf von einem einzigen Menschenrecht gesprochen – dem Recht darauf, Rechte zu haben, und das heißt, in einer politischen [186] Gemeinschaft die gleichen Rechte wie jeder Bürger zu haben.[4] Eine politische Gemeinschaft ist per definitionem eine solche Rechtsgemeinschaft. Aus dieser kann niemand herausfallen dürfen. Die Gleichheit von Menschen als die Gleichheit von Bürgern aufgefasst, braucht damit keine weitere moralische Verankerung und ist in der Praxis dann auch von keiner weiteren moralischen Verpflichtung abhängig. Auf moralische Einstellungen oder Überzeugungen zu setzen erschien Hannah Arendt als unsicher, ja als gefährlich und eben dort nicht wirksam, wo gerade diejenigen Menschen geschützt werden müssen, denen ihre Bürgerrechte, die gleichen Rechte ihrer politischen Existenz, die sie mit anderen teilen, genommen worden sind. Moralische Verpflichtungen haben – so Hannah Arendt – nie Menschen sicher geschützt. Es kann nicht gut gehen, Menschen der Moral von Menschen auszusetzen. Die Sicherung von Menschenrechten als Bürgerrechte braucht keine inhaltlich-moralische Bestimmung von außen, von der aus ihre Geltung aufzurufen wäre. Bürgerrecht impliziert Rechtssysteme in den politischen Gemeinschaften, die entsprechende Grundrechte enthalten.[5] Entscheidend ist, dass es keinen Raum außerhalb dieser geschützten Bürgerexistenz geben kann, in den Menschen geraten könnten. Das impliziert auch, dass es ein generelles und fundamentales Asylgebot geben muss, das gewährleistet, dass Menschen gleiche Rechte wie allen anderen Bürgern gewährt bekommen.[6] Dass es keinen rechtsfreien Raum geben kann, in den Menschen versetzt werden, erweist sich so als systematischer Angelpunkt der Theorie des Politischen. Dann freilich geht es auch darum, wie Bürgerrecht selbst zu schützen ist dagegen, durch gegenläufige Praktiken von Herrschaft überlagert oder unterlaufen zu werden.

Menschenrechte in der evangelischen Ethik

Auch diese Fassung der Geltung und Implementierung von Menschenrechten ist in den Traditionen gewiss verschieden zu verorten, auch innerhalb der evangelischen Ethik. Sie liegt derjenigen evangelischen Ethik besonders nahe, die – wie in der Barmer Theologischen Erklärung – das christliche Ethos als genuin politisches bestimmt, das heißt genauer als ein Ethos, das die Institution des Politischen – die Politia – voraussetzt. Die Politia gehört zu der verheißungsvollen Wirklichkeit, in die menschliches Leben gestellt ist. Jenseits oder außerhalb dieser Wirklichkeit kann keine Ethik oder Moral verortet sein. Dieser Wirklichkeit gilt es im Handeln, in der Ausübung der Gerechtigkeit (iustitia civilis) zu entsprechen, sodass nicht diese oder jene Vermögensverhältnisse oder gar Besitzverhältnisse das Zusammenleben bestimmen. Dies wären, wie [187] Martin Buber gesagt hat, „biotische“ Verhältnisse, die dem Stärkeren „recht“ geben.[7] Es gehört in diese Grammatik, dass die Ethik der Nächstenschaft, die Ethik der Nächstenliebe, das Insistieren auf dem „Recht des Nächsten“[8] einschließt. Der Nächste kann hinsichtlich seiner Stellung im Zusammenleben nicht abhängig von der Macht oder auch Einstellung des einen oder anderen gedacht werden. Der Nächste erfährt Nächs­tenschaft in der (institutionell) gegebenen Praxis der Gerechtigkeit, die das politische Zusammenleben trägt.[9]

Es ist damit zugleich untrennbar im Blick, dass Menschenrechte ihren Sinn darin haben, dass sie auch direkt, in direkter Realisierung, ihre Geltung erweisen. So geht es um eine Begründung oder Verankerung der Menschenrechte, die zugleich eine bestimmte Praxis und Verfahren einschließt, sie direkt in ihrer Geltung zu vollziehen. Menschenrechte sind also nicht nur irgendwie einzufordern, sondern es gilt, auf eine Praxis zu setzen, die genuin mit den Menschenrechten verbunden ist – wie eben die Geltung von Rechten immer mit der Geltung von Rechtsprechung, von Urteil, verbunden ist.

Zu unterscheiden ist damit für die Geltung von Menschenrechten die „Begründung“ im Sinne des substantiellen Inhalts, auf den man sich berufen kann und der zu bewahren ist, und die gegebene Praxis der Handhabung von Menschenrechten, die an bestimmten gefährdeten Punkten sichert, wie Menschen in Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit zusammenleben. Es kommt immer zugleich auf die Geltung der Praxis und ihre Sicherung an, um die Geltung der Menschenrechte zu gewährleisten. Das macht sie zu Bürgerrechten. In diesem Sinne geht es um eine „Ethik“ der Menschenrechte. Sie setzt auf eine verbindliche Praxis, eine Praxis, die nicht von Überzeugungen, moralischen Einstellungen etc. abhängt.

Es gehört zu den Konturen evangelischer Ethik, dass sie auf „Institutionen“ setzt.[10] Der Begriff „Institution“, der auch für den Begriff „Ordnung“ steht, ist in dieser Tradition zentral. „Institutionen“ stehen gegen Macht- oder Besitzverhältnisse, die keinen externen Rechenschaftspflichten unterliegen. Menschen sind dort verletzt, unterdrückt und ausgebeutet worden, wo diese Institutionen zerstört waren. Hannah Arendt hat bemerkt, dass den verfolgten und vom Tode bedrohten Juden zunächst die Rechte abgesprochen wurden, bevor sie vernichtet wurden – ein Signal für die unumgehbare, allenfalls zerstörbare Bindung an die Praxis der Rechtsprechung. Wenn christliche Ethik und Christen versagt haben, so war es das Versagen gegenüber dieser grundle-[188]genden Voraussetzung, die durchaus tief in ihrer Tradition verwurzelt ist. Sie ist verwurzelt in einer politischen Theologie und Ethik, die festhält, dass „die Wege des Urteilens“[11] immer konkrete Wege des Urteilens und seiner Institutionen sind.

Im Blick auf eine institutionelle Fassung ist dann durchaus auch über die „Nationen“, die einzig als Rechtsstaaten zu verstehen sind, hinauszugreifen auf eine größere Gemeinschaft, die wiederum als politische zu fassen ist.[12] Auch in dieser Dimension kann es keinen Raum ohne Rechtsprechung geben. Es muss entsprechende Institutionen geben. Diese sind durch keine andere Absicherung zu ersetzen. Dieser Grundgedanke des Schutzes der politischen Gemeinschaft kommt in der christlichen Tradition in der verheißungsvollen Aussage zur Geltung, dass jeder Mensch in Gottes Regiment und unter seinem Urteil (Ps 105, 10; 1 Kor 4, 4) steht – dies ist die institutionelle Gegebenheit – und dass daher keine politische Gemeinschaft absolute Herrschaft ausüben kann, sondern sich als Rechtsgemeinschaft konstituiert.

Die Menschenrechte sind so mit einer Rechtsethik,[13] das heißt mit einer Ethik der Rechtspraxis verbunden. In der Bestärkung dieses Zusammenhangs ist der besondere Beitrag evangelischer Ethik zu sehen. So ist es nicht eine bestimmte Auffassung vom Wesen des Menschen und dem, was daran zu schützen ist, sondern ein Rechtsethos, das damit gegeben ist, dass das menschliche Zusammenleben in seiner Rechtsbedürftigkeit wahrgenommen wird, die sich vor dem Hintergrund des Regiments Gottes abzeichnet. Die Geschichte der Geltung von Menschenrechten ist dann entsprechend als Institutionen-Geschichte zu beschreiben, als Geschichte von Achtung und Missachtung dieser Institutionen. Die biblischen Quellen, von denen diese Geschichte ausgeht, von denen sie ihre Impulse erfahren hat und auf die sich evangelische Ethik direkt immer wieder bezieht, sofern sie auch immer in der Verkündigung gegenwärtig sind, verweisen deutlich auf den Zusammenhang von Recht und Praxis der Gerechtigkeit. Das ist der hier entscheidende Aspekt zur Universalität der Menschenrechte im Modus der Praxis der Gerechtigkeit im Medium von Rechten. Die Universalität wird als geltende, praktizierte Universalität fixiert. Rechtsbedürftigkeit des Menschen besagt, dass es keinen Menschen geben darf, der nicht mit allen anderen in der politischen Gemeinschaft gleiche Rechtsprechung erfährt. Die Gleichheit ist darin begründet, dass es keine menschliche Macht geben kann, die über der Praxis der Gerechtigkeit im Medium des Rechts steht. Dieser Ausnahmezustand kann Menschen nicht zukommen. Die rechtsetzende Gewalt ist Gott allein vorbehalten.[14] So bleibt menschliches Recht immer auf der Ebene der Praxis der Gerechtigkeit im Medium der Rechte, ihrer Ausdifferenzierung und Bewahrung – auch gegen ihre Transformation in andere „Gesetze“ [189] und entsprechende Praktiken. Die evangelische Ethik, soweit sie in der Reformation neu artikuliert worden ist, hat eben hier neu angesetzt, woran die Barmer Theologische Erklärung erinnert. Sie hat ihren theologischen Grund in der Abgrenzung gegen eine „politische Theologie“ oder auch gegen eine in Ekklesiologie transformierte politische Theologie, die die Differenz von Gottesrecht und Menschenrecht auflöst.

Damit aber nicht dennoch, bei aller Gleichheit in der Rechtsprechung, Menschen durch Menschen verletzt, unterdrückt oder ausgebeutet werden, sind Menschenrechte im Zusammenhang mit all dem Weiteren gesehen worden, das die Menschlichkeit des Menschen tangiert, weil es das Zusammenleben unter gleichen Rechten stört oder unmöglich macht. Rechte erscheinen dann auch als Teilhabe-Rechte, die sichern, dass jeder Mensch Zugang hat zu allem, was allen gleichermaßen – um des Lebens in gleichen Rechten willen – zugänglich sein muss: Bildung, Wissen, Gesundheit, familiales Leben. Das Recht zur Teilhabe und die Verpflichtung, dieser Teilhabe entsprechend Gerechtigkeit auszuüben werden hier untrennbar. Die damit geforderte Praxis der Gerechtigkeit richtet sich darauf, Menschen in dem gerecht zu werden, was zur conditio humana gehört. Hier greifen weitere Gerechtigkeitstheorien, die diese conditio im Sinne von Verfahren sichern, damit auch in diesem weiteren Zusammenhang Gerechtigkeit nicht nur eine Forderung bleibt. Dies betrifft vor allem – auch im Sinne evangelischer Ethik – die Frage nach der öffentlich-staatlichen Verantwortung, die per se dort greifen muss, wo es um die Praktizierung dessen geht, was keinem Menschen vorenthalten werden kann, weil es zur conditio humana gehört und eine Bürgerexistenz ermöglicht.

Die Diskussion um das Verhältnis zwischen den Menschenrechten als Bürgerrechten, die zu schützen sind, und den Rechten, die die conditio humana substantiell sichern, ist mit dem Problem behaftet, dass der Umriss und die Substanz dessen, was zu uns Menschen gehört, nicht direkt verbindlich zu machen sind, sondern in die vielfältigen Strukturen, Regierungspraktiken und Machtverhältnisse eingeschrieben sind. Doch genau deshalb sind die direkt zu sichernden Bürgerrechte als der Angelpunkt auch für die Sicherung der conditio humana wahrzunehmen – denn: Die substantiellen Inhalte der conditio humana sind die unabdingbaren Gehalte und Konditionen für die Ausübung politisch-bürgerlicher Praxis. Es wäre ein Widerspruch, wenn die direkt einzulösenden Menschenrechte nicht verbunden wären mit den wie auch immer indirekten, nicht fassbaren oder verborgenen Abhängigkeiten, die eine gemeinsame Praxis politischer Bürger verhindern. Es wäre ein Widerspruch, würde ein Mensch trotz Meinungsfreiheit keinen Zugang zur Bildung haben, also keine Möglichkeit, seine Meinung so gut wie möglich gemeinsam mit anderen zu entfalten. Es wäre ein abstraktes Nächsten-Recht, das nicht die leibliche Existenz des Nächsten schützen würde – dem Verständnis des Leibes entsprechend, durch den Menschen mit anderen Menschen kommunizieren. Auf diese Weise ist von dem Recht des Nächsten aus und auf dieses hin zur Geltung zu bringen, was im Sinne der Conditio humana zu schützen ist, ohne dass dies in ein bestimmtes „Menschenbild“ zu fassen oder in einem solchen zu „begründen“ ist. [190]

Das „Recht des Nächsten“ ist entsprechend im Sinne der notwendig ausgeübten Gerechtigkeit, die dem Nächsten gilt, und in seiner inhaltlichen Bedingtheit zu sehen. Darin zeichnet sich ab, inwiefern die Menschenrechte eine systemische Geltung haben und in einem einen inneren Zusammenhang stehen. Dies ist auch in solchen anthropologischen Begriffen wie „Person“[15] und „Menschenwürde“ und ihrer Funktion festgehalten worden, die freilich ihre eigene Traditionsgeschichte haben. Jedenfalls ist festzuhalten, dass in den Menschenrechten Untrennbares aufeinander trifft. Dies zu erkennen und zu erschließen ist Aufgabe einer christlichen Ethik, die unabdingbare systematische Momente nicht ausschließen muss – wie etwa die Benennung des Rechtsgrundes, der von Menschen nicht besetzt werden oder durch andere „Begründungen“ ersetzt werden kann. Damit ist die Unterscheidung von Gottes Recht und Menschenrecht gegeben.

Dieser Grammatik entspricht es, wenn Christen Gottesdienst als politischen Gottesdienst feiern, in dem sie von Gottes Gerechtigkeit hören und sein Urteil erfahren.[16] Dieser Gottesdienst steht dem Ausnahmezustand entgegen, in dem Menschen ohne Recht wären und einem „Subjekt“ ausgeliefert, das Recht setzt. Dagegen steht die gottesdienstliche Situation, die in Psalm 82 zur Sprache kommt. Gott richtet die ungerechten Richter und behaftet sie dabei, Gerechtigkeit auszuüben. Die ungerechten Richter, die hier angeklagt werden, sind diejenigen, die in der Anonymität, im Hintergrund ihre Herrschaft ausüben, statt die Praxis der Gerechtigkeit walten zu lassen, die immer und jeder Zeit jedem einzelnen gilt, der so in dieser Praxis der Gerechtigkeit als Bürger erscheint. Dies ist – wie Martin Buber gesagt hat[17] – der Psalm der Gegenwart, in dem politische Gemeinwesen durch anonyme Machthaber, Mächte und ihre Praktiken beherrscht werden und Menschen die Möglichkeit verlieren, politische Bürger zu sein.

Wenn sich die christlichen Traditionen in ihrem verschiedenen Zugang zu den Menschenrechten zusammenfinden, dann ist der Gottesdienst, seine Liturgie[18] und die darin enthaltende politische Ethik, das zentrale ökumenische Forum, auf dem sie sich treffen und ihr Gemeinsames finden können. Der Gottesdienst ist der Ort, an dem Christen erfahren, was es heißt, nicht zurückgeworfen zu werden auf „bloßes Menschsein“, sondern Bürger zu sein: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen, erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist“ (Eph. 2,19–20).[19]

Quelle: Vasilios N. Makrides/Jennifer Wasmuth/Stefan Kube (Hrsg.), Christentum und Menschenrechte in Europa. Perspektiven und Debatten in Ost und West, Frankfurt: Peter Lang, 2016, S. 183-190.


[1] Siehe dazu auch: Hans G. Ulrich, „Menschenrechte und die Praxis der Gerechtigkeit. Zur Diskussion um christliche Impulse für eine Ethik der Menschenrechte“, in: Karl Möseneder (Hg.), Menschenrechte. Vier Vorträge. Erlanger Universitätstage Amberg 2012 (Erlanger Forschungen, Reihe A, Geisteswissenschaften, 128), Erlangen 2013, 75–107.

[2] Wolfgang Huber und Heinz Eduard Tödt, Menschenrechte. Perspektiven einer menschlichen Welt, Stuttgart 1977.

[3] Siehe Der Lutherische Weltbund (Hg.), Theologische Perspektiven der Menschenrechte, Genf 1976.

[4] Hannah Arendt, „Es gibt nur ein einziges Menschenrecht“, in: Otfried Höffe, Gerd Kadelbach und Gerhard Plumpe (Hg.), Praktische Philosophie/Ethik 2, Frankfurt am Main 1981, 152–167.

[5] Siehe Dolf Sternberger, „Ich wünschte ein Bürger zu sein“. Neun Versuche über den Staat, Frankfurt am Main 1967.

[6] Siehe dazu die Diskussion zu Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002.

[7] Martin Buber, Recht und Unrecht. Deutung einiger Psalmen, Gütersloh/Gerlingen 19942, 31.

[8] Siehe Erik Wolf, Rechtstheologische Studien, Frankfurt am Main 1972.

[9] In Auseinandersetzung mit Nicholas Wolterstoff, siehe Bernd Wannenwetsch, „But to Do Right … Why the Language of `Rights´ Does Not Do Justice to Justice“, Studies in Christian Ethics 23 (2010) 138–147; Nicholas Wolterstorff, Justice: Rights and Wrongs, Princeton, NJ/Oxford 2008.

[10] Siehe besonders Ernst Wolf, Sozialethik. Theologische Grundfragen, Göttingen 1975, 173. Zur weiteren Entfaltung: Hans G. Ulrich, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, Münster 2007.

[11] Zur Traditionsgeschichte, siehe Oliver O’Donovan, The Ways of Judgment: The Bampton Lectures 2003, Grand Rapids, MI 2005.

[12] Siehe dazu Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos, Darmstadt 1998.

[13] Zum Überblick, siehe Hans-Richard Reuter, Rechtsethik in theologischer Perspektive. Studien zur Grundlegung und Konkretion, Gütersloh 1996.

[14] Siehe Walter Benjamin, „Zur Kritik der Gewalt“, in: ders., Aufsätze, Essays, Vorträge, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.1. (Gesammelte Schriften), Frankfurt am Main 1991, 179–203.

[15] Siehe dazu Marianne Heimbach-Steins, Menschenrechte in Gesellschaft und Kirche. Lernprozesse, Konfliktfelder, Zukunftschancen, Mainz 2001, 16–23.

[16] Siehe dazu Bernd Wannenwetsch, Gottesdienst als Lebensform – Ethik für Christenbürger, Stuttgart (u. a.) 1997 [engl. Political Worship, Oxford 2004].

[17] Buber, Recht und Unrecht in den Psalmen, 32.

[18] Siehe als Beitrag zum orthodoxen Verständnis von Gottesdienst in ethisch-politischer Perspektive: Picu Ocoleanu, Minima moralia eucharistica. Eine theologische Pathologie der Öffentlichkeit, Berlin/Münster 2001.

[19] Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (1984).

Hier der Text als pdf.

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