Von Claus Westermann
Der Schrei der Unterdrückten in den Psalmen
Das Loben Gottes in den Psalmen findet einen einzigartigen konzentrierten Ausdruck im 113. Psalm, der in ganz wenigen Worten sagt, wer der Gott ist, den Israel in seinen Psalmen lobt. Nach einem Aufruf zum Lob (Vers 1-3) besteht der übrige Psalm (Vers 4-9) in einer einzigen zweipoligen Aussage, die auf die ergriffene Frage antwortet (Vers 5):
Wer ist wie der Herr unser Gott
im Himmel und auf Erden?
Die Antwort gibt der Satz, der die Mitte des Psalms bildet (Vers 6):
Der hoch in der Höhe thront –
der tief in die Tiefe sieht.
Der erste Halbsatz wird in Vers 4-5 entfaltet, der zweite Halbsatz in Vers 7-9; der eine rühmt die unvergleichliche Majestät dieses Gottes, der andere sein Erbarmen, das Erbarmen des Gottes, der vom Thron seiner Majestät in die tiefsten Tiefen sieht.
Man muß sich zunächst in immer neuem Nachsprechen und Nachdenken dieser wenigen Psalmverse in ihrer erstaunlich strengen und klaren Architektonik zu Herzen gehen lassen, was eigentlich in diesem Psalm geschieht, um die einzelnen Worte, die einzelnen Sätze verstehen und mitvollziehen zu können. Der 113. Psalm ist in besonderer Weise geeignet, klarzumachen, daß ein Psalm ein Ganzes ist, das man erst lange und intensiv als eine Ganzheit gehört und aufgenommen haben muß, um die Glieder dieses Ganzen begreifen zu können.
In diesem Psalm wird das in die Tiefe blickende Erbarmen Gottes in Vers 7-9 in einer stilisierten Erzählung entfaltet, die in zwei Teilen von einem Mann und einer Frau erzählt, die in der Tiefe waren und aus der Tiefe aufgerichtet wurden:
der aus dem Staub den Geringen aufrichtet,
aus dem Kot den Armen erhöht.
daß er ihn setze neben Fürsten,
neben die Fürsten seines Volks;
der die Unfruchtbare, die Kinderlose
zur fröhlichen Mutter von Kindern macht.
Es wird das Schicksal zweier Menschen erzählt, die in der Tiefe waren. Wir könnten ebenso sagen: Es wird das Schicksal des Menschen erzählt, der in der Tiefe war; denn die Bibel versteht den Menschen als Mann und Frau (Gen 1,27).
Wenn also das in die Tiefe blickende Erbarmen Gottes entfaltet werden soll, dann wird von einer Bewegung erzählt, die den Menschen in die Tiefe und aus der Tiefe wieder in die Höhe führte. In der Bewegung aus der Tiefe in die Höhe ist die Barmherzigkeit Gottes am Werk. In einem Psalm, der in nur ganz wenigen Sätzen sagt, wer der Gott ist, den die gottesdienstliche Gemeinde lobt, ist auch von dem Menschen die Rede, der in der Tiefe war.
Es zeigt sich in diesem Psalm eine Auffassung von Gott, nach der man von Gott nicht reden kann, ohne von seinem Herniedersehen und Sichherabneigen in das Leid von Menschen zu reden. Alle Hoheitsaussagen von Gott sind leer und hohl und ohne Sinn, wenn sie nicht den Gott meinen, der sich in die Tiefe des Menschenleides neigt.
Damit ist aber die Entfaltung des in die Tiefe blickenden Erbarmens Gottes noch nicht genügend. Denn die beiden stilisierten Erzählungen in Vers 7-9 heben eine bestimmte Seite menschlichen Leides hervor: den sozialen Aspekt des Leides. Der Mann, von dem hier erzählt wird, hat seine Stellung verloren. Die Frau, von der hier erzählt wird, hat ihre Geltung verloren. Wenn sie aus der Tiefe aufgerichtet werden, so bedeutet das nicht nur, daß die Phänomene ihres Leides beseitigt sind, es bedeutet zugleich, daß sie ihre Stellung und ihre Geltung unter den anderen wiederbekommen. Es zeigt sich daran, wie sehr in der Bibel zum Menschen die Gemeinschaft gehört; das volle, erfüllte Mensch sein gibt es nur in der Gemeinschaft. Der soziale Aspekt ist hier noch nicht von der Gottesbeziehung abgelöst; das erbarmende Wirken Gottes hat niemals nur mit einzelnen Menschen, es hat immer auch mit dem Menschen in der Gemeinschaft zu tun.
Die Klage im Alten Testament
Was in den beiden stilisierten Erzählungen im 113. Psalm nicht ausgesprochen, aber impliziert ist, das ist der Ruf aus der Tiefe, auf den das Erbarmen Gottes antwortet. Das ganze Alte Testament weiß von ihm. Das erste Gebot erinnert an die Tat Gottes am Anfang: «Ich bin der Herr dein Gott, der dich aus Ägypten, aus dem Knechtshaus geführt hat…» Und das «geschichtliche Credo» (Dtn 26,5-11) gründet die Geschichte Israels auf Gottes Rettungstat an deren Anfang. Will man erzählen, was damals geschah, dann muß man auch von dem Schrei der Bedrückten erzählen: «Da schrien wir zum Herrn, und der Herr erhörte uns» (Dtn 26,7); «Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihr Schreien über ihre Treiber habe ich gehört» (Ex 3,7). Wenn Israels Glaube auf diese rettende Tat Gottes am Anfang seiner Geschichte gegründet ist, wenn von den rettenden Taten Gottes Israels Geschichte bestimmt ist und im babylonischen Exil von der Bedrückung im Exil und der Errettung des Volkes aus ihr genau so gesprochen wird wie von der Errettung aus Ägypten, – dann gehört zu diesem rettenden Handeln Gottes durch die ganze Geschichte seines Volkes hindurch implizit auch der Ruf aus der Tiefe, der Schrei der Bedrückten. Darum ist die an Gott gerichtete Klage durch das ganze Alte Testament hindurch und nicht nur in den Psalmen – ein legitimer und ein notwendiger Bestandteil des Redens zu Gott.
Versteht man das Rettungshandeln Gottes in einer Geschehensfolge, so daß von ihm erzählt werden kann (vgl. H. Weinrich, Narrative Theologie, Concilium 9, 1973, 329-334), dann kann man das Rufen zu Gott aus der Tiefe nicht von der Rettungstat Gottes ablösen, beide gehören zu einer in sich geschlossenen Geschehensfolge. So zeigt es das Credo Dtn 26,5-11, so zeigen es die vielen Psalmen, in denen der Gerettete zurücksieht auf das, was ihm geschah. Erst damit, daß man aus dem rettenden Handeln Gottes eine Heilslehre machte, löste man das Rufen aus der Tiefe von ihm ab. Die «Soteriologie» weiß nichts mehr von dem Ruf aus der Tiefe, die Heilslehre kennt die Klage nicht mehr. Es ist aber ein fundamentaler Unterschied, ob das Erbarmen Gottes, das sich in die Tiefe des Leides neigt, Antwort ist, Antwort auf den Ruf aus der Tiefe, oder ob dieses Erbarmen Gottes in einer Heilslehre objektiviert und zu einer zeitlosen Eigenschaft Gottes wird. In dem objektivierenden Reden von Gott, das in eine zeitlose Lehre gefaßt werden kann, ist es begründet, daß in der christlichen Dogmatik die Klage keinen Ort hat.
Von diesem objektivierenden Reden von Gott unterscheidet sich das erzählende Reden von Gottes rettendem Tun im Alten Testament dadurch, daß es von einem Wechselgeschehen spricht, es ist ein «dialogisches Geschehen», das sich zwischen Gott und Mensch abspielt, von dem hier erzählt wird. Wo von einer Rettungstat Gottes erzählt wird, da gehört sowohl das Schreien des Leidenden aus seiner Not wie auch die Antwort des Geretteten im Gotteslob dazu. Der Ruf aus der Tiefe erhält seine Würde dadurch, daß ihm das Erbarmen Gottes antwortet. Darum gehört für die Bibel zum Reden von Gott auch der Ruf aus der Tiefe, auch der Schrei des Unterdrückten, auch das Weinen des verdurstenden Kindes (Gen 21,16f). Sie gibt diesem Schrei Raum, sie will ihn nicht unterdrücken, sie will ihn nicht zum Verstummen bringen. Was in der Bibel zwischen Gott und Mensch geschieht, wäre nicht vollständig ohne ihn.
Der Gegensatz, der eben herausgestellt wurde zwischen dem Erzählen von Gottes rettendem Handeln, das den Ruf aus der Not impliziert, und einer objektivierenden Heilslehre, in der das Rufen aus der Not von Gottes Heilshandeln abgetrennt ist, besteht nicht etwa zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. In der ganzen Bibel, im Alten wie im Neuen Testament, ist die Klage ein legitimes Reden zu Gott. Und die Evangelien kennen den Ruf aus der Tiefe eines Leids, dem das Erbarmen des Heilandes antwortet.
Die Klage in den Psalmen
Die Klage begegnet durch das ganze Alte Testament hindurch, von der Klage Kains über die Klage Moses, von der Klage des Propheten Jeremia bis zu den Klagen Ijobs. Sie haben aber ihren Sammelort in den Klagen des Psalters, den gottesdienstlichen Klagegebeten. Der Psalter als ganzer ist von der Polarität von Lob und Klage bestimmt. Lobpsalmen und Klagepsalmen sind die beiden Hauptgruppen in ihm. Die Klage hatte somit ihren festen und notwendigen Ort in Israels Gottesdienst. Das dem Einzelnen wie das der Gemeinschaft im Alltag begegnende Leid sollte im Gottesdienst zur Sprache kommen; hier war der Ort, wo man vor Gott sein Herz ausschütten konnte. Darum gab es in Israel die Klagen des Einzelnen und die Klagen des Volkes, man könnte auch sagen: die privaten und die öffentlichen Klagen. Die Erfahrungen persönlichen Leides in Krankheit, Verlust eines Angehörigen, beruflichen Rückschlägen, Bedrückung oder Verleumdung sind anders als die Leiderfahrungen der Gemeinschaft in politischen oder Naturkatastrophen, darum erhalten sie je ihren eigenen Ausdruck in den Einzel- und in den Volksklagen: allein diese Unterscheidung zeigt schon, daß die gottesdienstlichen Klagegebete auf Erfahrung bezogen sind, auf Erfahrungen im Alltag mit seinen Härten und Schlägen.
Auf dem Weg in den Gottesdienst wurden die Erfahrungen von Leid mitgebracht, damit der von Leid Belastete vor Gott sein Herz ausschütten konnte (Ps 102,1). Das spiegelt sich im Aufbau der Klagepsalmen in einer erstaunlich klaren Weise. Alle Bestandteile, aus denen der Klagepsalm zusammengewachsen ist, kommen aus Situationen im Alltag, in denen sie je für sich in den Erfahrungen von Nöten und Ängsten vorkommen und ihre Bedeutung haben. Die Klage, die im Psalm einen Teil des Klagepsalms bildet, kann für sich allein stehen wie die Klage Rebekkas (Gen 25,22) oder die Klage Simsons (Ri 15,18), ebenso die Bitte als ein Stoßseufzer (das «Hosianna» war ursprünglich ein solcher Stoßseufzer, es bedeutet ‹hilf doch!›) oder das Gelübde, z. B. das Gelübde Jakobs (Gen 28,20-22), oder auch der bloße Anruf Gottes, in den ein zu Gott gerichteter Aufschrei gefaßt sein kann.
Diese Einzelelemente bilden im gottesdienstlichen Klagepsalm ein Ganzes. Sie kommen mit den Einzelnen aus deren Erfahrungen auf dem Weg von draußen in den Gottesdienst und bilden zusammen den Psalm, den nun viele aus vielen Erfahrungen heraus zusammen sprechen, zusammen beten können. Das gottesdienstliche Psalmengebet dient dazu, die Leiderfahrung vieler in einer allen gemeinsamen Sprache vor Gott zu bringen. Der Schrei der Unterdrückten, die Qual des Verlassenen, die Mühsal des Kranken, die Bitterkeit des Erfolglosen, – sie alle kommen zusammen in den Worten des Psalms, der ihrer aller Klage vor Gott bringt. Was aber geht in diesem Klagegebet vor sich?
Die Appellfunktion der Klage
Im Gerichtswesen hat die Klage die Funktion des Appells an eine Instanz, die dazu da ist, Recht zu schaffen, wo Unrecht geschieht. Daß hier wie im Rufen zu Gott das gleiche Wort gebraucht wird, ist nicht etwa zufällig. In einem bestimmten, begrenzten Sinn hat die an Gott gerichtete Klage die gleiche Funktion wie die Klage vor Gericht: eben die des Appells. In der uralten Institution des Gottesgerichts ist dieser Zusammenhang noch erkennbar. Dieser Zusammenhang von Klage vor Gott und Klage vor Gericht kommt in den Psalmen auch darin zum Ausdruck, daß der, dem Unrecht geschah, vor Gott fleht: «Führe du meine Sache!» (Ps 43,1) und dabei das Wort «rīb» gebraucht, das sonst Rechtsfall, Prozeß, bedeutet.
Die Appellfunktion der Klage gründet darin, daß der Mensch, jeder Mensch Geschöpf Gottes ist. Daß Gott den Menschen nach seinem Bild, zu seiner Entsprechung geschaffen hat, bedeutet auch, daß jedem Menschen diese letzte Instanz bleibt, an die er appellieren kann. Der Schrei des Unterdrückten hat in aussichtsloser Lage immer noch den Zugang zu dieser letzten Instanz. Wo das jedem zustehende Menschenrecht, sich als Angeklagter oder Verhafteter vor einem ordentlichen, objektiven Gericht zu verteidigen, verweigert wird, bleibt dem Menschen der Appell vor der letzten Instanz offen. Im Ijobbuch ist dieser Appell ein Bestandteil der Bibel geworden. Sofern die Appellfunktion der Klage einen festen Ort im Gottesdienst hat, wie das in Israel war, verankert es das Menschenrecht auf Anrufung der letzten Instanz in seinem Gottesverhältnis.
Die gottesdienstliche Klage aber verleiht dieser Appellfunktion eine noch weitergehende Bedeutung, das kann die Struktur der Klage zeigen. Die Einzelelemente des Klagepsalms: Anruf (mit einleitender Bitte) – Klage – Hinwendung zu Gott (Bekenntnis der Zuversicht) – Bitte – Lobgelübde – bilden eine in sich notwendige Reihenfolge und geben damit dem Klagepsalm einen festen Aufbau. Die Eigenart dieses Aufbaus besteht darin, daß sie ein Gefälle beschreibt. In jedem Klagepsalm wird eine Wandlung der Klage angedeutet, vorbereitet oder schon vorausgenommen. Es gibt keinen einzigen Klagepsalm, der bei der Klage stehenbliebe. Das Gefälle zeigt sich darin, daß jede Klage – ohne Ausnahme – in die Bitte mündet; die Klage hat ihren Sinn nicht allein in sich selbst, sondern darin, daß sie etwas in Bewegung bringt. Sie bringt etwas in Bewegung, indem sie an den appelliert, der das Leid wenden kann. Das Gefälle zeigt sich aber darüber hinaus auch darin, daß jeder Klagepsalm – wiederum ohne Ausnahme – einen Schritt aus der Klage heraus erkennen läßt: entweder in einem durch ein sich der Klage entgegensetzendes ‹aber›, das ein Wort des Vertrauens einleitet wie in Ps 13: «aber ich, – auf deine Güte vertraue ich», oder in einem Lobgelübde am Ende des Klagepsalms, das schon hinübersieht zur Erfahrung der Hilfe.
Dieses Gefälle im Aufbau des Klagepsalms läßt erkennen, was es mit der Appellfunktion der Klage auf sich hat. Jede Klage jedes Klagepsalms appelliert an den, der alles Menschenleid wenden kann. Indem der Klagende an ihn appelliert, indem er sich an ihn wendet, geschieht etwas. Dies ist das eigentliche Geheimnis der Klagepsalmen: in jedem Klagepsalm geschieht etwas.
Die Appellfunktion der Klage in den Psalmen kann noch deutlicher werden am Zusammenhang von Klage und Bitte. Jede Klage mündet in eine Bitte, denn die Klage wird laut, damit sich etwas wandle. In elementarer Weise zeigt sich diese Zusammengehörigkeit im Weinen des kleinen Kindes, in dem Klage und Bitte noch eins sind.
Nun ist aber die Bitte in den Psalmen von dem, was wir untereiner Bitte an Gott verstehen, unterschieden. Unser Wort ‹Bitte› umfaßt zwei verschiedene Vorgänge, denen auch in frühen Sprachen überall zwei verschiedene Vokabeln entsprechen: die Bitte um etwas (transitiv) und das Flehen (intransitiv), das aus einer Not erwächst und um die Wende dieser Not fleht. Die Psalmen kennen die Bitte fast nur in diesem zweiten Sinn; das Aneinanderreihen verschiedener Bitten um etwas an Gott gibt es in den Psalmen nicht.
Das Flehen zu Gott aus einer Not ist zweigliedrig, wie es die Klagepsalmen durchgehend zeigen: der Beter fleht zuerst um die Zuwendung Gottes, dann um sein Eingreifen, seine Hilfe (Ps 22,20):
Aber du, Herr, sei nicht ferne!
Du, meine Stärke, eile mir zu helfen!
Es wäre unmöglich, Gott um Rettung anzuflehen, ohne ihn zugleich um seine Zuwendung zu bitten. Denn Rettung kann nur aufgrund der Zuwendung Gottes erfolgen, anders nicht. Das hat eine eingreifende Folge: In den Psalmen meint der Ruf aus der Tiefe, der Schrei der Bedrückten Gott selber. Eine Erfahrung von Rettung, die nicht auch Erfahrung der persönlichen Zuwendung Gottes wäre, gibt es hier nicht. In jeder Erfahrung von Rettung wird eine Gottesbegegnung erfahren; jede Erhörung realisiert sich in einer Begegnung mit Gott.
Der leidende Mensch weiß im Flehen um die Zuwendung Gottes, daß an ihr sein Leben hängt. Darum vollzieht sich in jeder Klage, die in eine Bitte mündet, etwas, was den Leidenden über sein Leid hinausführt. Es kann sein, daß in seinem Fall Gott nicht einschreitet, es kann sein, daß er von seinem Leiden nicht erlöst wird. Aber in seiner Bitte um Gottes Zuwendung ist schon etwas gewandelt. Die Appellfunktion der Klage eröffnet nicht in jedem Fall die Wende des Leides, sie eröffnet aber in jedem Fall den Zugang zu dem lebendigen Gott. Eben dies ist gemeint, wenn einmal, als eine äußerste Möglichkeit, von dem Beter einer Klage gesagt werden kann (Ps 73):
Wenn ich nur dich habe,
frage ich nichts nach Himmel und Erde.
Die Sprache des Leides
Die Klage ist die Sprache des Leides. Leid muß sich aussprechen können, es muß sich auch Gott gegenüber aussprechen können. Darum gehört die Klage notwendig zum Reden des Menschen zu Gott. Klage aber ist nicht einfach identisch mit Schrei. Schrei ist der unmittelbare Reflex des Schmerzes oder der Angst, der als solcher nicht artikuliert zu sein braucht. Es ist ein Reflex kreatürlicher Art, der dem Menschen mit vielen Tieren gemeinsam ist. Die Klage ist im Unterschied zum Schrei artikuliert, in der Klage wird der Schrei zur Sprache, Klage ist darum spezifisch menschlich. Man kann, wie das oft geschieht, die Klage als Schrei bezeichnen, aber das ist metaphorisch zu verstehen. Der beträchtliche Unterschied zwischen Schrei und Klage zeigt sich unter anderem daran, daß zu dem bloßen Herausschreien des Schmerzes in der Klage die Frage warum? und die Frage wie lange? tritt. Diese beiden Fragen sind ein Element der Klage in allen Sprachen der Welt. Zu dem unmittelbaren Reflex des Schmerzes tritt in diesen Fragen die Reflexion des Leidenden hinzu, die nach dem Sinn des Leides fragt. Es ist diese Sinnfrage, die die Klage vom kreatürlichen Schmerzensschrei unterscheidet; es ist der seines Daseins bewußte und es reflektierende Mensch, der nach dem Sinn des Leides fragt. In dieser Sinnfrage zeigt sich das spezifisch Menschliche der Klage.
Was zur Appellfunktion der Klage schon gesagt wurde, kehrt hier unter einem anderen Aspekt wieder: Das spezifisch Menschliche dieser Warum-Frage ist darin begründet, daß der Mensch zum Gegenüber Gottes geschaffen ist. In der Gottesebenbildlichkeit ist es begründet, daß der Mensch über sich hinaus fragen kann, daß er über sich hinaus fragen muß. In allem Leid sieht das Alte Testament eine Einwirkung der Macht des Todes. Dieser Bedrohung des heilen Lebens durch die im Leid wirkende Macht des Todes entspringt die Frage nach dem Sinn, die Frage: Warum? Sie kann nur an Gott gerichtet werden, – an wen wohl sonst? In jeder Warum-Frage eines leidenden, verwundeten, verzweifelten, in die Ecke getriebenen Menschen fragt der Mensch über sich hinaus.
Das spezifisch Menschliche an der Klage als der Sprache des Leides zeigt sich auch daran, daß die Klage in ihrer Sprache die Grundbezüge menschlicher Existenz zum Ausdruck bringt: das Selbstsein, das Mitsein und das Sein vor Gott. In den Klagepsalmen insgesamt hat die Klage diese drei Aspekte, sie klagt in diesen drei Richtungen. Die Klage ist ihrem Wesen nach dreigliedrig, wie das etwa der Anfang des 13. Psalms zeigt:
Wie lange, Jahwe, vergißt du mich immer,
Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?
Wie lange soll ich Schmerzen in meiner Seele tragen,
Kummer in meinem Herzen Tag und Nacht?
Wie lange soll sich mein Feind wider mich erheben…
Es sind die gleichen Grundbezüge des Menschseins, die die Erzählung von der Erschaffung des Menschen bestimmen: der Mensch ist nicht nur als Einzelner, er ist zugleich zur Gemeinschaft und im Gegenüber zu seinem Schöpfer geschaffen. Die gleichen drei Bezüge des Menschseins bilden den Grundriß in der großen dichterischen Konzeption des Ijobbuches, wenn sich hier das Drama eines Menschenleides zwischen dem einsamen Ijob, seinen Freunden, die zu seinen Feinden werden, und Gott abspielt.
Das in der Dreigliederung der Klage sich zeigende Menschenverständnis ist sowohl dem säkularisierten wie auch dem religiösen Menschen abhanden gekommen. Es müßte ganz neu erweckt werden. Die Dreigliederung der Klage setzt ein Menschenverständnis voraus, in dem die drei Aspekte nur miteinander das Menschsein des Menschen ausmachen: das Selbstsein des Menschen, das Mitsein mit den anderen Menschen und das Sein mit Gott oder gegenüber oder vor Gott. Das säkularisierte Menschenverständnis kennt nur noch entweder das isolierte Selbstsein des Menschen oder das isolierte Menschenverständnis aus dem gesellschaftlichen Aspekt; das religiöse Menschenverständnis kennt weitgehend nur noch das von den übrigen Daseinsbezügen isolierte Gottesverhältnis. Angesichts der wachsenden Bedrohung des Menschen in seiner Menschlichkeit auf der ganzen Erde ist wichtiger als eine sich abschließende ¡theologische Anthropologie» ein neues auf die Bibel gegründetes Menschenverständnis, das die drei Grundbezüge des Menschseins wieder zusammenbringt. Das säkularisierte Menschenverständnis kann die Sinnfrage nicht stellen, es kann sich auch selbst der Sinnfrage nicht stellen. Die Frage des Menschen nach dem Sinn seines Daseins aber läßt sich nicht abweisen, wie es die Frage des Leidenden warum?, wie lange? in allen Sprachen der Menschheit zeigt. Das auf die Bibel gegründete Menschenverständnis aber kann den so Fragenden nicht helfen, wenn es nicht die Klage des säkularisierten Menschen, die aus den beiden anderen Aspekten erwächst, aufnimmt und annimmt.
Wenn ich der Klage eine so hohe Bedeutung für das Reden von Gott, also für die Theologie zuerkenne, so bedarf dies noch einer Erläuterung. Das allgemeine Verständnis wertet die Klage im privaten Bereich negativ; es mahnt: «Lerne leiden, ohne zu klagen!» Diese negative Wertung der Klage ist u.a. in einer Entartung der Klage zur Selbstdarstellung des Leids oder Selbstbemitleidung begründet; der Klagende kreist in seiner Klage nur um sich selbst, die Klage wird zum Lamentieren. Diese Entartung der Klage ging Hand in Hand mit ihrer Ablösung von der zu Gott gerichteten Klage. Weil sie sich nicht mehr an den wendet, der das Leid wandeln kann, klagt sie im Leerlauf. Diese Ablösung von der an Gott gerichteten Klage spiegelt sich in einer merkwürdigen sprachlichen Erscheinung. Wir gebrauchen das gleiche Wort ‹Klage› auch für die Totenklage. Die Totenklage unterscheidet sich im Alten Testament gerade darin von der Leidklage, daß sie nur noch zurücksieht. Weil die Leidklage nach vorn sieht, auf eine Wende des Leids, ist sie zu Gott hin gerichtete Klage; die Totenklage dagegen ist eine profane Gattung, sie richtet sich nicht an Gott, sie appelliert nicht mehr an ihn. Es ist deshalb sehr bezeichnend, daß die Abwertung der Klage sich nur im privaten Bereich vollzog, während die gerichtliche Klage ihre positive Bewertung behielt.
Wenn aber die Klage die Sprache des Leides ist, kann sie dem Leidenden nicht verwehrt werden. Jeder weiß, daß in der Begegnung mit einem schwer Leidenden das erste ist, daß man ihn sich aussprechen lassen muß. Warum sollte dieses Sich-Aussprechen vor Gott haltmachen? Warum sollte man nicht vor ihm sein Herz ausschütten können, wie es die Psalmen sagen? Wir wissen aus den Evangelien, daß Jesus sich der Sprache der Leidenden nicht verschlossen hat, «es jammerte ihn». Wir wissen aber auch, daß Jesus in seinem Leiden und Sterben sich in die Klage seines Volkes hineingestellt und sie aufgenommen hat. Denn diesen Sinn hat es, wenn der 22. Psalm die Leidensgeschichte Jesu mit geprägt hat.
Der Schrei der Bedrückten und die Bedrücker
Eine Eigenart der Klagepsalmen des Einzelnen im Psalter, die es uns oft schwer macht, diese Psalmen als Christen mitzubeten, ist das oft sehr ausführliche Reden von den Feinden der Beter, den Frevlern oder Gottlosen oder Toren. Es kommen also in den Psalmen nicht nur die Bedrückten, die Armen, die Elenden, vor, sondern auch die Bedrücker. Die bisherige Forschung hat noch nicht völlig klären können, wer eigentlich mit diesen Feinden des Beters gemeint ist. Es wird nur andeutend, in stilisierten Redewendungen und Bildworten von ihnen gesprochen, die damals verständlich waren, uns aber nicht mehr verständlich sind. Deutlich ist nur, daß es sich bei diesen Feinden des Beters nicht um politische Feinde des Volkes handeln kann; von denen sprechen die Klagen des Volkes. Es muß sich um solche handeln, die der gleichen Gemeinschaft angehören, mit denen zusammenzuleben die Beter dieser Psalmen gezwungen sind. Besonders auffällig ist dabei, daß niemals auch nur die geringste Andeutung von aktivem Widerstand gegen sie zu finden ist. Die Gegnerschaft wird, sofern sie sich gegen die Feinde auswirkt, unbedingt Gott anheimgestellt. Wir nehmen an dieser Bitte gegen die Feinde Anstoß ohne dabei zu sehen, daß sie den unbedingten Gewaltverzicht bedeutet. Diese Bitte gegen die Feinde der Beter in den Psalmen war darin bedingt, daß für sie Gottes Wirken auf das Diesseits begrenzt war; ob Gott auf Seiten der Beter, d.h. der Frommen war, mußte im Diesseits entschieden werden. Hier ist mit dem Werk Christi eine Wandlung eingetreten. Weil er die Todesgrenze durchbrochen hat, ist die Bitte gegen die Feinde der Glaubenden, die auch die Feinde Gottes sind, nicht mehr notwendig. Mit Christus ist die Gewißheit da, daß Gott auch dann auf der Seite der Glaubenden ist, wenn sie ihren Bedrückern unterliegen. «Vater, vergib ihnen …». Es muß aber auch gesagt werden, daß überall, wo Christen Gewalt gegen ihre Gegner angewandt haben, sie hinter den Betern der Psalmen zurückgeblieben sind, deren Bitte gegen die Feinde ihres Glaubens den unbedingten Gewaltverzicht bedeutete.
Die Klage des Mittlers
Neben all dem, was bisher von den Klagen im Alten Testament gesagt wurde, gibt es noch eine andere Möglichkeit: daß der Schrei der Unterdrückten aus dem Munde und aus dem Herzen derer kommt, die für andere leiden müssen, bei denen also das Leid nicht aus dem persönlichen Schicksal, sondern aus ihrem Auftrag erwächst. In der Klage des Mittlers ist die wichtigste Verbindung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament zu sehen. Sie beginnt mit Mose, dem die Last des Volkes, das ihm anvertraut ist, während der Wanderung durch die Wüste zu schwer wird; sie kehrt wieder bei Elia, der allein mit wenigen gegenüber einer Übermacht an dem Gott festhält, der Israel aus Ägypten befreite; sie kommt zur vollen Entwicklung bei den Propheten, die leiden müssen, weil ihre Botschaft abgewiesen wird, insbesondere bei Jeremia, dessen Klagen (oder Konfessionen) zu einem Teil seiner Botschaft wurden. In seinen Klagen kommt die überschwere Last der Aufgabe zum Ausdruck, seinem Volk den über es von Gott verhängten Untergang zu verkünden. Die Sprache der Leidenden, die in den gottesdienstlichen Klagepsalmen geprägt wurde, wird hier zur Sprache des Boten Gottes, der unter der Last seines Auftrags fast zusammenbricht. Es ist der Auftrag Gottes, der ihn zum Unterdrückten macht; es sind die Könige seines Volkes, die Priester und die Heilspropheten, die zu seinen Bedrückern werden. In erschütternder Eindrücklichkeit kommt hier zu Wort, daß der im Auftrag Gottes Handelnde doch nichts ist als ein verwundbarer Mensch; die Menschlichkeit der Sprache seines Leides wird auch hier in den drei Bezügen des Menschseins ausgedrückt: in der Anklage Gottes, in der Jeremia Gott seine tiefe Verzweiflung vorwirft; in der Feindklage, in der Jeremia über deren hinterlistiges Vorgehen gegen ihn klagt; in der Ich- Klage, in der die Einsamkeit und das Ausgeliefertsein eines Mannes, der doch im Auftrag Gottes handelt, eine bewegende Sprache findet.
Den Klagen Jeremias folgen in zeitlich geringem Abstand die Lieder vom Leiden des Gottesknechtes im Buch des Propheten Deuterojesaja (42,1-4; 49,1-6; 50,4-9; 52,13-53,12). In ihm wird zum erstenmal eine völlig neue positive Möglichkeit des Leidens gesehen: im Leiden des Gottesknechtes bekommt das Leiden eines einzelnen Menschen eine weit über ihn selbst hinausreichende Bedeutung für das ganze Volk: das Leiden des Knechtes ist stellvertretendes Leiden, «die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt». Diesen Umbruch kann man nur in dem großen Zusammenhang der Geschichte Gottes mit seinem Volk verstehen; aus dieser Geschichte erhielt das Amt der Propheten, der Boten Gottes, seine Notwendigkeit, und aus der Geschichte der Prophetie erhielt das Leiden des Mittlers seine Notwendigkeit. Erst vom Ganzen dieser Geschichte her erhält das Leiden des Mittlers – in einem der Gottesknechtlieder, Jes 49,4, ist das scheinbar erfolglose Wirken der Propheten angedeutet – den Sinn eines Leidens für die anderen, und das heißt auch: für die Bedrücker.
Die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu schließt unmittelbar an die Gottesknechtlieder an. Wer der Gottesknecht ist – es ist ein Einzelner, der doch für das Ganze da ist –, das wird im Buch Deuterojesaja noch verhüllt; in der Leidensgeschichte der Evangelien wird die Geschichte zu Ende geführt, die mit den Klagen Jeremias abbrach und deren Abschluß in den Gottesknechtliedern nur angedeutet werden konnte. Eine Andeutung ist auch darin zu sehen, daß in den Gottesknechtliedern – im Unterschied zu den Klagen Jeremias – die Feindklage ganz zurücktritt; die Stellvertretung macht auch vor den Feinden nicht halt, die den Tod des Knechtes verursachen (Jes 53,12).
In diesem weiten Zusammenhang steht der Schrei Jesu am Kreuz. Seine Bedeutung kann nur dem aufgehen, der aus der Geschichte, die hier zum Ziel kommt, weiß, daß hinter diesem Schrei die Klage der Leidenden, der Schrei der Unterdrückten, das «Seufzen der Kreatur» steht, das zum Menschsein des Menschen gehört. Die in der Klage laut werdende Sprache des Leidens erhält einen Sinn im großen Zusammenhang des Erlösungswerkes Gottes. Das Leiden des Menschen in der ganzen Menschheit erhält hier in der Mitte der Geschichte das Ja des erbarmenden Gottes:
Wer ist wie der Herr unser Gott
im Himmel und auf Erden?
Der hoch in der Höhe thront,
der tief in die Tiefe sieht.
(Die wissenschaftliche Begründung ist zu finden in C. Westermann, Struktur und Geschichte der Klage im AT, ZAW 66, 1954, 44-80; vgl. auch Das Loben Gottes in den Psalmen, 41968.)
CLAUS WESTERMANN
1909 geboren. Promovierte an der Universität Zürich, Pfarrer in Berlin, seit 1949 Dozent und seit 1954 Professor an der Kirchl. Hochschule Berlin, seit 1958 Professor für das Alte Testament an der Universität Heidelberg. Werke: Das Loben Gottes in den Psalmen (1953, 4. Aufl. 1968); Forschung am Alten Testament (Band I 1964, Band II 1974); Bibl. Kommentar zum Alten Testament, Genesis (Band I, 1-11, 1974); Kommentar zu Jesaja 40-65 in Altes Testament Deutsch (1. Aufl. 1966,2. Aufl. 1976). Anschrift: Kolpingstraße 2, D-6831 St. Leon.
Concilium 12 (1976), 575-581.