Was meine ich, wenn ich das Vaterunser bete?
Von Heinrich Albertz
Zuerst: Wenn ich es allein und für mich bete, nach einem vollen Tag mit hundert Gesichtern, die ich gesehen, allem was ich gesprochen, gehört, gelesen, an Nachrichten und Meinungen in mich aufgenommen habe, denke ich: Gott sei Dank, nun ist es gut. Nun bist du da, wo du eigentlich hingehörst. Unbeschreiblich geborgen. Aufgehoben. Die Gesichter, böse und gute, verschwimmen. Die Reden verstummen. Die Nachrichten versinken. Es sind nur noch zwei übrig. Er, der Unnennbare, Namenlose. Und ich. Niemand zwischen uns. Kein Priester, keiner der zuhört. Der Gott des ersten Gebotes, der in fast jeder meiner Predigten vorkommt, – «Mein Herr und mein Gott». Niemand außer oder neben ihm. Der Gott, der mich befreit aus den Sklavenhäusern wie Israel aus der Hand der Ägypter. Der, zu dem ich: «Mein» sagen darf. Unerhört, dieses Possesivpronomen, das den Herrn in die Hand des Knechtes gibt, den Schöpfer ins Herz des Geschöpfes. Ja, ich denke auch und zuerst an diesen Gott des Alten Testaments, den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Den, der immer wieder diese Urväter des Glaubens herausgerufen hat – «in ein Land, das ich dir zeigen will». Zu ihm, diesem gewaltigen und unvorstellbaren Herrn darf ich sagen: Vater.
Nein, ich selbst würde dies niemals wagen. In der strengen Tradition reformierter Gemeinden aufgewachsen, ohne ein Bild Gottes vor Augen, ja ausdrücklich gewarnt, mir jemals ein Bild von ihm zu machen, ist es fast eine Gotteslästerung. Vater. Also bin ich sein Sohn. Vater. Also hat er mich gezeugt. Vater. Also habe ich einen Anspruch, von ihm gehört zu werden. Er soll mich nähren und kleiden, solange ich ein Kind bin. Er soll immer für mich da sein, ein Leben lang. Dies ist bei jedem Vaterunser neu, eine unglaubliche Sache. Aber ich bete so. Es ist mir erlaubt. Es ist mir nicht nur erlaubt, sondern geboten worden. «Wenn Ihr aber betet, dann betet also: Vater unser». Ich kann also nur so beten, weil es mir Jesus Christus so vor gebetet hat. Ich spreche es nach. Ich habe es nicht erfunden. Es ist nicht meine Anbiederei, mein gefährlicher Hochmut, sondern sein Gebot. Weil der einzige wirkliche Mensch seit Adam Gottes lieber Sohn war, an dem er Wohlgefallen hatte, läßt er mich so Unerhörtes sprechen. Ich könnte es nicht. Ich dürfte es auch nicht ohne ihn.
Ich gestehe also, daß ich in aller Regel, sehr unerlaubt wahrscheinlich, bete: «Vater unser, lieber Herr Jeus Christus, mein Bruder – Dein Name werde geheiligt…». Vielleicht runzeln die Theologen die Stirn. Vielleicht ist dies eine falsche Christologie. Aber ich kann mir den Vater nicht vorstellen ohne den Sohn. Ja, ich kann ihn mir auch mit ihm nicht vorstellen. Kein Bild von ihm machen, es sei denn, das Bild des Sohnes, dieses einen wahren Geschöpfes Gottes. Ihn haben Menschen gesehen, gehört, geliebt, gehaßt, gekreuzigt. Er hat von seinem Vater gesprochen. Er hat ihn gekannt, erkannt, weil er von ihm als sein Sohn erkannt wurde. An ihn kann ich mich halten. Mit ihm spreche ich, wenn ich bete: Vater unser. Ich weiß, er hat mehr gemeint, er hat mehr gewollt, er gesteht mir zu, zu dem Unnennbaren «Vater» zu sagen. Aber ich bin noch nicht soweit. Ich erkenne es nur stückweise. Wie durch einen Spiegel in einem dunklen Wort.
Zweitens: Wenn ich in der Gemeinde das Vaterunser bete, liegt der Ton auf dem zweiten Wort. Die Anrede des Herrn-Gebetes öffnet mein Herz in die große unübersehbare Kirche seines Namens und in die Welt. Denn wo das Vaterunser vom Menschen redet, spricht es im Plural: «Unser Vater, unser Brot, unsere Schuld, unsere Versuchung». Du bist also nicht allein mit deinem Gebet. Du bist selbst ganz da, aber du bist mit und unter den anderen. Du betest mit ihnen gemeinsam. «Lasset uns gemeinsam beten…» Es ist kein Zufall, daß sich unter den deutschen Protestanten dieses gemeinsame Vaterunser mit dem Beginn des Kirchenkampfes gegen den Tyrannen Hitler durchgesetzt hat. Hier sind sie also alle: Zuerst die Leute neben dir, deine Nachbarn und Gemeindegenossen, mit ihren Hoffnungen und Erwartungen, ihren Ängsten und Zweifeln, ihrem Leben und Sterben – und dann die ganze große Welt. Du kannst nur schwer an alle denken. Darum schieben sich die Namen ein, die jeweils unter besonderen Bedrückungen und Verfolgungen, unter Hunger und Ausbeutung zu leben haben: die Tschechen oder die Polen, die Menschen im südlichen Afrika, in Äthiopien, im riesigen Kontinent von Südamerika, in Südkorea. Oder einzelne, Helder Camara oder Ernesto Cardenal, oder die Männer in den psychiatrischen Kliniken der Sowjetunion. Oder die Leute im eigenen Lande: Terroristen und ihre Opfer, vom Berufsverbot Betroffene und die, die Freiheiten beschränken. Ja, auch sie. Wir beten zuerst für die Elenden, aber auch für die Feinde der Menschen und ihrer Rechte, daß Gott sich ihrer finsteren Herzen erbarme.
Ich habe versucht in der Gemeinde, in der ich Pfarrer war, daran zu gewöhnen, dies alles so konkret wie möglich, so namentlich wie möglich vorzubringen. Nicht die «Obrigkeit», sondern die Männer und Frauen, so wie sie heißen. Nicht die «Unterdrückten», sondern etwa die Gefangenen des Monats, wie wir sie von Amnesty International genannt bekommen. Denn so wie mir erlaubt und geboten ist, in meinem eigenen privaten Bereich Vater und Mutter, Söhne, Töchter und Enkel, jede Beschwernis vor dem Ohr des ewigen Vaters mit Namen zu nennen, gilt dies für alle und jeden und für den Zustand der Welt, in der wir zu leben haben, so schrecklich er ist. Wenn ich Gott «Vater» nennen darf und dies mir durch Leben und Tod und Auferstehung Jesu Christi möglich wurde, dann ist er der Vater unser aller – übrigens nicht nur der Menschen, als seiner Geschöpfe, sondern der ganzen unerlösten Kreatur. Des klaren Wassers, der sauberen Luft, der unvergifteten Pflanzen, der nicht gequälten Tiere, unserer stummen Gefährten.
Dies alles meine ich, wenn ich bete: «Vater unser». Ich kann es nur meinen, weil der Sohn der Maria es so gemeint hat. Er führt uns dann durch die Bitten, die wir sprechen sollen und die die ganze Welt umschließen, die große und die kleine, und seinen Himmel und seine Erde. Aber er läßt sie uns sprechen – welches tägliche Wunder – so wie die Kinder mit ihrem Vater sprechen und der Vater mit seinen Kindern spricht, wenn er und sie dem einen begegnen, der keinen irdischen Vater gehabt haben soll, und der der Sohn Gottes war, Jesus Christus.
HEINRICH ALBERTZ
1915 in Breslau geboren. Studium der Theologie in Breslau, Halle und Berlin, zuletzt an den verbotenen kirchlichen Hochschulen der Bekennenden Kirche. Vikar und Pastor in Schlesien, mehrere Male verhaftet, Soldat. Nach 1945 Flüchtlingspastor in Celle. 1948-1955 Minister in Niedersachsen. 1955-1967 Mitglied des Senats von Berlin, Bürgermeister. 1968-1979 wieder Pfarrer in Berlin. Veröffentlichungen: Dagegen gelebt (Rowohlt-Verlag, 1975); Dieseits von Eden (Radius-Verlag, 1979); Störung erwünscht (Radius-Verlag, 1980); und eine Fülle von Aufsätzen in Zeitschriften und Sammelbänden. Anschrift: Rolandstraße 6 B, D-1000 Berlin 38.
Concilium 17 (1981), S. 264f.