Briefwechsel zwischen Kornelis Heiko Miskotte und Karl Barth zum Unvermögen des Predigens
8. April 1929
Hochverehrter Herr Professor
Ich muß Sie belästigen und stören in Ihrer emsigen Arbeit – mit etwas ganz Persönlichem. Gestern abend ist mir im Gottesdienst etwas passiert, das mir selbst und den Andern unerhört vorkommt. Ich wollte gerade zu predigen anfangen über die 44. Frage des Heidelberger Catechismus – und da kam eine solche Erschlaffung und Geistlosigkeit über mich, daß ich nicht weiter konnte und der Gemeinde sagte, daß ich nicht predigen konnte, daß wir beten würden und singen und dann nach Hause gehen. Die Spannungen, unter welchen ich die letzten Jahre in dieser halb methodistischen, halb liberalen Gemeinde lebte, brachten eine plötzliche Entgleisung, welche niemand begreifen konnte; ich habe wenigstens nicht viel anderes gehört als: «es ist eine Schande» – «er sollte nicht tun als ob», «ist das Aufbauen?» – Die äußerste Entfremdung zwischen der Gemeinde und der Sache (Anfechtung) fiel mir aufs Herz – ich war plötzlich ohne Kontakt mit den Menschen und ohne Kontakt nach oben, in einer furchtbaren Leere, wo jedes Wort und jede Gebärde mir sinnlos schien – es war nur ein Moment, aber ein warnender – Ach, warum schreibe ich an Barth – was hat er mit dieser Sache zu tun? Das ist es eben, er hat sehr viel mit diesen Spannungen zu tun und ich brauche das nicht weiter anzudeuten. –
Ich schreibe, um, so möglich, Trost zu erlangen – und um Ihre Einsicht zu hören über die Frage: ob solches Geschehen nicht die Konsequenz haben muß, daß ich aus dem Amt trete. Voriges Jahr haben wir auch über diese Sache gesprochen, und Sie waren bemüht, mich auf den Gehorsam zu verweisen – Aber kann es nicht auch Gehorsam sein, zu brechen mit dem Beruf, um die Berufung anderswo und auf andere Weise festzuhalten? Das Bleiben ist fleischlich einfacher, auch ruhiger – aber es ist für das Herz ganz trostlos. Sollte Gott uns verbieten, wo möglich, die unfruchtbaren Qualen und sinnlosen Bemühungen zu fliehen? Sollte er unsere menschliche Einsicht in was «unfruchtbar» und «sinnlos» heißt, verwerfen und uns binden an unseren ersten Ort und Arbeitsform, weil wir uns dort überhoben haben und von Berufung gesprochen haben, wo keine (?) war –?
Entscheidungen fallen doch in der konkreten Situation – und die Struktur der Realität spricht ein Wort mit – und da ist dann zu sehen, wie einer meiner Kollegen, der die Remonstranten[1], die wohlhabend sind, auf der Kanzel «Kälber» nennt, «gemästet für die ewige Schlachtung», geradezu applaudiert wird – (man fühlt es im ganzen Raum der Kirche) – und wie ein anderer, seit er Vorsitzender wurde von dem «Bund gegen die Revolution»!, seine Kirche allmählich besser gefüllt sieht. Dies nur zum Beispiel, daß mein Sein hier nur verwirrend wirken kann, eine Verwirrung, worauf man nur reagiert mit einer stets ungebrochenen Positivität und Aktivität.
Ach, bitte sagen Sie mir auch, was Sie von diesem Fall des Unvermögens zum Sprechen halten, ob es öfter vorkommt, und welche Konsequenzen andere Pfarrer in dieser Situation gezogen haben ist es wahr, daß «ein gleiches Leiden vollbracht wird an den Brüdern, die in der Welt sind»[2] – ??
Ganz unzulänglich kommen mir diese Worte und Ausdrücke vor – aber ich schicke sie dennoch fort wie sie sind, in Vertrauen auf Ihr Verständnis und die existentielle Verbundenheit im Leiden –
Hochachtungsvoll
Heiko Miskotte, Meppel –
Oberrieden, 21. April 1929
Kanton Zürich
Lieber Herr Pfarrer,
Sie haben lange auf Antwort warten müssen, weil Ihr Brief mich gerade in dem Augenblick erreichte, als ich im Begriff stand, nach der Schweiz zu verreisen, wo ich nun – ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, daß ich einen Studien-Urlaub erhalten habe – den ganzen Sommer zubringen werde.
Ich denke, daß Sie sich unterdessen bereits selber die allein mögliche Antwort auf Ihre Frage gegeben haben werden. Es ist ganz klar, daß das, was Sie an jenem Sonntag in der Kirche erlebt haben, nicht etwas Besonderes war, sondern eben das Besondere, das als Mysterium iniquitatis nostrae schließlich immer hinter uns steht, wenn wir es wagen, als Theologen den Mund aufzutun. Wer müßte sich in dieser Lage nicht sagen, daß er besser täte, den Finger auf den Mund zu legen und sich zu sagen, daß er zum Reden ja doch nicht berufen und befähigt ist? Wer kann es wagen, anders Theologe zu sein als gegen alles das, was er von sich selber weiß? Und wie sollte es anders sein, als daß dieser Widerspruch immer wieder in mehr oder weniger deutlichen Erlebnissen von der Art des Ihrigen zum Ausbruch kommt? Aber Sie wissen ja, daß die ganze Kirche Christi in diesem Widerspruch ihren Bestand hat. Wenn Sie seinetwegen Ihr Amt aufgeben müßten, so müßte ich es wahrhaftig auch tun. Aber würden wir nicht dann gerade unserer wirklichen Berufung untreu sein, die uns in diesen Widerspruch hineinstellt, so daß wir, wenn wir ihm entfliehen wollten, ungehorsam werden müßten? Ich weiß Ihnen nichts Anderes zu sagen – Sie selber werden es sich seither schon gesagt haben – als: weitergehen! Magnus quidem est, qui dat, deinde magna dat volens et simpliciter, ac nemini exprobat, sed tua capacitas difficilis et fides infirma est, faciens tibi luctam, ut oblatum donum non possis accipere. Sed remurmuret sane conscientia, et recurrat subinde (hoc oportet), tamen tu tantisper perdura et consiste, donec illud oportet vincas.[3]
Mit herzlichem Gruß für diesmal
Karl Barth
Quelle: Hinrich Stoevesandt (Hrsg.), Karl Barth – Kornelis Heiko Miskotte. Briefwechsel 1924–1968, Zürich: TVZ, 1991, S. 21-23.
[1] Eine Glaubensgemeinschaft, die sich auf Grund von Differenzen in der Prädestinationslehre im frühen 17. Jahrhundert von der Niederländischen Reformierten Kirche getrennt hatte und im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss des Modernismus zu neuer Blüte gelangt war.
[2] 1.Petr. 5,9.
[3] „Groß ist, der da schenkt, und er gibt willig und in Schlichtheit große Gaben und macht niemandem Vorwurf, aber deine Fassungskraft macht Schwierigkeiten und dein schwacher Glaube wirft dich in den Kampf, so dass du die angebotenen Gaben nicht empfangen kannst. Aber lass das Gewissen immerhin murren und mag jenes ‚man muss‘ immer wiederkehren, halte du nur ein wenig aus und harre, bis du dieses ‚man muss‘ überwinden wirst.“ Martin Luther, Auslegung des Galaterbriefes (Vorlesung von 1531) zu Gal 3,2 (WA 40/I, 346,16-22).
Lieber Jochen, ganz besonderen DAnk dafür, dass Du Miskotte weiter
verfolgst. Dieser Briefwechsel ist super spannend. Bei meiner
derzeitigen Lektüre zu geschichtstheologischen Fragen, die sich
insbesondere aus der AT-Exegese von von Rad u.a. ergeben, bin ich auf
den wirklich provokanten Aufsatz von Pannenberg gestoßen, den er zu von
Rad’s Ehren gehalten hat: „Glaube und Wirklichkeit im Denken GErhard von
Rads“ (in: Gerhard von Rad. Seine Bedeutung für die Theoloige. Drei
Reden, 1973). Die theologisch völlig ungelöse Dramatik spiegelt sich
darin, von Rad hat sie stehen lassen müssen (siehe Schlußbemerkung in
„Weisheit Israel“) Pannenberg, glaubt sie auffangen zu können – um den
Preis des Verlustes schließlich jeder „wirklichen“ Geschichtstheologie.
Dass die Theologie das so hat stehen lassen, bleibt mir unbegreiflich.
Miskotte hilft auch dagegen.
Herzlichen Gruß
Hans