Wolfgang Huber, Die Grenzen des Staats und die Pflicht zum Ungehorsam (1983): „Ziviler Ungehorsam wird missbraucht, wenn er zum Mittel der Selbstdarstellung gemacht wird. Die Absicht, die Reinheit des eigenen Gewissens und der eigenen Gesin­nung darzustellen, steht zum Wesen des zivilen Ungehor­sams in einem unaufhebbaren Widerspruch.“

Die Grenzen des Staats und die Pflicht zum Ungehorsam (1983)

Von Wolfgang Huber

I

Seit es politische Ethik gibt, arbeitet sie mit der fundamentalen Unterscheidung zwischen dem, was als Aufgabe der po­litischen Gemeinschaft anzuerkennen ist, und dem, was ihrer Verfügungsgewalt entzogen bleiben muß. Die Anerkennung der Aufgaben der politischen Gewalt und die Feststellung ihrer Grenzen sind in der politischen Ethik gleichursprüng­lich. Die Einsicht, daß um des gemeinsamen Lebens willen politische Herrschaft nötig ist, trägt die Folgerung in sich, daß politische Herrschaft nur als begrenzte ihre Aufgaben erfüllt. In diesem Fluchtpunkt trifft sich die politische Ethik, die auf die Griechen zurückgeht, mit der christlichen Tradi­tion.

Der unausweichliche Konflikt des einzelnen mit einer po­litischen Gewalt, die ihre Grenzen überschreitet, begegnet in der griechischen Tradition exemplarisch in der Gestalt der Antigone, die dem Gesetz des Kreon die ungeschriebenen Satzungen des Himmels entgegenstellt und ihren Bruder un­ter Einsatz ihres Lebens bestattet. Platons Apologie gibt die­ser Differenz einen zugespitzten Ausdruck; Sokrates hält seinen Richtern entgegen: »Ich werde dem Gott mehr gehor­chen als euch.«[1]

Hier schon markiert der Gottesbegriff die Grenze, inner­halb deren die Loyalität gegenüber der politischen Gewalt allein einen verantwortbaren Sinn hat.

Was bei Sokrates die Form einer persönlichen Aussage hat, wird im Neuen Testament in die Gestalt einer allgemeinen Regel gekleidet. Die clausula Petri formuliert als allgemeinen Satz, nicht etwa nur als persönliches Bekenntnis: »Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.« (Apostelgeschichte 5,29) Damit bringt sie dieselbe Grenzbestimmung zum Ausdruck, die auch in dem berühmten Zinsgroschenwort Jesu begegnet: »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.« (Matthäus 22,21.)

Das Neue Testament ist nicht deshalb ein so aufregendes Buch, weil es der Entmythologisierung bedarf, sondern weil es selbst eine große Entmythologisierung vollzieht: so auch die Entmythologisierung irdischer Herrschaft und ihrer ideologischen Verbrämung. In dieser Entmythologisierung besteht eine wichtige politische Wirkung der Bergpredigt: Der Fixierung auf Feindschaft stellt sie die Einladung zur Feindesliebe, der Fixierung auf Gewalt die Einladung zum Gewaltverzicht, der Fixierung auf Sicherheit das Lob des ungesicherten Lebens entgegen. In einer Zeit, in der politi­scher Herrschaft religiöse Qualität zuerkannt und der römi­sche Kaiser als Gott verehrt wurde, waren das revolutionäre Töne. Die Beseitigung politischer Herrschaft ergab sich aus ihnen nicht, wohl aber ein unüberhörbarer Hinweis auf de­ren begrenzte Aufgaben: auf die Aufgabe vor allem, das Böse in Schranken zu halten. Nur von dieser begrenzten Aufgabe redet auch das 13. Kapitel des Römerbriefs.

Dieses Kapitel wurde in der Geschichte des Christentums häufig, ja allzu häufig nur als allgemeine Aufforderung zum Gehorsam gegenüber jeder politischen Obrigkeit verstan­den. Trotzdem blieb die Erinnerung erhalten, daß der staat­lichen Macht Grenzen gesetzt sind, deren Überschreitung eine Pflicht zum Ungehorsam auslöst.

Auch eine so konsequent am Gedanken der Ordnung orientierte Theologie wie das große Werk des Thomas von Aquin enthält diese Einsicht: »Der Mensch braucht mensch­lichen Machthabern nur soweit zu folgen, als es die Ordnung der Gerechtigkeit fordert. Wenn sie deswegen keine recht­mäßige, sondern nur eine angemaßte Gewalt besitzen oder wenn sie Ungerechtes befehlen, dann sind die Untertanen nicht verpflichtet, ihnen zu gehorchen, es sei denn vielleicht zufällig, um Ärgernis oder eine Gefahr zu vermeiden.«[2] Be­merkenswert ist dieser Satz unter anderem deshalb, weil er zwei Anlässe des Ungehorsams voneinander unterscheidet: nämlich den Fall der unrechtmäßigen, angemaßten Gewalt, also der illigetima potestas einerseits, und den Fall eines rechtswidrigen Befehls einer an sich legitimen Obrigkeit an­dererseits. Schon Thomas von Aquin unterscheidet also der Sache nach zwischen dem Widerstand im strikten Sinn, der sich gegen eine tyrannische Herrschaft als solche richtet, und dem Widerstehen gegen illegitime Einzelmaßnahmen, das wir heute als Weigerung aus Gewissensgründen einerseits, als zivilen Ungehorsam andererseits bezeichnen.

Martin Luther, der bis heute als Vertreter eines typisch deutschen und das heißt sehr gründlichen Obrigkeitsgehor­sams gilt, hat in Wahrheit an diese Tradition angeknüpft. Er bereits hat die staatliche Gewalt an elementare Grundrechte gebunden gesehen und ihr den Respekt vor der Glaubens- und Gewissensfreiheit abverlangt. Wo sie diese Grenzen überschreitet, ist die Verweigerung des Gehorsams am Platz. Um Ungehorsam im strengen Sinn handelt es sich dabei je­doch nicht. Denn: »es ist nicht Aufruhr oder Ungehorsam, wenn ich in jenen Dingen nicht gehorche, über welche dem Kaiser kein Recht zusteht.«[3] Eines der konkreten Beispiele Luthers ist die Weigerung gegenüber dem staatlichen Befehl, reformatorische Schriften auszuliefern. Diese Weigerung ist, um einen modernen Begriff aufzunehmen, nur ein »prima-facie-Ungehorsam«, der durch die unaufhebbare Freiheit des Gewissens gedeckt ist. Ein anderes Beispiel ist die Pflicht, die Gefolgschaft in einem ungerechten Krieg zu verweigern. In der Warnung an seine lieben Deutschen fordert Luther die christlichen Soldaten für den Fall eines Kriegs der Kaiserli­chen gegen die Evangelischen auf, den Kaiser auf dem Feld allein stehen zu lassen und keine Hand für ihn zu rühren. Der Satz »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin« kann in diesem Sinn als ein Satz reformatorischer Ethik gel­ten. Im Luthertum des landesherrlichen Kirchenregiments freilich wurde diese Linie im Denken des Reformators un­terdrückt. Deutlicher blieb in der calvinistischen Tradition das Bewußtsein erhalten, daß der Widerstand gegen den Ty­rannen ein gutes, dem Dekalog entsprechendes Werk und deshalb sittliche Pflicht des Christen ist.

Gewiß: in der Geschichte des Christentums ist die Anpas­sung wirkungsmächtiger als die Kritik; über die kirchliche Erziehung zum Gehorsam läßt sich mehr berichten als über die Bereitschaft zum Widerstand. Doch das hat seinen Grund nicht in der theologischen Lehre, sondern in den Be­standsinteressen der Kirche als Organisation. Und vollstän­dig unterdrücken ließ sich die normativ-kritische Linie nie, die in der clausula Petri ihren zusammenfassenden Ausdruck und ihren immer wieder erneuerten Anknüpfungspunkt hat. Deshalb ist es nicht ohne Zusammenhang mit der christli­chen Tradition, wenn auch in der neuzeitlichen politischen Theorie die Verantwortung des Bürgers immer unter einer doppelten Perspektive betrachtet wird: als Pflicht zum Ge­horsam gegenüber dem Rechtsgesetz einerseits; andererseits aber als die Pflicht zur selbständigen Prüfung des Gesetzes und gegebenenfalls zur Resistenz gegen Maßnahmen, die nicht als allgemeines Gesetz gelten können. Diese doppelte Bestimmung politischer Verantwortung ist eine notwendige Folge aus dem Begriff der Aufklärung, wie etwa Kant ihn formulierte. Anselm Feuerbach hat aus dieser doppelten Be­stimmung politischer Verantwortung ein Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn abgeleitet, wenn dieser die Grenzen der höchsten Gewalt überschreitet.[4] Doch prak­tisch-politisch hat sich dieser Ansatz in Deutschland kaum durchgesetzt; Theorie und Praxis des zivilen Ungehorsams wurden andernorts entwickelt. Man hätte wohl früher damit beginnen müssen, darin ein Defizit der deutschen politischen Kultur zu erkennen.

II

Der staatlichen Gewalt sind Grenzen gesetzt, jenseits deren sie auf Gehorsam keinen Anspruch erheben kann. Darüber, wie diese Grenzen zu definieren sind, ist mit einer solchen These noch nichts gesagt. Diese Grenzen sind immer um­stritten; eindeutig wird oft erst im nachhinein festgestellt, daß sie überschritten wurden. Wir Deutschen haben mit sol­chen nachträglichen Einsichten unsere eigenen Erfahrun­gen.

Man kann für die Frage nach den Grenzen des Staats nicht einfach auf das individuelle Gewissen verweisen. Zwar stimmt es: ziviler Ungehorsam ist nur aufgrund persönlicher Gewissensentscheidung vertretbar. Doch auch das Gewissen bildet sich in der Kommunikation; auch Gewissensentschei­dungen sind Ergebnisse von Verständigungsprozessen, in denen Gründe geltend gemacht werden. Erörtert wird die Frage nach den Grenzen des Staats in der europäischen Tra­dition über lange Zeiten unter dem Thema des Naturrechts. So abstrakt diese Frage in Philosophie und Theologie oft verhandelt wird – ihre Notwendigkeit entspringt der unmit­telbaren politischen Erfahrung: wo Menschen ihres Lebens beraubt oder in ihrer Gewissensfreiheit eingeschnürt werden, wo elementare Gerechtigkeitsstandards mit Füßen getre­ten werden oder der Staat seine Pflicht zum Frieden verletzt, überall dort geschieht etwas, was durch kein positiviertes Recht gedeckt werden kann. Die Umformung dieser nega­tiven Erfahrungen in positive Rechtsaussagen bleibt indes schwierig und umstritten. Der Vorstellung, sie sei in der Ge­stalt zeitloser naturrechtlicher Sätze möglich, hängen heute wohl nur noch wenige an. Doch die neuzeitliche politische Entwicklung läßt sich als der Versuch verstehen, Grenzbe­stimmungen, denen die staatliche Gewalt unterworfen wer­den muß, selbst zu positivieren. Der neuzeitliche Verfas­sungsstaat kann als der Versuch verstanden werden, die Grenzen des Staats zum Thema des positiven Verfassungs­rechts zu machen. Damit hat der Verfassungsstaat sich auf eine Konzeption festgelegt, nach der Recht und Moral nicht beziehungslos nebeneinanderstehen, sondern bei bleibender Unterschiedenheit aufeinander bezogen sind. Die Men­schenrechts- und Grundrechtskataloge beschreiben die Grenze, die staatliche Rechtssetzung und Rechtsanwendung beobachten müssen, wenn Recht und Moral nicht zueinan­der in Widerspruch treten sollen. Mit ihrem Verweis auf die Würde des Menschen stellen sie klar, daß kein Staat den An­spruch darauf erheben darf, selbst zu definieren, was den Menschen zum Menschen macht; Glaubens- und Gewis­sensfreiheit, Meinungs- und Versammlungsfreiheit sind dar­aus die notwendige Konsequenz. Mit der Anerkennung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit verpflich­ten sie den Staat darauf, alle Schädigung menschlichen Le­bens zu unterlassen und sein Handeln an der Aufgabe der Lebenserhaltung auszurichten. Die Orientierung an den Grenzen des Staats trägt also ihrerseits dazu bei, die Aufga­ben des Staats präziser zu erfassen. Und aus ihr ergeben sich deshalb auch die Grundbestimmungen der staatlichen Ver­fassung selbst. Im Sinn des Bonner Grundgesetzes kann man die Folgen, die sich aus der Begründung der Staatsverfassung in den Menschenrechten ergeben, an vier Begriffen verdeut­lichen: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Friedensstaatlichkeit.

Das Gebot der Friedensstaatlichkeit ist der sachliche Grund dafür, warum das Bonner Grund­gesetz sowohl die staatliche Gewalt als auch den einzelnen Bürger nicht nur an die Grundrechte, sondern auch an die allgemeinen Grund­sätze des Völkerrechts bindet (Art. 25 GG). Diese verfas­sungsrechtliche Verpflichtung ist für kaum ein Thema von höherer Bedeutung als für die Auseinandersetzung über ver­tretbare und unvertretbare Wege militärischer Sicherheitspo­litik. Das Völkerrecht hat den Versuch unternommen, die militärische Gewaltanwendung zwischen Staaten, wo sie als unausweichlich erscheint, an menschenrechtliche Minimal­standards zu binden. Zu diesen Minimalstandards gehört die Unterscheidung zwischen militärischen Zielen und Kombat­tanten, die »Objekt von Schädigungshandlungen« sein dür­fen, und zivilen Objekten und Zivilpersonen, die rechtlich geschützt sind. Der Widerspruch zwischen diesem völker­rechtlichen Grundsatz und den in Ost und West herrschen­den Verteidigungsdoktrinen ist offenkundig. Denn der Ein­satz nuklearer Massenvernichtungsmittel wäre mit diesem Grundsatz unvereinbar; nicht nur auf deren Einsatz, son­dern sogar auf deren Ersteinsatz beruht aber die Strategie der NATO. Statt sich einfach an diesen völkerrechtswidrigen Zustand zu gewöhnen, muß man sich klarmachen: Verant­wortlich für einen derartigen Völkerrechtsbruch wäre nicht nur der Staat, in dessen Verfügungsgewalt solche Waffen ste­hen – also etwa die USA, sondern auch der Staat, von dessen Boden aus solche Waffen eingesetzt werden – also etwa die Bundesrepublik Deutschland, insbesondere wenn sie zum Stationierungsland von Pershing II und Cruise Mis­siles wird. Hat man sich dieses verdeutlicht, so gewinnt die Mitwirkung jeder Regierung an den Stationierungsentschei­dungen über Nuklearwaffen oder andere Massenvernich­tungsmittel noch einmal zusätzliches Gewicht. Nimmt man diese völkerrechtliche Überlegung ernst, so heißt die Konse­quenz: keine Zustimmung der Bundesregierung zur Statio­nierung neuer Mittelstreckenraketen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland.[5] Die Folgerung für den Bür­ger, der sich durch Art. 25 GG unmittelbar an die Grund­sätze des Völkerrechts gebunden weiß, wird im Fall einer solchen Zustimmung nur darin bestehen können, daß er de­ren Vollzug aufzuhalten sucht und auf die Revision dieser Entscheidung drängt. Gewiß: dieser Gegensatz zwischen Militärstrategie und Völkerrecht ist nicht einfach ein Pro­blem der deutschen Politik, sondern ein Kennzeichen der gesamten internationalen Situation, der waffentechnischen und strategischen Entwicklung, auch der derzeit offenkundi­gen amerikanischen Politik, die die Abschreckung durch die Entwicklung nuklearer Kriegsführungsoptionen zu sichern versucht. Aber jede Regierung, auch die deutsche, ist im Rahmen ihrer Verantwortung zur Entschärfung dieses Kon­flikts verpflichtet. Die Stationierung von Nuklearwaffen auf deutschem Boden gehört in die Verantwortung der deut­schen Regierung.

Man kann den Konflikt zwischen völkerrechtlichen Nor­men und politischem Handeln, der an dieser Frage aufbricht, nur scheinbar dadurch entschärfen, daß man zwischen der Drohung mit Massenvernichtungsmitteln und deren Einsatz unterscheidet. Denn eine Drohung ist nur glaubwürdig, wenn man auch einzusetzen bereit ist, womit man droht. Wer droht, muß die Verantwortbarkeit der Handlung prü­fen, mit der er droht. Man kann sich dem Dilemma der Atomwaffen nicht dadurch entwinden, daß man erklärt, hier handele es sich »eigentlich« nicht um militärische, sondern um politische Waffen. Jene Trennung wäre ethisch und rechtlich vielmehr allenfalls dann zu vertreten, wenn man mit Sicherheit verbürgen könnte, daß die Drohung den Ein­satz ausschließt, daß also das System der Abschreckung auf Dauer ein zuverlässiges Instrument der Kriegsverhütung ist. Daß dies unmöglich ist, weiß jeder; auch Militärexperten geben zu, daß das Abschreckungssystem allenfalls auf Zeit funktioniert – wie lange, weiß niemand. Daß es versagt, wird durch die nächsten Schritte des Wettrüstens noch wahr­scheinlicher. Doch unabhängig davon, für wie hoch man diese Wahrscheinlichkeit hält, muß man die These vom nicht militärischen, sondern »nur« politischen Charakter der Atomwaffen für eine Irreführung halten; nicht nur ihr Ein­satz, sondern auch die Drohung mit ihnen kann ethisch und völkerrechtlich nicht legitimiert werden. Das ist der Hinter­grund für die Erklärung, mit der der Ökumenische Rat der Kirchen bei seiner Vollversammlung in Vancouver (August 1983) Aufsehen erregt hat: »Das Konzept der Abschreckung, dessen Glaubwürdigkeit von dem möglichen Einsatz von Atomwaffen abhängt, ist aus moralischen Gründen ab­zulehnen; [abzulehnen ist es auch], weil es ungeeignet dazu ist, Frieden und Sicherheit langfristig zu wahren; die Her­stellung und Stationierung von Kernwaffen sowie deren Ein­satz sind ein Verbrechen gegen die Menschheit, deshalb soll­ten die Herstellung von Kernwaffen sowie die Rüstungs­forschung und -entwicklung in allen Ländern vollkommen eingestellt und dieser Stopp so bald als möglich durch ein Abkommen durchgesetzt werden.«[6] Die Schärfe, mit der hier die Lebensfeindlichkeit der Rüstung mit Massenver­nichtungsmitteln gebrandmarkt wird, erscheint als schockie­rend; und bedrückend ist der tiefe Graben, der die vom Ökumenischen Rat der Kirchen erhobenen Forderungen von der heutigen politischen Realität trennt. Wer den Wider­spruch zwischen der herrschenden Form militärischer Sicherheitspolitik und elementaren völkerrechtlichen Stan­dards mit solcher Massivität wahrnimmt, muß in der Weiter­rüstung mit Massenvernichtungsmitteln eine Handlungs­weise sehen, mit der der Staat die ihm gesetzten Grenzen überschreitet.

Ich habe bisher erläutert, inwiefern die Menschenrechte und Grundrechte einerseits, die elementaren Grundsätze des Völkerrechts andererseits Grenzen des Staates markieren, jenseits deren die Pflicht zur Loyalität gegenüber staatlichen Entscheidungen ein Ende findet. Ein weiterer und in unserer heutigen Situation entscheidender Gesichtspunkt tritt hinzu: Der Staat überschreitet die ihm gesetzte Grenze, wenn er Entscheidungen zuläßt oder trifft, in deren Folge irreversible Eingriffe in die Lebensmöglichkeiten künftiger Generatio­nen vorgenommen und deren Lebenschancen in unaufhebbarer Weise beeinträchtigt werden. Großtechnische Anlagen im Bereich der Kernenergie, die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durch industrielle Vernutzung, die Zerstörung der Biosphäre durch Umweltschäden und schließlich die Aufhäufung militärischer Vernichtungspotentiale in für frü­here Generationen unvorstellbarem Ausmaß sind die deut­lichsten Beispiele für diesen Typ von Entscheidungen. Ihnen gegenüber muß aber gelten: Das Interesse der jetzt lebenden Generationen an der Steigerung ihrer Lebensbedingungen kann keine Rechtfertigung dafür abgeben, die Lebenschancen künftiger Generationen zu mindern. Deshalb muß auch und gerade in staatlichen Entscheidungen dem ökologischen Erhaltungsinteresse der Vorrang vor dem ökonomischen Steigerungsinteresse zuerkannt werden. Wo dieser Vorrang verletzt wird, kann der Beitrag der politischen Ethik nicht in Vorschlägen bestehen, wie man die Entscheidungsverfahren verbessern und die Akzeptanzchancen für derartige Ent­scheidungen erhöhen kann. Aufgabe der politischen Ethik wird es vielmehr sein, auf die Grenzen des Staats hinzuwei­sen und dafür einzutreten, daß derartige Entscheidungen zu­gleich unmöglich und unnötig werden.

Wenn also mit guten Gründen behauptet werden kann, daß durch staatliche Entscheidungen schwere Gefahren für künftiges Leben heraufbeschworen werden, wenn nicht ein­deutig nachgewiesen werden kann, daß diese staatlichen Maßnahmen unumgänglich sind, um weit größere Gefahren zu vermeiden, und wenn die Opposition dagegen anders kein angemessenes Gehör findet, dann ist ziviler Ungehor­sam gegenüber solchen Entscheidungen ethisch berechtigt. Denn wo immer mit einer Entscheidung die Gefahr schwerer Lebensschädigung verbunden ist, muß die alte moraltheolo­gische Regel gelten, eine Handlung sei dann unerlaubt, wenn ein gewichtiges und unwiderlegtes Argument gegen seine Erlaubtheit spricht (die These des sogenannten »Tutiorismus«).[7] Die Frage nach den Grenzen der Loyalität gegen­über staatlichen Entscheidungen stellt sich also nicht nur bei direkten und beharrlichen Eingriffen in die Menschenrechte der jetzt lebenden Generation, wie der Rassendiskriminie­rung in der südafrikanischen Apartheidspolitik oder der Ver­letzung der Glaubens- und Meinungsfreiheit durch die Re­gierung der Sowjetunion; sondern diese Frage stellt sich in anderer Form auch, wenn ein Staat, gleichgültig gegenüber den widersprechenden Argumenten, Maßnahmen ergreift, durch die künftiges Leben schweren oder gar unabsehbaren Gefahren ausgesetzt wird. Die Aufkündigung der Loyalität gegenüber solchen Entscheidungen geschieht dann aber ge­rade auf der Grundlage der bleibenden Loyalität gegenüber dem Staat, dem politisch verfaßten Gemeinwesen selbst; denn die Erhaltung dieses Gemeinwesens ist das Ziel des Protests gegenüber Entscheidungen, deren Vollzug das Überleben bedroht. In solchen Fällen kann also in der Tat, wie Erich Küchenhoff formuliert hat, ziviler Ungehorsam eine Form des aktiven Verfassungsschutzes sein.[8]

III

Eine politische Ethik, die die jüdisch-christliche Tradition nicht verdrängt, kann die Frage nach den Aufgaben des Staa­tes und nach seiner politischen Form von der Frage nach seinen Grenzen nicht trennen. Unter den Bedingungen der Neuzeit gerät sie in einen unausweichlichen Konflikt mit dem hobbesianischen Typ politischer Ethik, der die Frage nach den Grenzen des Staates gerade nicht mehr aufkommen läßt. Hobbes hat, nicht zuletzt unter dem Eindruck, daß Menschen sich aus Gründen der religiösen Überzeugung bis aufs Blut bekriegen können, die These von der ungeselligen Grundverfassung des Menschen entwickelt, der nur mit ei­ner äußerlichen Zwangsordnung gewehrt werden kann. Um diese gegen den kritischen Aufruhr des individuellen Gewis­sens zu immunisieren, mußte er die Möglichkeit ausschalten, daß der Gottesgehorsam gegen den dem Staat geschuldeten Gehorsam ausgespielt wurde. Das gelang ihm mit der These, im christlichen Staat könne zwischen beidem nie ein Kon­flikt entstehen; die clausula Petri sei in ihm gegenstandslos. Dabei definierte er den christlichen Staat als den Staat, der die Predigt der christlichen Fundamentallehren zuläßt; sie reduzieren Sich für Hobbes auf den einen Satz: »Jesus der Christus.« In diesem unexplizierten Bekenntnis als solchem freilich kann nie ein Anhalt dafür gefunden werden, daß der einzelne seine Gewissensbindung gegen die staatliche Auto­rität zur Geltung bringt. Die Folgerung heißt: »Eine Schwie­rigkeit, Gott und den Menschen zu gehorchen, ist in einem christlichen Staat gar nicht vorhanden.«[9] Durchhalten läßt sich diese These freilich nur auf der Grundlage einer konse­quenten Verstaatlichung des Gewissens; als Grundübel muß die Meinung gelten, daß jeder einzelne zum Urteil über Gut und Böse berechtigt sei. Dem hält Hobbes entgegen: »Das Gesetz ist das öffentliche Gewissen.«[10] In der Konsequenz dieser Argumentation liegt es, daß die Gehorsamsforderung des Staates ausschließlich in der Legalität des Gesetzes be­gründet ist; die Spannung zwischen Legalität und Legitimität – das Grundthema der alten naturrechtlichen wie der neue­ren menschenrechtlichen Tradition – wird auf diese Weise eliminiert.

Wie an manchem anderen, so kann man auch an diesem Thema den Hobbesianismus einer heute verbreiteten politi­schen Denkweise studieren. Er zeigt sich darin, daß gerade in den großen politischen Konfliktfragen der Hinweis auf die Legalität des Verfahrens an die Stelle einer inhaltlichen Legi­timation rückt. Das Faktum einer Mehrheitsentscheidung soll – in grotesken Fällen wie dem der »Nachrüstung« oder der Frankfurter Startbahn West sogar dann, wenn es eine solche Mehrheitsentscheidung in der Form des Gesetzes gar nicht gibt – den inhaltlichen Zweifel an der Legitimität dieser Entscheidung ausräumen. Dabei wird freilich verkannt, daß das Verfahren der demokratischen Mehrheitsentscheidung ursprünglich seine Plausibilität von daher bezog, daß man dem öffentlichen Diskurs das Zutrauen entgegenbrachte, aus ihm werde sich die jeweils bestmögliche Entscheidung erge­ben. Das demokratische Verfahren ist also von seinem Ur­sprung her ein Verfahren zur Ermittlung und Vermittlung inhaltlicher Legitimität. Nun dagegen soll die Berufung auf dieses Verfahren dazu dienen, Entscheidungen, die häufig allein macht- und interessenpolitisch durchgesetzt sind, ge­gen die Rückfrage nach ihrer Legitimität zu immunisieren. Zugleich und in unlöslichem Zusammenhang damit wird der Vorrang der Grundrechte vor den Verfahrensregeln der Verfassung eingeebnet; die Grundrechte werden damit im Ergebnis staatlich funktionalisiert. Für die einschlägig ge­schärften Ohren des Theologen jedenfalls ist es schon ein verräterisches Indiz, wenn er Verfassungsrechtler über die »Heiligkeit« des Verfahrens in der Demokratie reden hört. Ein alter römischer Satz hat bei modernen Demokratietheo­retikern offenbar die Fassung erhalten: »Fiat procedura, pereat mundus.« So heißt es in einem bemerkenswerten Kom­mentar von Trutz Rendtorff, es sei höchste Zeit, »daß die scheinbar bloß formalen Regeln der Konsensbildung, der Mehrheitsfindung und der Gewaltenteilung in ihrem sub­stantiellen Gehalt als gleichrangig mit den wechselnden poli­tischen ›Schicksalsfragen‹ erkannt und anerkannt werden«.[11] Damit wird nun in der Tat die Pointe des neuzeitlichen Ver­fassungsstaats hobbesianisch auf den Kopf gestellt. Denn in ihm sind die Verfahren gerade deshalb, aber auch nur deshalb ein so hohes Gut, weil sie dem Schutz der Menschenrechte und der Gewährleistung des inneren wie äußeren Friedens dienen sollen. Ihre Würde ergibt sich gerade aus ihrer funk­tionalen Zuordnung zu dem, was Rendtorff als wechselnde politische »Schicksalsfragen« ironisiert. Das aber bedeutet zugleich: wenn es um den Schutz menschlichen Lebens und menschlicher Würde, um die Bewahrung des Friedens und um die Erhaltung menschenwürdiger Lebensbedingungen für künftige Generationen geht, kann niemand sein Gewis­sen mit der Auskunft salvieren, die von ihm mit guten Grün­den für verhängnisvoll gehaltene Entscheidung sei rechtens zustandegekommen. Je bedrängender die Überlebenspro­bleme werden, desto dringlicher wird auch der Abschied von Thomas Hobbes.

IV

Meine bisherigen Überlegungen, dessen bin ich mir bewußt, enthalten einen Protest gegen die Entzweiung von Recht und Moral, von Politik und Religion, die unser öffentliches Be­wußtsein weithin prägt. Martin Buber hat diese Entzweiung schon 1930 in seinen Notizen zu Gandhi sarkastisch kom­mentiert: »Man höre nur, wie der Politiker das Wort ›Ethik‹ und wie der Theologe das Wort ›Aktion‹ ausspricht. Die Politik ist unverklärt, aber mächtig; die Religion (im weite­sten Sinn, also der Überbau der geheiligten ›Werte‹) ist Ge­genstand abgestufter Weihegefühle, aber unverbindlich.«[12]

Besonders nachdrücklich hat Helmut Schmidt diese Ent­zweiung reaktiviert, indem er Max Webers Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik in ihrem Sinn interpretierte. Manche Politiker der CDU/CSU sind ihm hierin gefolgt – wohl ohne zu merken, daß sie damit dem Namen ihrer Partei jede Berechtigung entzogen. Daß Max Weber mit dieser Weise der Zitation grobes Unrecht zuge­fügt wird, will ich nur am Rand vermerken; denn gegen den Irrtum, daß er Gesinnungsethik mit Verantwortungslosig­keit und Verantwortungs­ethik mit Gesinnungslosigkeit gleichsetze, hat er sich ausdrücklich, wenn auch erfolglos zur Wehr gesetzt.[13] Nun verwahren sich zwar Politiker, die sich selbst für Verantwortungsethiker halten, natürlich ausdrück­lich und wohl mit Recht gegen den Vorwurf der Gesin­nungslosigkeit. Doch um so fester sind sie davon überzeugt, daß die von ihnen als Gesinnungsethiker Apostrophierten verantwortungslos seien.

Die Frage nach den Grenzen staatlicher Entscheidungen und der Pflicht zum Ungehorsam muß jedoch jenseits der falschen Alternative von Gesinnungs- und Verantwortungs­ethik erörtert werden. Vielmehr muß jeder, der als Regie­render oder als Regierter am Schicksal des politischen Ge­meinwesens teilnimmt, sich zwei Fragen zugleich stellen: Er muß nach den Zielen fragen, an denen politisches Handeln sich zu orientieren hat (das ist die Frage der Weberschen »Gesinnungsethik«); und er muß sich fragen, ob die einge­setzten Mittel angesichts dieser Ziele in ihren Folgen verant­wortet werden können (das ist die Frage der Weberschen »Verantwortungsethik«). Für die Praxis des zivilen Unge­horsams hat die Verbindung beider Fragen, wenn ich recht sehe, einschneidende Folgen:

Erstens: Ziviler Ungehorsam wird mißbraucht, wenn er zum Mittel der Selbstdarstellung gemacht wird. Die Absicht, die Reinheit des eigenen Gewissens und der eigenen Gesin­nung darzustellen, steht zum Wesen des zivilen Ungehor­sams in einem unaufhebbaren Widerspruch.

Zweitens: Die Entscheidung zum zivilen Ungehorsam kann sich niemand leicht machen. Denn sie ist in jedem Fall eine Belastungsprobe der Rechtsgemeinschaft mit manchmal ungewissem Ausgang. Die Erhaltung des politischen Ge­meinwesens, damit aber auch der Rechtsgemeinschaft, muß indes geradezu als Ziel des zivilen Ungehorsams angesehen werden. Wer ihn mit einer Romantik der Illegalität umgibt, raubt ihm die Glaubwürdigkeit. Ziviler Ungehorsam ist auf die Wiederherstellung der staatlichen Rechts- und Friedens­funktion gerichtet; er muß deshalb der Legalität gegenüber alles andere als gleichgültig sein. Die Mittel der gezielten Regelverletzung können für ihn nur dann in Frage kommen, wenn sich andere Formen des politischen Protests und der Demonstration als nicht ausreichend erwiesen haben.

Drittens: Ziviler Ungehorsam ist auf Überzeugung, nicht auf Überwältigung aus. Schon deshalb muß er auf jede Form der gewaltsamen Schädigung des andern verzichten. Der zi­vile Ungehorsam ist eine dramatische Form, um eine unter­drückte Frage des politischen Zusammenlebens unüberhör­bar zu machen und so einer Lösung zuzuführen. Henry Thoreaus Themen waren der Eroberungskrieg gegen Me­xiko, die Sklaverei in den amerikanischen Südstaaten und die Behandlung der Indianer; Gandhis Thema war die Selbstbe­stimmung des indischen Volkes gegenüber der englischen Kolonialmacht; Martin Luther Kings Thema waren die Bür­gerrechte der Schwarzen. Unser heutiges Thema ist die Ein­sicht, daß nicht ein waffentechnisches Ungleichgewicht, son­dern der Rüstungswettlauf als solcher weite Teile der Welt und jedenfalls Mitteleuropa dem Untergang näherbringt.

Viertens: Aus all diesen Gründen kann von zivilem Unge­horsam nur so lange die Rede sein, so lange er sich auf die Mittel gewaltfreier Aktion beschränkt. Befristete Sitzstreiks und Menschenketten oder psychischer Druck durch Fasten­aktionen müssen jedoch als gewaltfreie Aktionsformen aner­kannt werden. Auch sie als »Gewalt« zu bezeichnen, ist eine willkürliche Ausdehnung des Gewaltbegriffs und eine un­vertretbare Kriminalisierung des zivilen Ungehorsams zu­gleich. In den siebziger Jahren hat die Friedensforschung, angeregt durch Johan Galtung, eine Ausweitung des Gewalt­begriffs vorgenommen, indem sie auf Phänomene strukturel­ler Gewalt hinwies. Dem wurde mit guten Gründen entge­gengehalten, eine solche Entschränkung des Gewaltbegriffs führe in die Nacht, in der alle Katzen grau sind. Es wirkt geradezu gespenstisch, wenn nun eine solche Entgrenzung des Gewaltbegriffs nicht mehr in bezug auf die Ausübung staatlicher Herrschaft, sondern in bezug auf deren Kritik vorgenommen wird. Es bleibt nur zu hoffen, daß die Defi­nitionskompetenz für das, was Gewalt ist, nicht allein im Bundesinnenministerium liegt.

V

In Deutschland ist die Diskussion über das Recht auf zivilen Ungehorsam ausgerechnet in einem Jahr entbrannt, an des­sen Beginn die Erinnerung an die nationalsozialistische Machtübernahme stand. Die Gesellschaften für jüdisch-christliche Zusammenarbeit haben vorgeschlagen, diese Er­innerung als Aufforderung zum »Widerstehen zur rechten Zeit« zu begreifen. Auch hohe politische Würdenträger nah­men daran keinen Anstoß. Inzwischen jedoch ist die Erinne­rung an diesen Teil der deutschen Vergangenheit in Verruf geraten. Man hat den Vergleich mit dem Jahr 1933 so gedeu­tet, als werde damit das Staatswesen Bundesrepublik Deutschland mit dem Nazi-Regime auf eine Stufe gestellt. Einer solchen Parallele muß, wo sie auftaucht, widerspro­chen werden; die Friedensbewegung jedenfalls hat ihren Wi­derspruch dagegen schon dadurch deutlich gemacht, daß ihre maßgebenden Sprecher die Opposition gegen die eurostrate­gische Rüstung gerade nicht aus dem Widerstandsrecht des Art. 20, Abs. 4 GG begründen. Nicht der Widerstand gegen ein totalitäres Regime, sondern die Erhaltung des freiheitli­chen und demokratischen Rechtsstaats ist ihr Thema. Das aber schließt nicht aus, daß wir heute vor politischen Ent­scheidungen stehen, die in ihrer Dramatik und in ihrem Ge­wicht den Entscheidungen des Jahres 1933 durchaus ver­gleichbar sind. Helmut Schmidt hat eine solche Parallele schon in der großen Atomdebatte des Jahres 1958 gezogen, als er vor dem Deutschen Bundestag erklärte: »Wir sagen dem deutschen Volk in voller, ernster Überzeugung, daß der Entschluß, die beiden Teile unseres Vaterlandes mit ato­maren Bomben gegeneinander zu bewaffnen, in der Ge­schichte einmal als genauso schwerwiegend und verhängnis­voll angesehen wird, wie es damals das Ermächtigungsgesetz für Hitler war.«[14] Was 1958 galt, gilt 1983 erst recht. Denn der technische Qualitätssprung der neuen Waffensysteme macht die heute anstehenden Rüstungsentscheidungen noch verhängnisvoller, als es die von 1958 waren.

Deshalb ist es auch dann angebracht, aus geschichtlichem Versagen zu lernen, wenn man jeden Vergleich zwischen der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik und dem Nazi-Re­gime zurückweist. Die Evangelische Kirche in Deutschland jedenfalls hat aus ihrem eigenen Versagen während der na­tionalsozialistischen Herrschaft die Schlußfolgerung einer Selbstanklage gezogen: »Wir klagen uns an«, erklärte der Rat der EKD im Stuttgarter Schuldbekenntnis vom Oktober 1945, »daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt ha­ben.«[15] Eine solche Selbstanklage hat nur Sinn, wenn sie als Selbstverpflichtung gemeint ist. Selten noch war die Erwar­tung dringender als heute, daß diese Selbstverpflichtung ein­gelöst wird. Hinzuzufügen ist: zu einer erneuten nachträgli­chen Selbstanklage bliebe – »if deterrence fails« – keinem von uns die Gelegenheit.

Quelle: Peter Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1983, S. 108-126.


[1] Platon, Apol. 29 d.

[2] Thomas v. Aquin, Summa Theologica II/II q 104, a 6 ad 3.

[3] M. Luther, Weimarer Ausgabe Band 32, S. 184.

[4] A. Feuerbach, Anti-Hobbes oder über die Grenzen der höchsten Ge­walt und das Zwangsrecht der Bürger gegen den Oberherrn (1797) Neudruck 1967.

[5] Vgl. aus der aktuellen Diskussion insbesondere: W. Däubler, Statio­nierung und Grundgesetz, Hamburg 1982; D. S. Lutz, Zur Legalität und Illegalität kriegerischer Handlungen unter besonderer Berück­sichtigung des Einsatzes atomarer Massenvernichtungsmittel. Rechtsfragen des zwischenstaatlichen Gewaltverbotes (ISFH-Forschungsberichte, 28), Hamburg 1983; K. Ipsen, Völkerrechtliche Konsequenzen der Stationierung von Mittelstreckenraketen auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland, in: VDW-intern, 70, September 1983, S. 3 f.

[6] Vollständiger Wortlaut in: Der Überblick 3/1983, S. 7 ff.

[7] Siehe R. Spaemann, Technische Eingriffe in die Natur als Problem der politischen Ethik, in: D. Birnbacher (Hg.), Ökologie und Ethik, Stuttgart 1980, S. 180 ff. (205). In der Anwendung auf das Problem schwerer Lebensgefährdung und Lebensschädigung konnte die an Spaemanns Aufsatz anschließende Diskussion dessen tutioristisches Argument nicht entkräften; siehe etwa W. Kluxen, Moralische Aspekte der Energie- und Umweltfrage, in: Handbuch der christli­chen Ethik 3, Freiburg 1982, S. 379 ff.

[8] E. Küchenhoff, Ziviler Ungehorsam als aktiver Verfassungsschutz, in: Deutsche Polizei 9/1983, S. 26 ff.

[9] Th. Hobbes, The Elements of Law, c. 6, 14.

[10] Th. Hobbes, Leviathan, c. 29.

[11] T. Rendtorff, Demokratieunfähigkeit des Protestantismus?, in: Zeit­schrift für Evangelische Ethik 27, 1983, S. 253 ff. (255).

[12] M. Buber, Werke, Band 1, München/Heidelberg 1962, S. 1092.

[13] M. Weber, Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1980, S. 551, 559.

[14] Sitzung des Deutschen Bundestags am 22. März 1958 (Sten. Berichte S. 1041 B/C).

[15] K. Kupisch (Hg.), Quellen zur Geschichte des deutschen Protestan­tismus von 1945 bis zur Gegenwart, Teil 1, Hamburg 1971, S. 56.

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