Das öffentliche Gebet (Het openbaar gebed)
Von Kornelis Heiko Miskotte
Wunderbares Wort! Letzte Erinnerung vielleicht an einen theokratischen Gedanken, zumindest an den stellvertretenden Eintritt der Kirche in die Welt. Das öffentliche Gebet ist das menschliche Wort, das der Priester oder Prediger wie mit erhobenen Händen Gott darbringt. Es wird öffentlich genannt, weil es im Gottesdienst geschieht, und in der christlichen Kirche ist es von Natur aus eine öffentliche Angelegenheit. Man ist daran gewöhnt, aber man wundert sich, dass öffentlicher Gottesdienst so wenig esoterisch sein will, dass er eher Impuls genannt werden sollte. Das geht auf die Agora zurück, wo die Basilika eine Art Gebäude für städtische Belange war, für den Mann, der auf dem Marktplatz ein- und ausging, der Schatten, Kühle und die neuesten Nachrichten suchte. Auch wenn tatsächlich die Selbstentfremdung (weil Säkularismus, Entfremdung u. a. eine Selbstentfremdung ist) dieses öffentlichen Unternehmens, das nicht mehr (schuldlos oder zögerlich) wie in früheren Zeiten von der Mehrheit des Gemeinwesens genutzt wird, es bleibt charakteristisch für eine Kirche, die ihre Türen für alle öffnet. Und das „öffentliche Gebet“ wird gebetet, gemeinsam gebetet, zumindest gemeinsam gehört.
Ich denke, dass jemand, der nicht im Amt ist, sich kaum vorstellen kann, welche Qual, welche Beklommenheit es mit sich bringt, in der Gemeinde ein Gebet zu sprechen, für alle, im Namen aller. Du kannst es nicht, du fürchtest es so sehr, du kennst die Worte nicht, die Verlangen und Hingabe, Bedürfnis und Zweifel ausdrücken. Und werden sie real sein, real vor Gott? Wenn Jesus schon vom privaten Gebet sagt, dass es nicht „eine eitle Erzählung von Worten“ (Matthäus 6,7) sein soll, wie viel mehr ist das öffentliche Gebet, das (fast notwendigerweise) aufwändig und bunt, gedankenlos und ungeordnet sein muss, zu subjektiv, um repräsentativ zu sein? zu eitel, um die Stimme leidender Herzen zu sein, zu traditionell, um authentisch zu sein. Wie beleidigend für den Herrn und wie leer für die Menschen kann das sogenannte „freie Gebet“ sein. Was über Gott erzählt wird, wie aus einer Zeitung oder im Stil der Einfälle, die einer frommen Seele in den Sinn kommen, oder in einer so schönen Sprache, wie man sie in Aufsätzen von Kulturträgern findet – ich dachte, es wäre besser, jetzt nicht darauf einzugehen, auch aus Angst, dass sich eine satirische Ader einschleichen könnte, genährt durch die Erinnerung an viele Jahre und Anlässe, bei denen wir kaum mitbeten konnten, weil wir dem Pfarrer zuhörten, wie er mit klemmenden Argumenten und in einer Sprache von unverschämter Pedanterie und gottverlassener Barbarei oder Snobismus unseren lieben Gott ansprach, ach, man hörte sich so gerne reden.
Als legitime Antwort haben sich viele den Gebeten der Liturgie zugewandt, der reformierten Liturgie der Kirche. Dies wird mit einem schrecklichen Wort bezeichnet: formulierte Gebete (formuliergebeden). Wir mussten ein Gebetbuch in unserem Gesangbuch haben. Die liturgische Bewegung hat sehr viel zur Vertreibung und Reinigung des „freien Gebets“ im öffentlichen Gottesdienst beigetragen. Dafür können wir nicht genug dankbar sein. Obwohl ein Kind in der „Liturgie“, hat uns Karl Barth sua sponte in KD III/4 (also: in der Ethik als Praxis des Schöpfungsglaubens, dessen Teil mit dem Sonntag beginnt, der ein Fest der Freiheit vor Gott ist), bei der Behandlung des Gebets gesagt, dass der Pfarrer die Gebete mit noch größerem Ernst und Schärfe vorbereiten solle als seine Predigt (S. 126). Er entscheidet sich also für das freie Gebet, nicht weil er feste Formen verschmäht, sondern weil er zum einen die Arbeit am öffentlichen Gebet als eine eigene, aber „eine durchaus nicht auf den Heiligen Geist des Augenblicks abwälzende Aufgabe“ betrachtet. Andererseits könne man nicht bestreiten, „dass der Wortschatz, die Syntax und der Stil dieser theologisch gewiss substantielleren, und auch sprachlich kräftigeren Texte, auch für eine christlich lebendige Gemeinde des 20. Jahrhunderts in der Regel nur doch eine Fremdsprache geworden sind“. Das so genannte freie Gebet hat er selbst an der Strafanstalt in Basel praktiziert: „Den Gefangenen Befreiung“ (1959) und „Rufe mich an“ (1965).
Seit der Wiederbelebung des Liedes unter christlichen Troubadouren und Komödianten hat das Thema jedoch eine neue Wendung genommen. Die Lieder sind nach einem neuen Vorbild, einem Sprachbeispiel, gestaltet, nämlich dem, was eigentlich alle moderne Poesie auszeichnet: die Konkretion, die Reduktion, die Kontraktion, kurz das poetische Pars-pro-toto, das Kürze und Prägnante. Die Festschrift für den 80-jährigen Thurneysen[1] enthält einen bemerkenswerten Essay von Kurt Marti: „Wie entsteht eine Predigt? – Wer macht ein Gedicht?“ Es ist hier nicht ganz möglich, es zu analysieren, aber man kann sagen, dass es viel dringender ist, an das Gebet zu denken. Brémond in seinem Prière et Poésie[2] und Jacques Maritain in seinem De la vie d’oraison[3] und andere Teilnehmer der katholischen Renaissance in diesem Jahrhundert in Frankreich haben als erste die Frage nach der Sprache des Gebets aufgeworfen. Die moderne Frage ist jedoch dringender. Ein authentisches Gedicht ist nun ein halb verzweifelter Versuch, die Sprache durch Nacktheit und Unmittelbarkeit von vornherein neu zu erleben und als verlorene Verlobte zu rekrutieren. Das autonome Gedicht steht allein in einer sprachlosen Welt.
So ist es mit dem Gebet, nein, es ist viel mehr so mit dem Gebet, besonders mit dem öffentlichen Gebet. Es gibt, denke ich, eine klare Analogie zwischen den beiden Einsamen: das Gebet – das Gedicht. Da das Gebet von vielen früheren Generationen meist nur als Erfraggebet (vráággebed), als Fürbitte verstanden wurde, muss daran erinnert werden, dass es im Wesentlichen und traditionell Danksagung, Lobpreis und Anbetung umfasst, so dass das Gebet hymnische Elemente enthält. Wir sollten nicht allzu überrascht sein, wenn es in Glossolalie endet. Dann geht alle Rhetorik ein, auch die inspirierte, dann geht sie über die praktischen Ziele hinaus, die wir damit verbinden, zum Beispiel die Gemeinde zu gründen. Manchmal wird es eine Beschwerde, aber auch so intensiv, hinweisend, roh oder verschleiert. Dies geschieht, wenn die Gemeinde (diese kleine Menge, dieser wehrlose Kern, diese dezimierte Volksbewegung der Nicht-Abtrünnigen) ihre Solidarität mit der Welt kennt und sich auch von ihr mit beispiellosen Neurosen angesteckt fühlt. Ein moderner Dichter sagt: „Vom welt-durchkränkten Geist wird Gott nur Recht erhoben“[4].
Jetzt, da so viele und so reichhaltige Gebetbücher erscheinen, die weit verbreitet sind, haben wir genügend Beispiele, um zu sehen, wie es gemeint ist, wenn man meint, dass das „freie Gebet“ der liturgischen Weihe vorgezogen werden muss, nämlich wie viel es für a neue Disziplin handelt vom Erblühen und einer Einführung in eine neue Freiheit: in Zungen zu sprechen. Wir haben gute, einprägsame Beispiele in den Entwürfen von Overbosch und denen von Oosterhuis. Solche Berichte kommen von allen Kirchen, die an vorderster Front stehen: zu sprechen, zu beten in einer bereits sprachloseren Welt. Auch die indischen und afrikanischen Kirchen haben solche Sammlungen von Fürbitten. Am weitesten verbreitet ist die Sammlung von Michel Quoist[5], die Römer und Protestanten gleichzeitig angeht, anspricht, hilft und bereichert. Rudolf Bohren sagte dazu: „Es ist das Alttestamentliche, das diese Gebete stark macht“. Auch im Gebetswort geht es offenbar um „den Sinn des Alten Testaments“, wenn die Götter schweigen, das heißt: wenn die Welt wie sprachlos, in Schweigen erstarrt entdeckt wird.
Abschließend ein Gebet nach einer Predigt des jungen Eberhard Jüngel: „Höre nicht auf, Herr unser Gott, uns und aller Welt mit Deinem guten Wort zuzusetzen, dass der Glaube sich herumspreche bei allen Menschen und die Kraft Deiner Barmherzigkeit sich durchsetze, wo Bedrückte verzweifeln und Unterdrückte den Mut verlieren, wo die Mächtigen sich vergessen und die Ohnmächtigen vergessen werden, wo nach Leben geschrien und um Gnade gebettelt wird: erbarm Dich, Herr! Und wenn wir am Ende sind, dann bleibt Du unsere Zuflucht für und für. Amen.“[6]
Quelle: In de Waagschaal 24 (1968-1969), Heft 9, S. 171-172.
[1] Marguerite Thurneysen (Hrsg.): Wort und Gemeinde. Zürich: EVZ 1968.
[2] Henri Brémond, Prière et Poésie (1926).
[3] Jacques und Raissa Maritain, La vie d’oraison (1933).
[4] Aus dem Sonett „O mein Geist“ der österreichischen Dichterin Catharina Regina von Greiffenberg (1633-1694), also eher „frühneuzeitlich“.
[5] Michel Quoist (1918-1997): Prières (1954).
[6] Predigten, München: Chr. Kaiser, 1968, S. 108.