Von Johann Baptist Metz
Notwendig erscheint mir ein Buch über den Trost, über die Tröstungskraft der Religion. In ihm dürften freilich nicht einfach die von der Gesellschaft verweigerten oder auch bereitwillig angebotenen Tröstungsmuster und Tröstungsfunktionen der Religion bestätigt oder reproduziert werden. Es müßte deshalb von einem Lebenstrost sprechen, der weder von vornherein als »Opium« marxistisch-ideologiekritisch entlarvt noch als »Enttäuschungsabsorption« systemtheoretisch oder auch psychoanalytisch konzediert bzw. gar gesucht wird.
In diesem Buch müßte z. B. von der tröstenden Kraft der Religion die Rede sein angesichts jener großen Verletzungen und Demütigungen des Menschen und seines Selbstbewußtseins, die ihm (z. B. nach Freud) neuzeitlich zugefügt worden sind: durch die kopernikanische Entthronung der menschlichen Welt als des Mittelpunkts des Alls, durch Darwins Rückkoppelung der Menschengeschichte an die Naturgeschichte und die Auslieferung des menschlichen Subjekts an die anonymen Wogen einer Evolution, die es gewissermaßen vom Rücken her ständig überrollen, und schließlich durch die freudianische Relativierung menschlichen Bewußtseins, seiner Ideen, Utopien und Hoffnungen auf die dunklen Tiefen und Untiefen des Unbewußten hin.
Ein solches Buch über den Trost der Religion, das sich den Herausforderungen des neuzeitlichen Schicksals des Menschen redlich zu stellen sucht, müßte seinerseits freilich wie ein Angriff auf vieles sein, das uns neuzeitlich teuer geworden ist, vor allem auf die einseitig vorherrschende Bestimmung des Menschen als eines Herrschaftssubjekts gegenüber Natur. Ein solches Buch müßte die Diagnose Mitscherlichs über »Die Unfähigkeit zu trauern« weit über die jüngere deutsche Geschichte hinaus zu einer Pathologie des neuzeitlichen Menschen überhaupt erweitern und sichtbar machen, wie diese »epochale« Unfähigkeit Hand in Hand geht mit der Unfähigkeit, sich trösten zu lassen.
Dieses Buch müßte die tröstende Kraft der Rede von Gott und von der verheißenen Unsterblichkeit (für die anderen, die »Geringsten unter den Brüdern«, die längst Besiegten und darin auch für uns selbst) gerade an den Widersprüchen unserer geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklung zum Leuchten bringen (und es wäre so durchaus auch ein »gesellschaftskritisches « Buch).
Es müßte jenen (öffentlichen) Denk- und Erzählverboten, jener (öffentlichen) Tabuierung von Fragen und Empfindungen, jenen »Verblendungszusammenhängen « nachspüren, die gerade unsere kritisch aufgeklärte Gesellschaft nachhaltig bestimmen: Trauerverbot, Melancholieverbot; Bann eines heimlichen Unschuldswahns; Herrschaft einer völlig apathischen, fühllosen Rationalität, anhaltende Flucht vor dem eigenen und fremden Leiden, Berührungsangst vor den Toten und Tabuierung der Frage nach ihrem Schicksal und nach der anhaltenden Sinn-Solidarität mit ihnen; Unterschlagung des Verdachts, daß auch Reserven an Sinn und Lebensdeutung zur Neige gehen können und daß auch ein forscher Optimismus des Fortschritts über die wachsende Inhaltslosigkeit menschlicher Zukunft, über eine drohende Apotheose der Banalität nicht hinwegtäuschen kann, sondern gedankenlos den Tod des Menschen (als Subjekt und Freiheit) beschleunigt usw.
Quelle: Notwendige Bücher. Heinrich Wild zum 65. Geburtstag, München: Kösel, 1974, S. 125-128.