Das christliche Leben im Zeichen der Hoffnung
Von Bernhard Häring
Karl Marx war ein Prophet der Hoffnung. Er konnte so viele Menschen anziehen, weil er sich dem sozialen Unrecht, dem unermeßlichen Leiden einer unterdrückten und ausgebeuteten Arbeiterschaft mit einer leidenschaftlichen Hoffnung zu stellen wagte und weil er verstand, diese Hoffnung mit allen Farben volkstümlicher messianischer Zukunftserwartung und ganz und gar im Blick auf die erlittene Zukunft auszudrücken und diese «prophetische Hoffnung» in die Sprache der Zeitphilosophie zu übersetzen. Sein dialektischer Materialismus bietet sich zugleich als wissenschaftliche Analyse, als Ergebnis der Empirie an und nimmt den Zeitgeist des Fortschrittglaubens in sich auf. Es ist eine quasireligiöse Geschichtsphilosophie, die trotz aller Ungerechtigkeit und Spannung und gerade auch im Aufruf zu Klassenkampf und Klassenhaß ein kommendes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit verspricht.
Für die christliche Theologie genügt es nicht, die Fehler im System von Karl Marx und das totale Versagen des Marxismus aufzuweisen. Die geschichtliche Tatsache, daß der Marxismus gerade durch die Art und Weise, wie die Hoffnung das ganze System kennzeichnet, die Massen anziehen konnte, muß uns zur Gewissenserforschung zwingen. Haben wir in unserer Lehre vom christlichen Leben der Hoffnung den ihr zukommenden Platz eingeräumt? Haben wir ihren heilssozialen und heilsgeschichtlichen Charakter genügend herausgestellt? War die Hoffnung überall allgegenwärtig oder war sie ohne Fleisch und Blut neben unseren anderen Traktaten?
Umschreibung der christlichen Hoffnung
Es kann keine erschöpfende Definition der Hoffnung geben; denn sie ist letztlich ein Geheimnis und darum immer unendlich mehr als was unsere Begriffe sagen können. Wer christliche Hoffnung sagt, sagt Gott in seiner Treue, in seinen Verheißungen, in seiner Heilspädagogik, in seiner Offenbarung, in seiner Gnade, in seinem alles umfassenden Heilsplan. Wer Hoffnung sagt, weist in die Richtung letzter menschlicher Möglichkeiten, die nicht aus dem Menschen selber, sondern aus Gott kommen. Er rührt an das Geheimnis der Auserwählung, an jene Tiefe des Menschen, in der die Macht Gottes angesichts der Schwachheit offenbar werden kann.
Dialogisches Verständnis der christlichen Hoffnung
Der Mensch ist nur so weit fähig der Hoffnung, als er das Gutsein, die Treue, die Hingabe irgendwie erfahren und so eine größere Wirklichkeit erahnen kann. Das Kind vertraut und hofft, weil es angenommen, geliebt und umsorgt ist. Sein Vertrauen ist spontan, wie angeboren, wenn es ein gewolltes und geliebtes Kind ist. Schau in das Antlitz eines Kindes, dem der Vater fehlt und dem die Mutter nichts zu sagen hat; es kann eine schreckliche Verkörperung der Trauer, des Pessimismus, der Leere sein.
Das alles ist nur das Erscheinungsfeld, ein Bild der tieferen Wirklichkeit: des dialogischen Charakters der Hoffnung. In der Hoffnung begegnen sich zwei; sie ist Wort und Antwort. Wenn wir sagen: «Der Mensch ist in seinem Innersten angelegt auf Hoffnung», so sprechen wir bereits vom Schöpfungs- und Erlösungsgeheimnis. Der Mensch ist eine Botschaft und ein Bote der Treue Gottes. Es gibt in der Heiligen Schrift keine Rede von der Erbsünde als solcher, keine Gerichtsdrohung als solche allein; selbst wenn mit den schärfsten Worten von Sünde, Gericht und Unheil die Rede ist, die ganze Rede ist letztlich eine Botschaft der Treue Gottes zu seinem Heilsplan, des Ernstes, der Liebe Gottes, eine Verheißung des Erbarmens, ein Aufruf, sich Gottes Barmherzigkeit anzuvertrauen. Aber es wird auch klar, daß Hoffnung sich nicht erfüllt, wenn der Mensch nicht in seinem ganzen Sein und Tun Botschaft der Hoffnung sein will; wenn er sich nicht in der Hoffnung und von der Hoffnung her verstehen will; wenn er nicht ein Ja und ein Amen zum Heilsplan Gottes sein will.
Der Dialog der Hoffnung hat seine Fülle und Sichtbarkeit in Christus. «Gottes Sohn Christus Jesus, war nicht Ja und Nein, sondern das Ja ist in ihm anwesend geworden; denn so viele Verheißungen Gottes es gibt, in ihm ist das Ja, daher durch ihn auch das Amen» (2 Kor 1,19-21). In Christus ist das Ja Gottes zu seiner Schöpfung leibhaftig anwesend. In ihm gibt die ganze Menschheit stellvertretend die volle Antwort der vertrauensvollen Hingabe, der unüberwindlichen Hoffnung.
Das Ja, das die menschliche Natur Christi für uns spricht, ist ganz und gar Gnade. Der Mensch ist Partner der Hoffnung. Er kann sich dem Leben und Lichte verschließen. Nur durch Gnade kann er sich öffnen und das Angebot der Hoffnung ergreifen. In einem gesunden Optimismus, der sich auch im Leiden und in der Prüfung durchhält, wird das Gnadenhafte des menschlichen Seins sichtbar. Wo der Mensch auf sich selbst vertraut anstatt das dankbare Ja zu sprechen und im ganzen Dasein ein dankbares Ja zu werden, da wird aller Optimismus verkrampft und unwahr. Es ist immer schon der erste Schritt zum Pessimismus.
Sakramentales Verständnis der Hoffnung
Christus ist die Erfüllung der Hoffnung, der Punkt Omega, dem alles Sehnen und Hoffen der ganzen Schöpfung gilt und der Quell, der alle wahre Hoffnung speist. Für die Zeit dieser Pilgerschaft ist Christus zugleich das Sakrament der Hoffnung, bis er in der Parusie jenseits aller Sakramentalität die schlechthinnige Erfüllung sein wird, wenn wir in ihm sein werden und Gott von Angesicht zu Angesicht schauen. In den Geheimnissen des Menschgewordenen Wortes lichtet sich unser Dasein. Im Ostergeheimnis des Leidens, Sterbens und der Auferstehung Christi ist uns das wirksame Zeichen der Verheißung und des Hoffens und Vertrauens geschenkt. Das erste Kommen des Menschensohnes ist ein signum prognosticum, das Sakrament des zweiten, alles erfüllenden Kommens Christi als ein Geschenk für die ganze Schöpfung.
In der gläubigen Übergabe an dieses große Zeichen der Hoffnung wird dem Glaubenden alles zu einem rettenden Zeichen, zu einer sichtbaren Einladung zu einer jeweils größeren und tiefer gegründeten Hoffnung. In Christus und stets durch Christus und auf Christus hin ist die Kirche ein großes Sakrament der Hoffnung. Sie ist dies nie automatisch; nie in der Form eines Besitzes, sondern stets in der Gestalt der Magd, die sich dem Worte Gottes anvertraut und dem Hoffen der Menschen sichtbar, erfahrbar dient.
Nicht alles an der Kirche ist durch sich selbst und direkt Zeichen der Hoffnung. Teile der Kirche, Strukturen, Einrichtungen, Gemeinden, die an menschlichen Traditionen hängen, die nicht dienen und keine Gnade sichtbar machen, können bis zu einem gewissen Punkte die Anwesenheit der Hoffnung verhüllen und verdunkeln. «Laßt euch die Frau des Lot als Warnung dienen» (Lk 17,32). Das krampfhafte Festhalten am Gewohnten, an erstarrten Traditionen ohne Rücksicht auf den Anruf der Stunde und ohne jedes Gespür für die Nöte der gegenwärtigen und zukünftigen Generation kommt vielfach aus dem Mangel an Gottvertrauen. Man hängt am Überkommenen, weil es an echter Gegenwartsnähe und an der eschatologischen Ausrichtung des Lebens fehlt. Das Jetzt und Hier offenbart seinen Reichtum nur in einer Perspektive und Ausrichtung, die das Vergangene der Zukunft unterordnet. Es gibt keine fruchtbare Gegenwart ohne gläubiges Hoffen auf die Zukunft, die schon begonnen hat und doch jenseits all unserer Errungenschaften liegt.
Eine reformbereite Kirche ist wahrhaft und wirksam ein Sakrament der Hoffnung, auch wenn noch vieles der Reform bedarf. Da unser Hoffen und unsere stets der Vertiefung bedürftige Treue Geschenk der Treue und Barmherzigkeit Gottes ist, wird die Kirche nur durch Bußbereitschaft und in einer Bewegung steter Bekehrung zu einem Sakrament der Hoffnung. Jene Sektoren der Kirche, die sich als «establishment» anbieten, keine ihrer Schwächen zugeben und nichts ändern wollen, schließen sich hoffnungslos aus der Sakramentalität der Hoffnung aus. Aber selbst die Reformbedürftigkeit eines allzu eingefrorenen und stets mit Verspätung sich anpassenden Rechtes, kirchliche Paläste, die wie erratische Blöcke in der Landschaft liegen, unzeitgemäße und schwer mit der evangelischen Schlichtheit vereinbare kirchliche «Diplomatie», kirchliche Machtgruppen und Kritikklubs können die Hoffnung der wahrhaft Glaubenden nicht zerstören; denn sie haben ihre Hoffnung auf den Herrn gesetzt und so sehen sie um so dankbarer alles, was wirklich ein «Sakrament der Hoffnung» sein kann: die Heiligen, die Demütigen, die reformbereiten Vertreter und Glieder der Kirche. Solange die ganze Kirche ehrlich betet: «Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben» bleibt sie trotz aller Sünden der einzelnen und trotz aller Mißstände im institutionellen Raum ein Sakrament der Hoffnung. Die stets unvollkommene Kirche wird nur jenen, die das vergängliche Sakrament mit der letzten Wirklichkeit verwechseln, zu einem Zeichen, das Pessimismus, Resignation und Entfremdung zeugt. Der Christ muß sich in der Kirche stets zugleich wohl und unwohl fühlen, wenn er als ein Hoffender mit der Kirche auf dem Weg zu letzthinniger Erfüllung im himmlischen Jerusalem sein will. Auch auf den bisweilen sehr durstigen Wegstrecken der Wüstenwanderung bleibt die Kirche Sakrament der Hoffnung, wenn man unterscheiden kann und im Glauben tapfer Ja gesagt hat zur Unvollkommenheit alles Irdischen und jetzt schon Sichtbaren, um sich stets neu auf den Weg zu machen. Das bedeutet jedoch alles andere als Resignation angesichts unerfreulicher Zustände in der Kirche, sei es in der kirchlichen Theologie, im kirchlichen Recht oder in der Pastoral. Die Kritik, die aus Liebe kommt, ist ein Beweis, daß man an Reform- und Bekehrungsmöglichkeit glaubt, während Triumphalismus und Defätismus angesichts der jeweils gegebenen Situation offenbaren, daß der Dynamismus der Hoffnung fehlt.
Eine einseitige Predigt der individuellen Bekehrung ohne Bereitschaft zur Zuständereform in der Kirche ist ebenso dem sakramentalen Wesen der Kirche zuwider wie ein stürmisches Fordern der Zuständereform ohne das Bemühen um die eigene ; Bekehrung und die Bekehrung jedes einzelnen.
Zumal in einem so dynamischen Zeitalter wie es das unsere ist, wird jedes einseitig statische Denken sehr viel schmerzlicher als Angriff auf die Dynamik der christlichen Hoffnung erlebt als früher. Wachstumskrisen offenbaren den Charakter der Kirche | als Sakrament der Hoffnung viel besser als das Fehlen von vitalen Spannungen.
Die Kirche als Ganze und jede ihrer Gliedgemeinschaften und jeder Christ in der Gemeinschaft sind hoffnungweckende Zeichen nur in der Bezogenheit auf Christus, im Vertrauen auf ihn. Er ist unsere einzige Hoffnung. Darum sind allzu menschliche Versuche der Selbstsicherung, wie z. B. der Versuch, die Einheit der Kirche durch eine einzige, tote Sprache und durch eine zentralistische Uniformierung des Rechtes und der Verwaltung zu garantieren, eine Versuchung gegen die Hoffnung und eine Verdunklung der Kirche als Sakrament der christlichen Hoffnung.
Die sieben Sakramente der Kirche sind in ihrer Bezogenheit auf Christus, das Ursakrament, und auf die Christus sich anvertrauende Kirche in ganz besonderer Weise Zeichen der Hoffnung. Sie betonen den Primat der Gnade, die allen zentralen Ereignissen des menschlichen Lebens, der Geburt und der Krankheit, ja sogar dem Tode, die Aussicht auf die größere Hoffnung öffnet.
Die Eucharistie ist das zentrale Gnadenzeichen der christlichen Hoffnung. In ihr werden wir uns immer wieder gnadenhaft bewußt, daß Christus auf unserer Wanderschaft «der Weg, die Wahrheit und das Leben» ist. Seine verhüllte Gegenwart hält unsere Erwartung seiner Wiederkunft wach. Da jedoch die Gnade Gottes in den Sakramenten durch die erfahrbare Zeichenhaftigkeit, wenngleich weit über sie hinaus, wirken will, kann gerade auch eine erstarrte, oberflächliche, skrupulöse und lieblose Feier der Eucharistie eine große Versuchung gegen die Hoffnung hervorrufen.
Das Sakrament der Buße ist als erfahrbares, sichtbares Zeichen der göttlichen Barmherzigkeit ein hoffnungweckendes, das Vertrauen stärkendes Ereignis, freilich nur nach dem Maße, als wirklich die Barmherzigkeit zugleich mit der Treue gegenüber den Heilswegen Gottes aufgerufen wird und der Empfänger des Sakramentes den seligen Weg gütigen Verzeihens und tätigen Erbarmens gegenüber seinem Mitmenschen gehen will. Man kann dieses Zeichen der Hoffnung nicht heilsgemäß empfangen, wenn man nicht selbst für andere ein Zeichen der Hoffnung werden will.
Im Sakrament der Ehe spricht sich mit dem Dank dafür, daß die zwei sich gegenseitig von Gott zu einem Treubund der Liebe geschenkt sind, auch das Vertrauen aus, daß Gottes treue und heilende und verzeihende Liebe ihnen durch alle Wechselfälle des Lebens die Treue ermöglichen wird. Nicht nur am Traualtar, sondern durch ihr ganzes Leben hindurch sollen sie sich wirksame Zeugen der stets größeren Hoffnung, der Hoffnung auf eine ewig dauernde Liebesgemeinschaft mit Gott und in Gott werden. Sie wissen, daß sie von nun an die Hoffnung und das Vertrauen auf Gott nicht mehr leben können, ohne ihren Bund der Liebe im Blick auf Gottes Treue und barmherzige Liebe zu gestalten. In gegenseitigem Vertrauen, in herzlicher Dankbarkeit, im Geständnis des Versagens und in großmütigem Verzeihen beziehen sie ihr gemeinsames Streben auf jene allumfassende Hoffnung, die das tägliche Leben unendlich übersteigt, es jedoch nie überspringen will. Sie stärken sich gegenseitig in einem gesunden Optimismus, der sich gerade dann durchhält und deutlich offenbart, wenn Illusionen platzen.
Ähnliches gilt vom Weihepriestertum. Der Priester darf sich nicht als ein «Besitzender» betrachten und gebärden, sondern als ein stets demütig Empfangender. Er ist nicht ein Amtsträger in dem Sinne, als ob er die Gnadengaben Gottes in Erbpacht hätte. Nur als ein stets Lernender und Hörender offenbart er, daß er sich des gnadenhaften Charakters seiner Sendung bewußt ist; und nur so kann er das Hoffen und das Warten auf den Herrn in seinen Mitchristen wachhalten. Es ist schon oft hervorgehoben worden, daß der freiwillig übernommene und in Überzeugung gelebte Zölibat ein Zeugnis für die Hoffnung auf den gekommenen, kommenden und noch nicht endgültig gekommenen Herrn ist. Er ist Hingabe an den Herrn und sein Reich im Jetzt und Hier aus der Kraft der Erwartung seines endgültigen Reiches. Zeichen und Zeugen dieser gleichen Hoffnung sind jedoch auch die Verheirateten, die über die Freuden und Sorgen ihres Familienlebens und ihres Berufs hinaus sich großmütig dem Apostolat der Kirche widmen.
Das Sakrament der Firmung ist Gabe und Auftrag zu einem Leben gemäß dem vollkommenen Gesetz der Freiheit, in ständiger Offenheit für den Ruf der Gnade und den Ruf der Stunde. Es ist der Heilige Geist, der das Antlitz der Erde und die Herzen der Gläubigen erneuert. Der geistliche Mensch nimmt die gegenwärtige Heilsstunde ernst im Blick auf den Herrn der Geschichte und in der Zuversicht, daß der Geber aller guten Gaben, das was er begonnen, auch vollenden wird.
Das heilssoziale Verständnis der Hoffnung
Schon natürlicherweise erlebt der Mensch Zuversicht zum Dasein nur im Mit-sein, im Geschenk der Liebe und des Zutrauens, das vom Du und von der Gemeinschaft auf ihn zukommt und das er nur wahrhaft empfängt im Zurückschenken. Der Mensch findet sein Selbst stets in der umfassenden Gemeinschaft, im Reichtum der Tradition, in der Mitverantwortung für das Hier und Heute und für die zukünftigen Generationen. Der ich-verschlossene und ich-verkrampfte Mensch ist traurig, verzagt und in seinen Sicherheitskomplexen stets am Rande einer nichtendenden Verzweiflung. Wer dem eigenen Glück nachjagend den anderen und die Gemeinschaft nur als Mittel zum Zweck ansieht, kehrt ohne Beute zurück. Menschliche Erfüllung ist im Dienste am Du und an der Gemeinschaft geschenkhaft, als köstliche Zugabe erfahren.
Dieser menschliche Grundbezug des Zutrauens zum Leben und der Selbsterfüllung erhält ein neues Licht durch die christliche Hoffnung. Christus ist nicht gekommen, um sich selbst zu Gefallen zu leben (Röm 15,3). Er hat sich vertrauend zum Heil seiner Brüder und Schwestern dem Vater übergeben. Darin liegt unsere Erlösung von dem Fluch der Ichhaftigkeit. Die Erlösung hat ihren Ursprung in der absoluten Heilssolidarität, die Christus gelebt hat bis zur Hingabe am Kreuz. Sie hat ihr Ziel in der vollendeten Gemeinschaft der Heiligen, in der Mitfeier der dreieinigen Liebe Gottes. Alle ihre Wegstrecken sind vom Ursprung und Ziel her bestimmt. Man kann nicht Ja sagen zu der Hoffnung, die in Christus uns vorgelegt ist, ohne zugleich und in einem Ja zu sagen zur Heilssolidarität. Es gibt keinen Weg der Befreiung aus der Unheilssolidarität — Erbsünde — außer dem der allumfassenden Liebe, Einheit, Solidarität.
Die christliche Hoffnung spiegelt die Einheit und Einzigkeit des göttlichen Heilsplanes wider. Alles kommt von Gott, ruft nach Gott und findet seine Vollendung in Gott. Der Mensch findet sich vor in einer grandiosen Evolution und Geschichte, die ihre Mitte in Christus hat, von dem und für den alle Dinge geschaffen sind (Kol 1,16). Darum kann er sich der Freiheit der Kinder Gottes nicht erfreuen und auf die letzthinnige Vollendung warten, ohne das Seufzen der Schöpfung, das Verlangen nach Teilnahme an der Erlösung, ernst zu nehmen (Röm 8,19ff.). Jene, die nur ihre Seele retten wollen, ohne sich für ihre Mitwelt, Umwelt und Nachwelt mitverantwortlich zu fühlen, bleiben im Todesring der Unheilssolidarität. Eine Jenseitshoffnung, die den Menschen dem Leben und der Gemeinschaft entfremdet, ist überhaupt nicht die christliche Hoffnung.
Diese Fehlhaltungen spiegeln sich im Verhalten zum Kernsakrament der Kirche wider. Die einen, Priester und Laien, beurteilen die Messe nur nach der eigenen Tröstung und Stimmung und verzichten darum leichten Herzens, wenn sie nicht sehen, was die Messe ihnen selbst geistlich eintragen könne. Dies ist zum Teil eine Reaktion auf das betonte Vorziehen der «Winkelmesse», d.h. auf den vom Individualismus motivierten Wunsch, das «sichtbare Zeichen» (= Sakrament) der Einheit und der Solidarität Christi mit dem ganzen Gottesvolk und der ganzen Schöpfung in betonter Einsamkeit ganz allein zu feiern. In dieser Haltung, die genau das Gegenteil von dem sichtbar macht, was die Eucharistie als sichtbares Zeichen sein will, sieht man jene heillose Vereinsamung und Verengung der christlichen Hoffnung, die Karl Marx als Entfremdung verwarf. Wir müssen sie nicht weniger energisch verwerfen, da es sich überhaupt nicht um die christliche Hoffnung handelt, sondern um eine pseudo-christliche, «bürgerliche» Entfremdung gegenüber Christus, seinem Volk und seinem Werk.
Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes hat die untrennbare Zusammengehörigkeit von christlicher Hoffnung und Gemeinschaftssinn nachdrücklichst unterstrichen. Das Kapitel III des ersten Teiles, das von der mitmenschlichen Verantwortung in aller Tätigkeit handelt, schließt mit dem Ausblick auf «den neuen Himmel und die neue Erde»: «Die Liebe wird bleiben wie das, was sie einst getan hat, und die ganze Schöpfung, die Gott um des Menschen willen schuf, wird von der Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit sein. Zwar werden wir gemahnt, daß es dem Menschen nichts nützt, wenn er die ganze Welt gewinnt, sich selbst jedoch ins Verderben bringt; dennoch darf die Erwartung der neuen Erde die Gestaltung für diese Erde nicht abschwächen, auf der uns der wachsende Leib der neuen Menschheitsfamilie eine umrißhafte Vorstellung von der künftigen Welt geben kann, sondern muß sie im Gegenteil ermutigen» (l.c. Art. 39). Das Kapitel über den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt schließt mit folgendem bezeichnendem Text ab: «Wer im Gehorsam gegen Christus zuerst das Reich Gottes sucht, stärkt und ; läutert dadurch seine Liebesgesinnung, um allen seinen Brüdern zu helfen und unter dem Antrieb der göttlichen Liebe das, was die Gerechtigkeit verlangt zur vollen Verwirklichung zu führen» (l.c. Art. 72).
Glaube und Hoffnung
Die Hoffnung ist nicht eine Addition zum christlichen Glauben. Unser Glaube ist nicht ein bloßes Ja zu einem System von Wahrheiten. Er ist vielmehr das vertrauende Ja zum Herrn der Geschichte, zu dem, der war, ist und sein wird, zu dem der in seinen Werken gegenwärtig ist und in der Mitte der Geschichte sich durch seinen eingeborenen Sohn geoffenbart hat und alles zur Vollendung führen wird. Christlicher Glaube besagt Heilsgeschichte, Geschichte Gottes mit seinem Volke. Man kann zwar in einem gewissen Sinne sagen, daß die Offenbarung in Christus zu einem Abschluß gekommen ist; aber man muß auch unmittelbar dazusagen, daß der Herr und Erlöser der Geschichte fortfährt, sich in seinen Werken zu offenbaren. Es gibt keine Offenbarung, die über Christus hinausführt. Aber mit der Himmelfahrt Christi und der Geistsendung ist die Geschichte nicht zu einem Stillstand gekommen, sondern hat erst ihre volle Dynamik erfahren. Wer Christus kennt und im Glauben zu ihm Ja sagt, für den ist die Geschichte unendlich viel spannender geworden. Glaube ist innerwesentlich Offenheit für alles Tun Gottes in Gegenwart und Zukunft, ebenso wie er ein lobpreisendes Ja zu den Heilstaten Gottes in der Vergangenheit ist.
«Der Glaube ist eine Zuversicht auf das, was man hofft, eine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht» (Hebr 11,1). Die HI. Schrift kennzeichnet Abraham als unseren Vater im Glauben gerade insofern «er auszog, ohne zu wissen wohin er komme… Denn er wartete auf die Stadt, die die festen Fundamente hat, deren Erbauer und Schöpfer Gott ist» (Hebr 11,8-10). Das irdische geschichtliche Geschehen ist dabei keineswegs übersprungen, aber es wird in seiner Dynamik auf zukünftige Erfüllung gesehen. Glaube ist Wandel im Lichte und zugleich im Halbdunkel. Er ist in der Tat ungeschuldetes, überreiches Licht, aber im Vergleich zu dem, was er uns verspricht und wohin er uns in Bewegung setzt, ist er nur ein Erkennen im Spiegelbild, in einer rätselhaften Gestalt (1 Kor 13,12). Im Leben der Kirche wie im Leben des einzelnen erlaubt der Glaube kein Ausruhen auf Formeln und Errungenschaften. Er ist eine lebendige Kraft, die mit jedem Schritte vorwärts ein lebensvolleres Erkennen Gottes, ein tieferes Ersehnen einer größeren Liebe zu ihm weckt.
Jeder Versuch, den Glauben als ein abgeschlossenes System von Lehrsätzen zu bewahren, ist zum Scheitern verurteilt. Offenbarung und Überlieferung stehen nicht als zwei gegebene Größen nebeneinander. Sondern es handelt sich um einen großen Strom des Lichtes und des Lebens, um eine dynamische Gegenwart Gottes, der weiterwirkt und vom Menschen ständige Offenheit verlangt. Dabei gibt es von Seiten Gottes keinen Zickzack, keinen Widerspruch, keine Diskontinuität. Auf der menschlichen Seite gibt es jedoch Diskontinuität, sowohl durch Sünde, mangelnde Offenheit wie auch anderseits durch besondere Gnade, die Bekehrung bewirkt. Die Glaubensgemeinschaft darf sich nicht auf das Erforschen der Schrift allein beschränken. Sie muß stets auch von der gesamten Heilsgeschichte lernen und offen sein für die Zeichen der Zeit. Glaube ist ein Auf-dem-Wege-sein mit dem sich offenbarenden Gott, mit dem Vollender der Geschichte. Nur wenn man sich ihm anvertraut und unentwegt in die Zukunft schaut, ist man wahrhaft ein Glaubender. Der Glaube ist nicht nur ein Ja zu allem, was Gott schon getan und geoffenbart hat, sondern ebenso ein zuversichtliches Ja zu allem, was er noch tun und kundtun wird.
Hoffnung und Liebe
Mit der Selbstoffenbarung Gottes, der die Liebe ist, und mit der Ausgießung des Heiligen Geistes, der die Menschen fähig macht, die Botschaft der Liebe existentiell zu erfahren und zu beantworten, hat die Zukunft schon begonnen. Die rettende Liebe geht der Hoffnung voraus. Nur ein konzeptionalistisches Mißverständnis der Religion kann versuchen, den Glauben und die Hoffnung ohne die Liebe zu definieren und die Liebe zum Glauben und zur Hoffnung gewissermaßen dazu zu addieren. Wir leugnen nicht die Existenz und einen gewissen begrenzten Wert jener Formen des Glaubens an Gott und die definierten Dogmen und jenes vagen Hoffens, in denen die Liebe noch nicht wahrhaft zum Durchbruch gekommen ist. Findet sich in ihnen jedoch gar kein Dynamismus der Liebe und zur Liebe hin, so handelt es sich schlechthin um einen Hohlglauben um ein totgeborenes Glauben und Hoffen.
Die Grundlage des christlichen Glaubens und Hoffens ist die geschichtliche Tatsache, daß Gott sich dem Menschen als schöpferische und erlösende Liebe offenbart und ihn zum Bund währender Liebe einlädt. Nur in dem Maße, als der Mensch sich vertrauend der Liebe öffnet, schreitet sein Glauben an Tiefe und Festigkeit fort. Und nur in dem Maße, als der Mensch sein Leben zu einer Antwort auf die ihm begegnende Liebe gestalten will, wird sein Hoffen lebenswahr und fest.
Die Hoffnung ist die geschichtliche Gestalt und Entelechie der Liebe. Die Liebe, die wir erfahren und kraft der wir bereits Kinder Gottes genannt sind, öffnet unseren Blick und unser Herz der Erwartung jener Liebe, die alles voll offenbaren wird. Die Moraltheologie drückt den gleichen Grundbefund durch die These aus, daß die Liebe das allumfassende Zielgebot ist.
Eine Moral, die den Akzent einseitig auf die grenzziehenden, warnenden und verbietenden Gebot legt, ist im Grunde ein «hoffnungslose» Moral; denn es fehlt ihr die eigentliche Dynamik der Hoffnung, die Ausschreiten und Ausschauen nach der Vollendung in der Liebe bedeutet. Die einseitige Betonung der positiven, «bewahrenden» Gesetze der Kirche gegenüber den wagenden Tugenden, die von der Hoffnung inspiriert sind, entspricht einem falschen Kirchenbild, etwa jenem, das sich in den Renaissance- Tempeln und massiven bischöflichen Palästen manifestiert, einer Kirche, die sich fest einbaut im Irdischen und darum auch soziologisch weithin die Gestalt des «establishment» annimmt. Eine kirchliche Moral, die eindeutig vom Vorherrschen der Zielgebote charakterisiert ist, entspricht dem Wander-Apostel und einem Kirchenstil, der an das Zelt erinnert, das jederzeit abgebrochen werden kann. Eine vorwiegend statisch verfaßte Moraltheologie verfestigt das Institutionelle in Richtung der Versteinerung. Eine vom großen Zielgebot der Liebe getriebene Moral bildet Christen heran, die Vorhut der Menschheit sein werden. Kirchen-«Fürsten», die von Jugend auf durch eine grenzziehende Moral geformt waren, werden, wenn nicht ein psychologisches Wunder und ein besonderes Walten der Gnade geschieht, notwendigerweise die Kirche als schützende und abwehrende Nachhut der Menschheit konzipieren. Sie werden nichts mehr fürchten als das Wagnis. Die größte Häresie in ihren Augen war ein evolutionistisches Verständnis der Welt, ein heilsgeschichtliches Verständnis der Bibel und ein geschichtliches Verständnis des Naturrechts. Die wahren Kirchenreformer, die Heiligen, verkörpern eine Moral, deren Herzstück die Liebe als Zielgebot ist.
Das siebenmal wiederholte Wort des Herrn in der Bergpredigt: «Ich aber sage euch» (Mt 5,17-48) stellt die neutestamentliche Moral unter dem Kennzeichen der Zielgebote in scharfen Gegensatz zu der pharisäischen Mißdeutung des Bundesgesetzes, die statt des Dynamismus der ständigen Bekehrung und des Ausschauens nach der messianischen Vollendung alle Karten auf bloße Abgrenzung gesetzt hatte. Wer an das erste Kommen Christi glaubt und auf die Vollendung in der Parusie ausschaut, wird den dynamischen, auf stetes Wachstum der Liebe drängenden Charakter der christlichen Moral verstehen.
Die christliche Hoffnung ist gekennzeichnet von der eschatologischen Spannung zwischen «schon» und «noch nicht». Dies spiegelt sich auch wider in der Akzentsetzung zwischen Grenzgeboten und Zielgeboten, aber nicht so als ob die grenzziehenden Gebote als eine Entsprechung zum «Schon» der Erfüllung, wie sie jetzt bereits gegeben ist, aufgefaßt werden dürften. Die Gegenwart selbst ist dynamisch. Der Strom der göttlichen Überlieferung darf nicht gestaut werden. Was Gott schon getan und geoffenbart hat, ruft nach einem getreuen Verwalter, der stets Altes und Neues aus dem Schatz hervorholt. Den Schriftgelehrten, die Gott nur in den Berichten suchten, die erzählen, was Gott dereinst getan hat, stellt Christus das Bild des lebendigen Gottes gegenüber: «Mein Vater wirkt bis jetzt, und ich wirke auch» (Joh 5,17). Die Gegenwart ist ein Spannungsfeld, das seine Kraft jenen offenbart, die die vollen Dimensionen der Heilsgeschichte vor Augen haben in Dankbarkeit für die vorausgehenden Heilstaten Gottes und in der Hoffnung, die den Blick nach vorwärts richtet. Die eschatologische Spannung besagt jedoch auch, daß wir, obwohl in Christus erlöst, noch Sünder sind. Darum bedürfen wir immer noch der grenzziehenden Gebote (der Erfüllungsgebote). Diese sagen uns mit warnender Deutlichkeit, daß es Haltungen und Handlungen gibt, die in direktem und offenem Widerspruch zur Tatsache der Erlösung und zum Wesen der Liebe und Hoffnung stehen. Aber nur wenn wir die Zielgebote als die eigentliche Normierung unseres Wanderlebens annehmen, können die Warnungs- und Erfüllungsgebote für uns heilsam bleiben.
Die Zielgebote sind zusammengefaßt in der Liebe, die Gott selbst in der Fülle der Zeiten durch seinen Sohn geoffenbart hat. «Liebet einander wie ich euch geliebt habe» (Joh 15,12). Dieses Zielgebot, das alle andern Zielgebote in sich schließt und auch allen Erfüllungsgeboten den eigentlichen Sinn gibt, erlaubt weder Selbstgenügsamkeit noch gibt es Anlaß zu Verzagtheit; denn es hat seine Kraft in der Gnade des Heiligen Geistes, in der Freude des Glaubens und in der Hoffnung, die der Geist selbst wachhält. Angesichts der Zielgebote setzt die Hoffnung auf die Gnade Gottes und treibt zu ständigem Wachstum, zu ständiger Bekehrung an. Sie ist Dankbarkeit für die Gaben Gottes. Jeder weiß sich in Dienst genommen und zum Weiterstreben angetrieben «nach dem Maße der Gnadengabe Christi» (vgl. Eph 4,7). Die Talente, die Gott uns gegeben, dürfen nicht vergraben werden. Sie wollen Frucht tragen. Dies ist das Gesetz und die Dynamik der Hoffnung für die Gemeinschaft und für den einzelnen. Die Liebe, die Gott uns erweist und die stets ein Teil seines allumfassenden Heilsplanes und somit der Heilsdynamik ist, ist der eigentliche Antrieb dieser Dynamik.
Die eschatologischen Tugenden
In einer dynamischen, in allem von der Hoffnung mitbestimmten Moral nehmen die von der Bibel hervorgehobenen eschatologischen Tugenden einen bedeutsamen Raum ein. Und die aus dem griechischen Tugendschema entnommenen Kardinaltugenden erhalten von dort ebenfalls eine mehr dynamische Note.
Es liegt auf der Hand, daß die Hoffnung selbst die zentrale eschatologische Tugend ist. Zu dem Reigen, den sie anführt, gehören vor allem die Wachsamkeit für das Kommen des Herrn, die Gelehrigkeit gegenüber dem Heiligen Geiste, die Veränderungsbereitschaft, der Mut zum Wagnis, der Geist der Armut und die Fröhlichkeit.
Die ganze Heilsgeschichte ist dynamische Gegenwart des Herrn, das ist eine Gegenwart, über die der Mensch nicht selbstmächtig verfügen kann. Der Herr kommt zu einer Stunde und in Gestalten, die der Mensch nicht vorausberechnen kann. Darum zeichnet uns Christus die Kirche unter dem Bilde der Jungfrauen, die wachsam auf das Kommen des Herrn warten. Jede Heilsstunde, jede Situation, die zur volleren Entscheidung aufruft (biblisch der: kairòs) ist ein teilweise überraschendes Kommen Gottes, vielfach ein Kommen in Verkleidung. Er kommt als Gärtner, der das Leben sorgsam pflegt; er kommt als Armer, als Kranker, als Gefangener, als Flüchtling. Er kommt in der Eucharistie, aber dann auch im Hungrigen, der uns um Brot und Arbeitsmöglichkeit anfleht. In all diesen Formen seines Kommens bereitet sich für uns sein letztes Kommen in der Stunde des Todes für den einzelnen und in der Parusie für die Gemeinschaft aller Menschen vor. Darum ist der auf das letzte Kommen des Herrn Hoffende wachsam für jeden Moment der Gnade und der Entscheidung. Die Kirche ist die wachsame Jungfrau, wenn sie sorgsam und mutig die «Zeichen der Zeit» beobachtet und dementsprechend sich aufrütteln und aus einer selbstsicheren Kontinuität befreien läßt.
Eine Kirche in Selbstverteidigung, die sich in Burgen und Palästen verkörpert, flieht das Wagnis. Die Kirche der Marthyrer, die alles auf den Glauben und die Hoffnung gesetzt hat, nimmt das Wagnis Tag für Tag an. Die Kirche der Restauration sichert sich durch politische Pakte mit den Monarchien. Unter diesem Einfluß wird die Einhaltung aller bisher bestehenden Gesetze so sehr betont, daß das Wagnis der Verantwortung als die eigentliche Gefährdung angesehen wird. Die Kirche der eschatologischen Hoffnung vertraut sich dem Herrn der Geschichte an. Darin wird es Momente geben, in denen die Bewahrung und Kontinuität betont werden muß. Aber vor allem in Zeiten, in denen der dynamische, stürmisch vorwärts drängende Charakter der Geschichte und eine besonders gütige Vorsehung der Kirche neue, unerahnt große Chancen anbietet, an der Einheit der Christen und der Solidarität der Menschheit als entscheidende Vorhut mitzuarbeiten, wird die Hoffnung mutig das notwendige Wagnis auf sich nehmen. Der Sicherheits- und Angstkomplex muß in diesem Moment als Zeichen entweder einer kollektiven Krankheit oder aber als Enthüllung des Mangels an Gottvertrauen und Glauben erscheinen.
Die traditionelle, gute Moraltheologie hat der Tugend der Epikie einen ganz besonderen Wert zugeschrieben (cfr. S.th. IIa IIae, q. 120). Sie ist ein durchaus normales Wagnis des mündigen Christen, Ausdruck des Gesetzes der Freiheit, des Geistgesetzes in Christus Jesus, des Gesetzes des Glaubens. Wo diese Tugend in vielen Christen durchscheint, wird auch die Gemeinschaft den Weg in die Zukunft finden und neue, lebensträchtige Formen der Pastoral und Gesetzgebung. Eine legalistische Moral, deren Funktion vor allem die Selbstbewahrung der Institutionen zu sein schien, hat diese Tugend entweder ganz unterschlagen; denn sie wurde als gefährlich angesehen. Oder man hat sie zu einer bloßen Entschuldigung degradiert angesichts von Lasten, die nur für die Schultern von Schwachen zu schwer sind. Als Idealmensch erschien jener, der alle positiven menschlichen Gesetze genau befolgt, ohne dahinter eine Problematik zu sehen. An der Aufwertung oder Abwertung der Tugend der Epikie lassen sich die Geister scheiden. Es ist eine allgemein menschliche Versuchung, die Gegenwart zur bleibenden Heimat machen zu wollen. Wer dieser Versuchung nachgibt, sieht nicht, welch tödliches «Wagnis» es ist, eine Sicherheit nach Art der Friedhofsruhe zu suchen; er weiß nicht, daß solche Sicherheitskomplexe immer wieder zu Inquisition und Konzentrationslagern geführt haben. Der wahre Christ nimmt stets aufs neue das Wagnis der Wachsamkeit und des Ausschreitens in eine nie ganz bekannte Zukunft an.
Jener weise Mut zum Wagnis, in dem sich christliche Hoffnung ausspricht, ruft aber auch nach der Unterscheidung der Geister, nach einer Erziehung zu jener Mündigkeit, die stets nach dem letzten Sinn und Wert und der letzten Ausrichtung allen Geschehens und aller Normen fragt und das Wertbeständige vom Wandelbaren unterscheidet. Dabei geht es dem Christen vor allem um das Kennen Christi und so um das Kennen des wahren Antlitzes der Liebe und um ein tieferes Verstehen jenes Wachstumsgesetzes, das menschlicher Geschichtlichkeit entspricht und in dem sich sowohl die Treue wie auch die Barmherzigkeit Gottes offenbart. So wird die Frage nach der Werthöhe einer Handlung nie die Frage nach der Wertdringlichkeit und nach dem wahren Vermögen des Einzelnen und der Gemeinschaft verdunkeln.
In der Perspektive christlicher Hoffnung bedeutet Wagnis ständige Bekehrungs- und Reformbereitschaft, jedoch mit jener klaren Zielrichtung, die von den Heilstaten und Verheißungen Gottes gewiesen ist und mit jener Kontinuität, die sich als Antwort auf Gottes Treue und Milde versteht, wie auch mit jener Diskontinuität, die allein uns aus Sünde und Stagnation herausführen kann.
Der Geist der Armut offenbart die Kraft und Fröhlichkeit der Hoffenden: Sie wandern mit leichtem Gepäck, stets bereit, alles als Ballast abzuwerfen, sobald es dem Voranschreiten der Frohbotschaft und der Bekehrung nicht mehr dient. Der im evangelischen Sinne Arme ist demütig, mutig all sein Vertrauen auf Gott zu setzen und Großes von ihm zu erwarten. Weil er alles als Geschenk Gottes ansieht, weiß er, daß er es nur wahrhaft «genießen» und sich letztlich zu eigen machen kann im Dienste des Nächsten und als Pfand der größeren Hoffnung. Soll auch das institutionelle, rechtliche und administrative Element deutlich dem sakramentalen Gesamtcharakter der Kirche eingefügt werden, dann gilt die Forderung nach dem evangelischen Geist der Armut gerade auch für diese Sphären. Alles, bis auf die Verwaltung der Finanzen und das öffentliche Auflegen der Jahresbilanzen soll glaubwürdig machen, daß die Kirche wirklich auf dem Wege der Geschichte und in Richtung der Gesamthoffnung voranschreitet. Das Zweite Vatikanische Konzil sagt diesbezüglich: «Das Irdische und das, was am konkreten Menschen diese Welt übersteigt, sind miteinander eng verbunden, und die Kirche selbst bedient sich des Zeitlichen, soweit es ihre eigene Sendung erfordert. Doch setzt sie ihre Hoffnung nicht auf Privilegien, die ihr von der staatlichen Autorität angeboten werden. Sie wird sogar auf die Ausübung von legitim erworbenen Rechten verzichten, wenn feststeht, daß durch deren Inanspruchnahme die Lauterkeit ihres Zeugnisses in Frage gestellt ist, oder wenn veränderte Lebensverhältnisse eine andere Regelung fordern» (Gaudium et spes, Art. 76). Das, worauf es ankommt, ist, daß alle Traditionen, alle kulturellen Bereicherungen, alle Einrichtungen, Titel und Ämter, Ernennungsweisen und Wahlmethoden daran gemessen werden, ob sie wirklich hier und heute dienen, um die von der Kirche verkündete Hoffnung glaubwürdig zu machen und in diesem Geiste der Auferbauung einer Gemeinschaft der Liebe dienen, in der Vertrauen das Szepter führt.
In der Sichtweise der eschatologischen Tugenden wird dann auch der spezifisch christliche Sinn der sogenannten Kardinaltugenden offenbar. Die Klugheit wird von jenem verächtlichen Beigeschmack befreit, den sie in den modernen Sprachen, nicht ohne den Einfluß eines statischen Mißverständnisses der katholischen Moral, bisweilen angenommen hat. Der Feige, der das Wagnis, den mutigen Einsatz für die Gemeinschaft flieht, ist nicht klug. Der Kluge schaut mutig voraus; der Kluge weiß, daß die Zukunft nur jenen gehört, die den Menschen die größere Hoffnung und den größeren Mut anzubieten vermögen. Ohne die Tapferkeit ist die Klugheit ein schlecht betreutes Altersheim oder das Signal eines Friedhofs. Die Tapferkeit wie auch die Klugheit fördern den Freimut, auch wenn es einen hohen Preis kosten mag. Sie scheut sich nicht vor mutiger Kritik der Mächtigen und Besitzenden. Im Zentrum der Tugend der Gerechtigkeit wird nicht die Tauschgerechtigkeit der Händler stehen, die auf bloße Gleichheit von Leistung und Gegenleistung schauen, sondern vielmehr ein dynamischer Begriff des Gemeinwohls und eine Sicht der sozialen Gerechtigkeit, die der Dankbarkeit für die ungeschuldet von Gott kommende Gerechtigkeit und der Erwartung letzter Vollendung der Solidarität der ganzen Menschheitsfamilie entspricht. Die Tugend der Zucht und des Maßes wird sich nicht an stoischer Leidenschaftslosigkeit orientieren, sondern sich in den Dienst jener Liebe stellen, deren Ziel es ist, ohne Maß und Grenzen selbstlos zu lieben und in der Liebe grenzenlose Seligkeit zu erfahren.
Die christliche Moral ist keineswegs an das Schema der vier Kardinaltugenden gebunden. Es darf in keiner geschichtlichen Stunde das Bild der eschatologischen Tugenden verdunkelt werden. Aber je nach der Verschiedenheit der Kulturen und Situationen mag der Ton auf der einen oder andern Grundhaltung liegen. Wo z.B. Höflichkeit der Grundwert einer Kultur ist, hindert uns nichts, daran anzuknüpfen. Meines Erachtens dürfte jedoch in keiner Moral die Tugend des Humors fehlen, die eine der köstlichsten Früchte christlicher Hoffnung ist, in der wir zugleich Unendliches erwarten und unsere Begrenztheit und Lächerlichkeit gelassen annehmen können, ohne uns zu verachten. Wir nehmen uns ernst in Gottes Liebe und anbetracht seiner Verheißungen und dennoch nehmen wir uns in den Situationen unseres Alltags nicht allzu ernst.
Das christliche Leibverständnis
Eine immer noch nachwirkende Hellenisierung basiert die christliche Hoffnung auf den philosophischen Beweis der Unsterblichkeit der Seele. Die Auferstehung der Leiber wird dann zwar nicht geleugnet, aber hat wenig Einfluß auf das Leibverständnis. Wenn man dem griechischen Denken auch nicht bis zu dem Punkte folgt, den Leib als Kerker der Seele zu betrachten, so nimmt dieses Denken doch eine negative Haltung gegenüber den Leidenschaften und vor allem gegenüber der Sexualität ein. Wird jedoch die Hoffnung auf die Auferstehung des Leibes konsequent als Ansatzpunkt durchgehalten, so wird man der Verherrlichung Gottes im Leibe, dem Leibe als Gestaltwerden einer erlösten und erlösenden Liebe, dem Leibe als Wort zum Du hin eine grundlegende Bedeutung in der christlichen Moral zumessen. Man wird sich auch nicht an dem Gedanken einer Evolution stoßen, die den Leib als Krönung einer langen Entwicklung ansieht, die vom Schöpfer so gewollt ist. Die Auferstehung des Leibes als Vollendung der Erlösung besagt eine durchgehende Solidarität mit der Gemeinschaft aller, die die gleiche Hoffnung haben und mit allem Sichtbaren. Gottes Herrlichkeit ist Sichtbarmachung seiner Liebe. Man wird dann auch nicht erschrecken an dem Gedanken an eine graduelle Umgestaltung des Leibes und der leiblichen Bedingungen und an einer mit der Geschichte fortschreitenden Herrschaft des Menschen über das Leibliche. Worauf es ankommt, ist, daß der Mensch ein weiser und kluger Verwalter sei. Diese breite Thematik kann hier freilich nur angeschnitten werden, um zu zeigen, wie entscheidend die Sichtweise ist, in deren Mitte die Hoffnung in einem spezifisch christlichen Sinne steht.
Christliche Hoffnung und Naturrecht
Im Bereich der römischen Staatsphilosophie entwickelte sich die Lehre vom Naturrecht vor allem als ein Herrschaftsinstrument einer Macht, der es darum ging, die Vielfalt von Nationen und Stämmen unter dem Zeichen der Pax Romana zusammenzuhalten. So verstanden steht die Lehre vom Naturrecht im Dienste der Institution und ihrer Sorge um Beharren. Ich vermute, daß sich das Naturrechtsdenken im römischen und germanischen Raum nie ganz von diesem Geburtsfehler erholt hat. Zwar diente da und dort die Lehre von einem unabdingbaren Naturrecht auch als Basis für eine Kritik an staatlichen Mißständen und Ungerechtigkeiten, aber wohl kaum jemals als Ansatzpunkt einer prophetischen Kritik gegenüber einem kirchlichen Immobilismus. Solange die Kirche selbst weltliche Herrschaft ausübte, lag es nahe, die Lehre vom Naturrecht vor allem in einem statisch-konservativen Sinne darzulegen und geltend zu machen. Sie fügte sich in ein statisches Welt- und Menschenbild ein.
Wie steht es mit dem Naturrecht, wenn die Dynamik der christlichen Hoffnung der entscheidende Ansatzpunkt unserer Moraltheologie ist? Wie verstehen wir das Naturrecht, wenn wir das Gesamt der geschichtlichen Erfahrung der Menschheit und insbesondere die Erfahrungsweise des Menschen von heute als Ausgangspunkt nehmen und die so gewonnene Sicht bewußt der christlichen Gesamtschau einzuordnen versuchen?
Die Geschichte läßt keinen Zweifel darüber, daß formulierte Thesen des Naturrechts und jede Art von philosophischer und theologischer Reflexion der ethischen Erfahrung der menschlichen Person und der Gemeinschaften nachfolgt. Das ursprüngliche Phänomen ist das Suchen nach besseren zwischenmenschlichen Beziehungen, die Anerkennung einiger Verhaltensweisen als gut und die Ablehnung anderer, das spontane Sehnen und Suchen nach einer besseren Verwirklichung des Menschseins. Fast in allen Kulturen finden sich Mythen, die das Ideal an den Anfang der Menschheitsgeschichte verlegen. Solche mythischen Erinnerungen konnten zu tiefer Niedergeschlagenheit und Entmutigung bezüglich des gegenwärtigen Zustandes der Dinge führen. Gewöhnlich zeigt sich in ihnen jedoch eine Dynamik der Sehnsucht, des Hoffens, ein Anruf, Wiederherstellung des ursprünglichen Ideals von der Gottheit zu erflehen und sich selbst darum zu bemühen. Fast überall wird das Gute als Aufgabe erfahren.
Das Gut-sein, der Menschen zueinander steht immer im Mittelpunkt der Erfahrung und Sehnsucht. Nur allmählich weitet sich der Horizont. Während vielfach nur der Stammesangehörige als «der Nächste» erfahren wurde, dem man Solidarität schuldet, hilft das Aufeinandertreffen von Stämmen und Kulturen zu einer graduellen Ausweitung. Große politische Gebilde, die auch kulturellen Austausch und Zusammenschluß förderten, bereicherten die Tradition und luden zum Nachdenken ein. Als Beispiele mögen dienen die großen ethischen Systeme Chinas, die in Konfuzius einen Höhepunkt erfuhren, das ethische Gedankengut der hellenischen Welt, das sich in Epik, Lyrik, bildender Kunst und Philosophie ausdrückte und mit jeder neuen Ausweitung des kulturellen Raumes vertiefte und einen ersten großen Entwurf des Kosmopolitismus brachte. Das Zusammentreffen der römischen Naturrechtsphilosophie mit den Bedürfnissen der römischen Prätoren, die Völker und Stämme verschiedenster Tradition zu einigen hatten, wurde schon erwähnt. In neuester Zeit finden wir z.Z. im katholischen und außerkatholischen Raum Europas eine Ausweitung von einem Gerechtigkeitsbegriff, der aus der Erfahrung des städtischen Handels stammt, sich dann auf die Arbeiterfrage und überhaupt auf das Verhältnis der sozialen Klassen ausweitet und schließlich in den Enzykliken Pacem in terris von Johannes XXIII = und Populorum progressio von Paul VI. die Einheit und Solidarität der ganzen Menschheit, aller sozialen Klassen, aller Rassen und aller Nationen zum großen Thema hat.
Die Geschichte der Naturrechtslehre zeigt alles andere als ein von Anfang an fertiges «System» von Lehrsätzen, alles andere ; als eine Kontinuität von Formulierungen, obwohl wir zahlreiche Versuche von Institutionen feststellen können, die im Bestreben, den eigenen Bestand unverändert zu sichern, an der Unveränderlichkeit aller einschlägigen Thesen des Naturrechts äußerst interessiert waren. Heute haben wir das erste Mal in der Menschheitsgeschichte die Möglichkeit, alle bestehenden Kulturen und ihr ethisches Wertvorzugssystem zu vergleichen und weit in die menschliche Geschichte zu einem ähnlichen Vergleich zurückzublicken. Schien den Menschen einer relativ statischen Epoche und geschlossenen Gesellschaft die Natur und das ethische Wertvorzugssystem statisch zu sein, so sehen wir heute, daß es aufs Ganze nie eine wirkliche Statik, wohl aber ein zeitweises Stagnieren und auch im Zusammenhang damit erschreckliche Rückschritte gab. Das Ganze menschlicher Erfahrung und Reflexion über das Gute und die menschliche Natur ist von einer grandiosen geschichtlichen Dynamik. Heute haben wir nicht nur einen weiteren Überblick, der uns die gesamte Evolution der Welt und die davon verschiedene aber nicht ganz davon getrennte Entfaltung der menschlichen Geschichte enthüllt, sondern leben auch in einer Epoche, die alle anderen an Dynamik weit übertrifft. Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes gibt folgende Analyse dieses Faktums: «Heute steht die Menschheit in einer neuen Epoche ihrer Geschichte, in der tiefgreifende und rasche Veränderungen Schritt um Schritt auf die ganze Welt übergreifen. Vom Menschen, von seiner Vernunft und schöpferischen Gestaltungskraft gehen sie aus; sie wirken auf ihn zurück, auf seine persönlichen und kollektiven Urteile und Wünsche, auf seine Art und Weise, die Dinge und die Menschen zu sehen und mit ihnen umzugehen. So kann man schon von einer wirklichen sozialen und kulturellen Umgestaltung sprechen, die sich auch auf das religiöse Leben auswirkt… Betroffen von einer so komplexen Situation, tun sich viele unserer Zeitgenossen schwer, die ewigen Werte recht zu erkennen und mit dem Neuen, das aufkommt, zu einer richtigen Synthese zu bringen ; so sind sie zwischen Hoffnung und Angst hin und her getrieben» (l.c. Art. 4). «Der Gang der Geschichte selbst erfährt eine so rasche Beschleunigung, daß der einzelne ihm schon kaum mehr zu folgen vermag. Das Schicksal der menschlichen Gemeinschaft wird eines und ist schon nicht mehr aufgespalten in verschiedene geschichtliche Abläufe. So vollzieht die Menschheit einen Übergang von einem mehr statischen Verständnis der Ordnung der Gesamtwirklichkeit zu einem dynamischen und evolutiven Verständnis» (l.c. Art. 5).
Dieses dynamische Verständnis drückt sich auch in einigen Formulierungen der Pastoralkonstitution über das sittliche Gewissen aus. Es heißt nicht etwa, wie eine gewisse traditionalistische Schule wohl gesagt hätte, daß der Katholik im Gewissen in allem mit der unveränderlichen Lehre der Kirche konfrontiert ist, in der ihm in allen wichtigen Fragen die gleichbleibenden und von allem Irrtum bewahrten Lösungen nicht nur der Bibel, sondern auch des natürlichen Sittengesetzes als verpflichtend vorgelegt werden. Es heißt vielmehr: «Durch die Treue zum Gewissen sind die Christen mit den übrigen Menschen verbunden im Suchen nach der Wahrheit und zur wahrheitsgemäßen Lösung all der vielen moralischen Probleme, die im Leben der einzelnen wie im gesellschaftlichen Zusammenleben entstehen» (l.c. Art. 16). Sicher hat die Kirche in ihren Hirten, die ihrerseits vom ganzen Volke Gottes lernen, ein gewichtiges Wort der Weisung und der Abwehr von Irrtum zu sagen, aber das Konzil warnt ausdrücklich vor der Meinung, als ob die Hirten der Kirche in der Lage wären oder sein sollten, für alle moralischen Probleme Lösungen anzubieten (l.c. Art. 43). Es wird klar anerkannt, daß die Kirche im Dialog mit der Welt einen Prozeß des Lernens und Empfangens und nicht nur des Lehrens und Gebens durchmacht (l.c. Art. 44). Das entscheidende Schlüsselwort scheint mir jedoch die Betonung des gemeinsamen Suchens zu sein, das das wache Gewissen charakterisiert. Es handelt sich um ein der Zukunft zugewandtes Suchen, bei dem die Erfahrungen der gesamten menschlichen Überlieferung nicht geringgeschätzt werden dürfen. Aber jedes romantische Zurückschauen auf «die gute alte Zeit» wird von der neuen Generation mit absoluter Verachtung bestraft und führt sogar zur Versuchung, mit der Überlieferung gewaltsam zu brechen.
Der Christ hat keinen Grund, ein dynamisches Menschenverständnis zu fürchten oder gar zu verdächtigen. Er glaubt an den Herrn der Geschichte. Die neue Dynamik ist ein Geschenk, wenn wir uns zwingen lassen, sorgsamer zwischen den bleibenden Werten und den verschiedenen geschichtlichen Verwirklichungs- und Annäherungsweisen zu unterscheiden. Die neue Erfahrungsweise und eine ihr entsprechende Reflexion hilft uns nicht wenig, die Dynamik christlicher Hoffnung und der Zielgebote christlicher Moral besser zu verstehen.
Viele Traktate der Moraltheologie begannen mit einer Abhandlung de fine ultimo, die an sich am Platz war und sehr Gutes enthalten mochte, aber gewöhnlich nur ein ziemlich statischer Vor- spann einer noch statischeren Morallehre blieb. Es fehlte die Einordnung in die heilssoziale und heilsgeschichtliche Dynamik der christlichen Hoffnung und in eine radikale Sicht der Geschichtlichkeit des Menschen.
Es gibt nur eine einzige geschichtliche Ordnung des Heils, und diese steht nicht etwa neben einer natürlichen Ordnung noch wird sie ihr als bloßer Überbau aufgepfropft. Es ist zwar wahr, daß sich im Leben des einzelnen der Ausblick auf das Reich der Gnade und des Glaubens vielfach erst allmählich öffnet. Aber was dem Glauben vorauslag, war nicht rein «natürlich». Soweit es gut war, hatte es schon den Charakter des Geschenkhaften und war von Gott her schon der Dynamik des Heils eingeordnet; und soweit es sich dieser Ordnung widersetzte, war es nicht gemäß der wahren Natur und Bestimmung des Menschen.
Wenn wir den Abgrund zwischen Religion und Leben wirksam überwinden wollen, müssen wir bis zu den Sprachregeln hin darauf achten, die christliche Hoffnung nicht in Gegensatz zu der Gesamtdynamik der menschlichen Geschichte und menschlichen Natur und nicht neben ihr zu behandeln. Der Schöpfer und Erlöser sind der gleiche Gott. Unsere Hoffnung auf die Auferstehung des Leibes, auf den neuen Himmel und die neue Erde ist nicht nur ein entscheidendes christliches Motiv für unsere Weltverantwortung. Sie hilft uns auch, den Sinn unserer so dynamischen Epoche besser zu verstehen und das Verständnis des «natürlichen Sittengesetzes», das heißt der allen Menschen zugänglichen sittlichen Erfahrung von allen starren Schemen und jeder Neigung zu Formalismus zu befreien. So können wir hoffen, daß unsere Naturrechtslehre nicht eine Wand gegen den Glauben und die christliche Hoffnung aufrichtet, sondern vielmehr als eine Art Vorevangelisation Ereignis der Offenheit und Gemeinsamkeit mit allen Menschen guten Willens wird.
Quelle: Studia Moralia 7 (1969), S. 7-31.
Wenn schon ist ein Gott im Menschen selbst zuhause.