Walter Lüthi, Die Auferweckung des Lazarus. Predigt über Johannes 11,1-57: „Wir sind ja heute in ganz besonderer Weise der kranke, der sterbende, der tote Lazarus. Es riecht ja allenthalben, es riecht in den Ehen, in den Familien, im Wirtschaftsleben und in der Politik, es riecht nach Leichen, es riecht nach Verwesung. Was wollen wir dieser Verwesung gegenüber tun als eben – glauben, glauben an den, der sagt: «Ich bin die Auferstehung und das Leben!»“

Die Auferweckung des Lazarus. Predigt über Johannes 11,1-57

Von Walter Lüthi

«Es lag aber einer krank.» Dieser Erkrankte ist uns be­kannt. Wir wissen seinen Namen. Wir kennen seine beiden Schwestern. Sein Wohnort – hier nicht unwesentlich –, Bethanien, liegt auf drei Viertelstunden nahe bei Jerusalem. Dass Lazarus krank liegt, ist das Allermenschlichste, was ihm passieren kann. Nicht nur der Mann im Hause der drei Geschwister liegt krank. «Es lag aber einer krank», das kann man sozusagen allerorts feststellen, wo Menschen leben. In den Spitälern, in den Krankenhäusern, hinter den langen Korridoren, in den kleinen Zimmern und grossen Sälen mit den vielen, vielen weissen Betten liegen sie krank. Ja nicht nur die Einzelnen, die Völker sind krank. Der Mensch überhaupt ist so dran wie dieser kranke Lazarus. Es ist geradezu ein Menschheitswort, das hier am Eingang dieses grossen Kapitels so merkwürdig, fast wie wenn man ihm seine Jahrtausende anmerkte, steht: «Es lag aber einer krank.»

«Da sandten seine Schwestern zu ihm und liessen ihm sagen: Herr, siehe, den du lieb hast, der liegt krank.» Jesus hat Lazarus lieb und hat auch seine Schwestern lieb. Umgekehrt ist es sicher auch der Fall, hat auch Lazarus Jesus lieb. Aber das ist hier nicht von grossem Belang. In heiliger Sachlichkeit reden die Schwestern hier nicht von der Christusliebe des Lazarus, sondern ihnen ist die Lazarusliebe Christi wichtig und erwähnenswert: «Herr, den du lieb hast, der liegt krank.» Sonst, wenn einer krank liegt, wenn einer ein kranker Lazarus wird, pflegt uns der Teufel einzuflüstern, das sei ein Beweis gegen die Liebe Gottes, sei ein schlagender Beweis dagegen, dass Jesus uns lieb hat. Die Schwestern von Bethanien aber stellen tapfer und unbeirrt fest: Unser Bruder ist zwar nun krank, aber du hast ihn dennoch lieb. Geht, sagt es allen kranken Brüdern, tragt es hinein in die Spitäler und durch die langen Korridore und in die grossen Säle und in die kleinen Zimmer mit den vielen weissen Betten, geht, sagt es den Kranken allen, den weinenden und den stöhnenden, den fluchenden und den betenden, geht, sagt es ihnen, dass Jesus den kranken Lazarus lieb hat. Geht hin und sagt es diesem Geschlecht, sagt es den schwerkranken Völkern, ruft es durch die Städte und tragt es in die Dörfer hinaus: «Siehe, den du lieb hast, der liegt krank.»

Jesus hat den kranken Lazarus lieb. Die beiden Schwestern kennen kaum die Tragweite des Wortes, das sie damit aussprechen. Es ist überhaupt beim vierten Evangelisten auffällig, und in diesem Kapitel ganz besonders, dass die Worte eigentlich anhaltend ihre Form sprengen. Der Inhalt der Worte ist immer wieder grösser als ihre Form, fast wie bei zu klein gewordenen Kleidern. Es weist da alles immer wieder über die Worte hinaus. Jesus hat Lazarus lieb, er hat ihn so lieb, dass er sich entschliesst, nach Bethanien zurückzukehren. Und was heisst das für ihn? Wir hörten am Schluss des letzten Kapitels, Jesus sei seinen Feinden entwichen. Die Nachricht von der Erkrankung des Freun­des ereilt Jesus somit nicht irgendwo, sondern auf dem Rückzug, um nicht zu sagen auf der Flucht. Jesus kommt ja eben von Jerusalem her, von Bethanien her, von Judäa her, und dort haben sie ihn bereits zweimal steinigen wollen.

Und nun hat er sich eben angeschickt, sich vor dem Zugriff der Feinde noch einmal in Sicherheit zu bringen. Und ausgerechnet auf diesem Weg ereilt ihn nun die Nachricht. Sie enthält einen indirekten Hilferuf der Schwestern. Warum sie ihn nicht direkt bitten, Lazarus zu besuchen, ist nur zu begreiflich. Die Schwestern wissen, wie heiss der Boden von Bethanien, so nah an Jerusalem, für Jesus jetzt geworden ist. Das erste aber, was Jesus auf die Nachricht hin tut, besteht darin, dass er die Weiterreise sofort stoppt und für zwei Tage unterbricht. Während dieser zwei Tage wird es ihm klar, dass der Ruf der Schwestern nicht nur der Ruf der Schwestern ist. Es ruft da ein anderer, sein Vater ruft: Zurück, zurück nach Judäa, zurück nach Bethanien, zurück nach Jerusalem, zurück an den Ort, wo Steine, die ihm gelten, bereit liegen. Die Jünger wehren ab. Er aber gibt ihnen die Antwort des Gleichnisses von dem Tag, der zwölf Stunden hat. Seine zwölfte Stunde ist zwar nahe, aber erst, wenn nach dem Rat und Willen des Vaters sein Tag zu Ende ist, wird er zu Ende sein. Den Zeitpunkt seines Todes bestimmen nicht die Feinde in Jerusalem, sondern der Vater im Himmel. Aber eben, nun scheint der Vater bestimmt zu haben, dass er zurück soll nach Judäa. Darum kehrt er mit seinen Jüngern um. Vom kranken Lazarus darf ihn nichts scheiden. Jesus ist bereit, den kranken Lazarus so lieb zu haben, dass er um seinetwillen die Steine und noch viel anderes, was in Jerusalem für ihn bereit liegt, nicht scheut. So geheimnisvoll ist seine Liebe, dass er bereit wird, für den kranken Lazarus selber ein kranker Lazarus zu werden. Und damit wird sich an ihm die alte Verheissung erfüllen: «Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.»

Aber nun steht es um Lazarus noch schlimmer. Unterdes­sen ist Lazarus nicht mehr nur krank; Lazarus ist nun tot. Jesus weiss es und teilt es den Jüngern mit. Thomas hat durchaus recht, wenn er daraufhin antwortet: «Lasst uns mitziehen, dass wir mit ihm sterben!» Jesus kommt und findet Lazarus bereits vier Tage in der Gruft. Zweimal, einmal von Martha, und daraufhin genau wörtlich von Maria, als hätten sie es miteinander abgemacht – ach, sie werden es ja in diesen Tagen der Schmerzen und der Angst hundertmal zueinander gesagt haben! –, zweimal bekommt Jesus die Worte zu hören: «Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.» Das ist wieder solch ein Menschheitswort. Dies Wort hängt sozusagen immer wieder in der Luft. Auch draussen auf dem Hörnlifriedhof, wenn wir uns dort versammeln, entfährt es den Trauernden: Herr, wärest du da gewesen, mein Bruder, meine Schwes­ter, meine Tochter, mein Sohn, meine Frau, mein Mann, mein Vater, meine Mutter wären nicht gestorben. Aber nun bist du nicht da gewesen, und nun sind sie halt gestorben, und das ist entsetzlich traurig. Es ist eine Demütigung für Jesus, dass er sich das immer wieder muss sagen lassen, dass er sich das hier zweimal muss vorhalten lassen von den beiden Schwestern, die doch an ihn glauben. Es ist eine Demütigung für ihn, dass auch die Gäste, die von Jerusa­lem herausgeströmt sind, mit einer gewissen Beimischung von Hohn und Genugtuung einstimmen in diesen Ruf: «Konnte, der dem Blinden (Kap. 9) die Augen aufgetan hat, nicht verschaffen, dass auch dieser nicht stürbe?»

Eine Demütigung. Aber was hier geschieht, ist etwas noch ganz anderes, für Jesus noch viel Schwereres als nur eine persönliche Demütigung. Es ist euch sicher auch aufgefal­len, in wie merkwürdiger Häufung hier von mächtigen, geheimnisvollen Bewegungen die Rede ist, die auf dem Weg zum Grab des Lazarus bei Jesus vor sich gehen.

Zweimal heisst es von ihm, dass er «ergrimmte in seinem Geist». Einmal heisst es, «er betrübte sich selbst», und einmal «er vergoss Tränen». Luther übersetzt es schonend, «die Augen gingen ihm über», aber es heisst ausdrücklich, «er weinte». Warum das alles? Johannes gibt keine Erklä­rung; aber wir wissen aus der ganzen übrigen evangeli­schen Überlieferung, dass in der Regel im Zusammenhang mit seinem Kreuzesweg solche Vorgänge bei Jesus zu beobachten sind. Er weint über Jerusalem. Bei der Entlar­vung des Judas ist seine Seele betrübt. Seine Seele ist betrübt bis in den Tod, und er zittert und zagt und schreit, dort in Gethsemane. Und nach den Worten dieses 11. Kapitels hier kann kein Zweifel darüber bestehen, dass hier für Jesus eine Gethsemane-Stunde geschlagen hat. Der Weg zum Grab des Lazarus ist für ihn ein Gethsemane-Weg. Darum, es erschütterte ihn. Darum, er war betrübt bei sich selbst. Darum, er weinte. Er weint nicht über den Lazarus, den er einen Augenblick später auferweckt, sondern er weint über die Gäste, die herausgekommen sind, er weint über Jerusalem, über Israel, kurz über alles, was jetzt bald losbrechen wird.

Liebe Gemeinde, das ist’s! Jesus ist bereit, für den kranken Freund ein kranker Lazarus zu werden, aber er ist noch zu mehr bereit. Die Gruft des Lazarus, die jetzt vor ihm liegt, erinnert ihn an die andere Gruft, an der die Steinmetzen im Garten Josephs von Arimathia arbeiten; man könnte drüben in Jerusalem ihr Hämmern eben in diesen Tagen hören. Bald wird er selber mit Grabtüchern eingewickelt. Bald kommt er selber hinter den Stein. Er ist nicht nur bereit, ein kranker Lazarus zu werden, sondern ein toter und begrabe­ner Lazarus. Um das geht es hier. Darum sein Kampf. Darum seine Erschütterung. Es ist sein Kampf. Den kann ihm niemand nachmachen oder auch nur irgendwie nach­fühlen. Es ist sein einmaliger Kampf. Sein Weg zu Lazarus, zu jenem gestorbenen Lazarus dort und zu jedem toten Lazarus, ist sein Weg zum eigenen Tod am Kreuz. Jene vielen Gäste haben recht, die, wie sie ihn weinen sehen, sagen: «Siehe, wie hat er ihn so lieb gehabt!» Aber sie haben umfassender recht, als sie es meinen und wahrhaben wollen. Sagt es allen, nicht nur denen, die noch in den weissen Betten liegen, sondern sagt es allen, die an schwar­zen Särgen stehen müssen, sagt es allen, die sich die Haare raufen und die an Särgen rufen und schreien: «Herr, wärest du da gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben», sagt es ihnen allen: Der Herr ist da, wenn ein Bruder stirbt. Der Herr ist dann nicht fern. Wenn der Herr an einem Ort nicht fehlt, dann ist es an Totenbetten, dann ist es an Särgen, dann ist es an Gräbern, dann ist es an den Orten, wo die Verwesung schafft. Seine Herrlichkeit wird offenbar bis in die Verwesung hinein und bis ins Grab. Dem toten Lazarus zuliebe wird Jesus ein toter Lazarus.

Aber nun führt der heilige Weg der ewigen Liebe nicht nur zum kranken und nicht nur zum toten Lazarus, nicht nur ans Krankenbett und an die Gruft; Gottes Weg zu uns armen Menschen ist noch viel geheimnisvoller. Aus dem Kampf Christi, den er für uns kämpft, wird ein Sieg. Den Jüngern hat er gesagt: «Die Krankheit ist nicht zum Tode. Lazarus, unser Freund, schläft, und ich gehe hin, dass ich ihn auferwecke.» Und weil ihm der Vater den Sieg über den Tod des Lazarus geschenkt hat, sagt er der Martha: «Dein Bruder soll auferstehen.» Und wie Martha im Sinn eines allgemeinen Auferstehungsglaubens, den auch die frommen Juden bekennen, auf diese Ankündigung eingeht, sagt er ihr: «Ich bin die Auferstehung und das Leben.» Damit ist das entscheidende Wort gefallen. Hier wird es nun hell, ganz hell, wie wenn ein Vorhang beiseite geschoben würde. «Ich bin die Auferstehung und das Leben», das ist eines dieser für das Johannesevangelium so bezeichnen­den «Ich bin». So wie er anderswo sagt: Ich bin das Brot des Lebens, ich bin das Licht der Welt, ich bin der gute Hirte, ich bin die Wahrheit, ich bin der Weg, so hören wir ihn hier sagen: «Ich bin die Auferstehung und das Leben»; ich bin es, ego eimi, nicht nur, es gibt eine Auferstehung und ein ewiges Leben, nein, viel bestimmter: «Ich bin es.» In ihm ist die Auferstehung und das Leben enthalten. Er ist es so umfassend, so ausschliesslich, dass es ausser ihm die Auferstehung und das Leben nicht gibt. An dem Weg, den er jetzt dem kranken und dem toten Lazarus zuliebe geht, an diesem Weg hängt unser Leben. Sein Gang ist jetzt ein Gang um Leben und Tod schlechthin.

«Ich bin», «ego eimi»! Wie das gemeint ist, das wird er nun sofort zeigen, sozusagen vordemonstrieren. Wir hören seine Frage: «Wo habt ihr ihn hingelegt?» Sie führen ihn zum Grab. Wir hören seinen Befehl: «Hebt den Stein ab!» Martha tritt entsetzt abwehrend dazwischen. Nein, die Verwesung hat schon ihr Werk an ihm begonnen: «Herr, er stinkt schon; denn er ist vier Tage gelegen.» Jesus schiebt sie beiseite. Nun steht er am Grab. Er schaut zum Himmel. Er dankt dem Vater, «dass du mich erhört hast». Dann ruft er mit lauter Stimme: «Lazarus, komm heraus!» Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füssen und Händen und sein Angesicht verhüllt mit einem Schweisstuch. Jesus spricht zu ihnen: «Löset ihn auf und lasst ihn laufen!»

Wir können diesen Bericht nur hören, wenn wir vorher das andere gehört haben, jenes: «Ich bin die Auferstehung und das Leben», wenn wir bedenken, wie bald Christus selber auferstehen wird von den Toten. Christus selber wird gar bald von den Leintüchern erlöst, der Stein wird abgewälzt werden von seinem Grab. Hinterm offenen Grab des Lazarus von Bethanien tritt gleichsam das gesprengte Grab der Ostern in Sicht. Darum muss es uns auffallen, wie rasch Lazarus, nachdem die Auferweckung an ihm geschehen ist, uninteressant wird. Er wird in diesem Kapitel kaum mehr erwähnt. Er taucht auf wie so manch andere Gestalt der Leidensgeschichte, zeigt auf Jesus hin, um wieder zu verschwinden. Es geht eben hier nicht um die Auferwe­ckung des Lazarus, sondern bereits um das viel Umfassendere, um die Auferstehung Jesu. Jesus wird nicht nur krank um unsertwillen, nicht nur sterbend um unsertwillen, so lieb hat er den Lazarus, dass er für Lazarus von den Toten aufersteht. Was hier an der Gruft des Lazarus geschieht, weist hin auf Grösstes und Letztes. Jesus wird anders auferstehen als Lazarus. Lazarus ist nach seiner Auferwe­ckung weiterhin ein sterblicher Mensch, der eines Tages wieder erkranken und sterben wird. Jesus aber wird nach seiner Auferstehung nicht mehr Mensch sein, wird nicht mehr zittern und zagen und weinen, sondern wird aufer­standen sein in Herrlichkeit und für immer. Für immer und für alle. Er wird nicht nur für sich auferstanden sein wie Lazarus, gleichsam privatim, nein, seine Auferstehung greift über seine Person hinaus. Christus ist auferstanden als Erstling, ist auferstanden für alle, auferstanden – ja, für wen? «für alle, die an mich glauben». «Ich bin die Aufer­stehung und das Leben; wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben. Glaubst du das?»

Damit, liebe Gemeinde, bricht eine Frage auf, eine Frage, die sich durch dies ganze grosse Kapitel, ja durchs ganze vierte Evangelium hindurch zieht, und das ist die Frage nach dem Glauben. Dies Kapitel zeigt uns, was Glaube heisst, man könnte es geradezu das Kapitel des Glaubens nennen. Wer nicht glauben konnte oder nicht glauben wollte, hat sich zu allen Zeiten denn auch ganz besonders an diesem Kapitel gestossen. Den Männern des 18. Jahr­hunderts war dies Kapitel das rote Tuch. Einer der scharf­sinnigsten Denker, Spinoza, hat darüber gesagt, er würde sein ganzes System drangeben, wenn er das, was in diesem Kapitel stehe, glauben könnte. «Glaubst du das?» Diese Frage Jesu an Martha ist damit auch uns gestellt. Glaubst du, dass das für dich persönlich gilt, dass Christus die Auferstehung ist und das Leben? Glaubst du, dass du in deiner Todesstunde getrost wirst sagen dürfen: Ich werde leben, ob ich gleich stürbe? Und wenn es noch nicht ans letzte Ende geht, wenn du noch nicht sterben musst und noch leben darfst, wird dir dieser Glaube in allen Anfech­tungen und Schwierigkeiten deines Lebens zum Halt und zur Kraft werden? Glaubst du, dass du mit Christus auch leben darfst? Denn «wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben». Wer das glauben könnte! Für solch einen Leben und Tod überwindenden Glauben wäre es schon der Mühe wert, «sein System dranzugehen». Denn wir sind ja heute in ganz besonderer Weise der kranke, der sterbende, der tote Lazarus. Es riecht ja allenthalben, es riecht in den Ehen, in den Familien, im Wirtschaftsleben und in der Politik, es riecht nach Leichen, es riecht nach Verwesung. Was wollen wir dieser Verwesung gegenüber tun als eben – glauben, glauben an den, der sagt: «Ich bin die Auferstehung und das Leben!» Wer das glauben könnte, der dürfte mit Martin Luther sagen: «Da glauben wir das Liedlein nicht mehr ‚Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen‘, sondern da lautet’s: ‚Mitten wir im Tode sind von dem Leben umfangen‘» (Auslegung des Magnifikats). Ein Geschlecht, das hier glauben darf, kann leben und sterben. Wir können beides nicht mehr.

Aber nun beachte doch, was für eine liebreiche Unterwei­sung im Glauben uns dieses Kapitel zeigt. Wir sehen hier deutlich drei Gruppen: die Jünger, die Geschwister und die Gäste. Allen drei Gruppen wird zugebilligt und von allen wird liebreich anerkannt, dass sie an ihn glauben. Und doch wissen wir genau, dass dieser Glaube noch durch eine völlige Verschüttung hindurch muss. Es wird bald ein Gewitter darüber hereinbrechen, das so verheerend wirken wird, dass sozusagen nichts mehr von diesem Glauben wird sichtbar sein. Aber trotz ihrer Schwachheit, die am Karfrei­tag und am Ostermorgen ans Licht kommen wird, wird hier nicht daran gezweifelt, dass sie jetzt schon glauben. «Glaubst du das?» Ihre Antwort auf diese Frage lautet nicht pausbackig und keck. Sie wissen wohl, diese Männer und Frauen der Bibel, dass nicht sie es sind, die über ihren Glauben verfügen, so wie man über sein Taschentuch verfügt, das man beliebig hervorziehen kann. Nein, man hat den Glauben nicht in der Tasche. Der Glaube ist das geheimnisvollste aller Geschenke, für das man nur jeden Tag aufs Neue danken und um das man nur alle Morgen neu bitten kann.

«Glaubst du das?» Weil Jesus weiss, wie es um unseren Glauben steht, schlägt er mit dieser Frage nicht auf den Tisch. Seht doch, wie liebreich er der Glaubensarmut seiner Jünger Rechnung trägt, wie schonend er sie auf kommende Glaubenserschütterungen vorbereitet! Jesus weiss, welch eine zarte Pflanze der Glaube ist. Seht, mit wie zarten Fingern er auch im Gespräch mit den beiden Leid tragen­den Schwestern die Fragen des Glaubens berührt. Ja er selbst gibt sich keineswegs als einer, der über unseren Glauben verfügen könnte. Er, der der Herr unseres Glau­bens wäre, er ist hier der Diener unseres Glaubens gewor­den. Er will sich auch nicht von ferne den Anschein geben, als ob er in Glaubensdingen etwas zwingen oder zwängen oder drängen könnte. Jesus drängt nicht. Er verfährt nicht mit den Gläubigen wie in einer Turnhalle oder wie auf dem Exerzierplatz. Er verfügt so sehr nicht über unseren Glau­ben, dass er sich’s sogar gefallen lässt, dass es Menschen gibt, die von Bethanien weggehen und nicht an ihn glau­ben, dass es Menschen gibt, die von der Auferweckung des Lazarus weggehen und stehenden Fusses beschliessen, dass er nun sterben muss, und einen Haftbefehl wider ihn ausgeben. Jesus wartet, bis der Glaube, diese geheimnisvol­le Frucht, heranreift. Wohl dem, der nicht brutal unreife Früchte schüttelt.

Und doch ist uns nun die Frage in aller Freundlichkeit mit letztem göttlichem Ernst gestellt, die Frage dieses Kapitels: «Glaubst du das?» Nicht wir stellen sie. Christus stellt sie uns. Lassen wir sie uns stellen! Nehmen wir sie mit, und bewegen wir sie in einem feinen und stillen Herzen. Christus spricht: «Ich bin die Auferstehung und das Leben». Glaubst du das? «Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe». Glaubst du das? – «Und wer da lebet und glaubet an mich, wird nimmermehr sterben», trotz Leichengeruch! – Glaubst du das? «Selig sind, die nicht sehen, und doch glauben.»

Quelle: Walter Lüthi, Johannes – Das vierte Evangelium ausgelegt für die Gemeinde, Basel: Friedrich Reinhardt, 1958.

Hier die Predigt als pdf.

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