Theologie als Biographie. Eine These und ein Paradigma[1]
Von Johann Baptist Metz
I. Die These
Die katholische Theologie in der Neuzeit scheint mir weithin geprägt von einem tiefgreifenden Schisma zwischen theologischem System und religiöser Erfahrung, zwischen Doxographie und Biographie, zwischen Dogmatik und Mystik. Natürlich bedeutet diese Feststellung nicht, daß in der neuzeitlichen katholischen Theologie der einzelne Theologe nicht auch fromm, ja mystisch gewesen sei und ist. Doch nicht um diese private Versöhnung von Lehre und Lebensgeschichte geht es hier, sondern darum, daß diese Versöhnung nicht selbst Theologie wurde, daß sie gewissermaßen nichtöffentlich, kommunikabel, geschichtlich belangvoll gelang – mitten im breiten Strom der Theologie.
Solange sich die gesamtgesellschaftliche Lebenswelt selbst durch ein religiöses Endziel definierte, solange die theologische Vernunft als Schlüsselvernunft, als allgemein zustimmungsfähig galt, konnte die Identitätskrise der Theologie, die durch dieses Schisma heraufbeschworen war, leidlich verborgen bleiben. Supplet societas! Doch schließlich wurde diese Entzweiung immer offensichtlicher. Die religiöse Erfahrung, die Artikulation der Lebensgeschichte vor Gott, die mystische Biographie geriet immer mehr ins Abseits der Doxographie des Glaubens, so daß sie ihre Erfahrungsinhalte immer mehr subjektivistisch-impressionistisch demontierte und deshalb auch immer unfähiger wurde, sie in die Öffentlichkeit des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens einzubringen. Die «eigentliche» Theologie hingegen, die Dogmatik, wurde immer mehr zur objektivistisch verkümmerten Lehre, wirkte nicht selten wie die zum System gewordene Berührungsangst vor dem unbegriffenen Leben. Ich meine hier vor allem die Regel der Schultheologie, die einzelne Ausnahmen bestätigen mögen. Die üblichen Versuche unserer Zeit, dieses Schisma zu überbrücken, wirken noch eher wie Anzeichen seiner anhaltenden Herrschaft. So fragt man heute oft und viel nach der «Relevanz» der dogmatischen Lehre, nach ihrem «Sitz im Leben», nach ihrem Frömmigkeitswert, nach ihrer praktisch-pastoralen Bedeutung – und gibt damit doch indirekt zu, daß diese Lehre von sich aus nichts oder kaum etwas mit all dem zu tun hat und deshalb auch nicht prägend, rettend oder verwandelnd in die religiöse Lebenswelt eingreift.
Wie müßte eine Theologie aussehen, der es gelingt, dieses Schisma zwischen Dogmatik und Lebensgeschichte zu beenden und in schöpferischer Vermittlungskraft das lang Entzweite wieder zusammenzuführen?
Ich möchte eine solche Theologie, versuchsweise und um die Absicht zu kennzeichnen, lebensgeschichtliche Dogmatik nennen, eine Art Existentialbiographie. «Biographie» meint hier nicht einfachhin literarische Spiegelung der Subjektivität, um (wie das Goethe einst definierte) in dieser Spiegelung ein Symbol zu gewinnen für Welt- und Lebensdeutung überhaupt. Biographisch soll eine solche Theologie heißen, weil die mystische Biographie der religiösen Erfahrung, der Lebensgeschichte vor dem verhüllten Antlitz Gottes, in die Doxographie des Glaubens eingeschrieben wird. Biographisch ist sie auch, insofern sie nicht eine monomane Ableitungstheologie ist, die sich ihre Stimmigkeit und Unwiderleglichkeit letztlich um den Preis der Tautologie erkauft, sondern begrifflich abgekürzte und verdichtete Erzählung der Lebensgeschichte vor Gott.
Lebensgeschichtliche Theologie muß «das Subjekt» ins dogmatische Bewußtsein der Theologie erheben. Damit ist keineswegs einem neuen theologischen Subjektivismus das Wort geredet. «Subjekt» ist ja nicht eine beliebige, austauschbare Bestimmung. Subjekt ist der in seine Erfahrungen und Geschichten verstrickte und aus ihnen immer wieder neu sich identifizierende Mensch. Das Subjekt in die Dogmatik einfuhren, heißt deshalb auch, den Menschen in seiner religiösen Lebens- und Erfahrungsgeschichte zum objektiven Thema der Dogmatik erheben; heißt Lehre ins Leben wenden und Leben in die Lehre wenden; heißt also Dogmatik und Lebensgeschichte miteinander versöhnen, heißt schließlich : theologische Doxographie und mystische Biographie zusammenbringen.
Dies alles steht nicht unter dem Interesse einer preziösen Außenseitertheologie, sondern ist zu verstehen als Verwirklichung der Schultheologie und ihrer Systematik einerseits, sowie als lebensgeschichtliche Dogmatik des durchschnittlichen Christen andererseits. In dieser lebensgeschichtlichen Vermittlung von Theorie und Praxis artikuliert sich theologische Reflexion als mystische Biographie eines undramatischen Lebens aus dem Glauben, als Geschichte seiner alltäglichen Bewährung, ohne große Wandlungen und Wendungen, besondere Erleuchtungen und Konversionen. Darum geht es in einer lebensgeschichtlichen Theologie, und nicht vorwiegend um die große, interessante, reiche und bewegte Subjektivität, die (gewissermaßen paradigmatisch und stellvertretend für die anderen, die Sprachlosen und «Leblosen») in der Lehre durchschlägt und das System lebensgeschichtlich dramatisiert. In ihr wird vielmehr sichtbar, wie sich gerade die Lebensgeschichte des Volkes, die religiöse Alltags- und Durchschnittserfahrung, geradezu die kollektive Routineerfahrung des Katholiken im Kanon der Lehre selbst buchstabieren läßt. Keine besonderen Begabungen oder Widerfahrnisse sind vorausgesetzt, keine steile Mystik ist unterstellt; immer freilich geht es um jene Mystik, ohne die Glauben nie und nimmer ist. Darum aber ist die lebensgeschichtliche Theologie gerade Mystagogie für alle, ohne Vulgarisierungs- angst, ohne Berührungsangst gegenüber dem alltäglichen, langweiligen, fast monomanen Leben und seinen kaum entzifferbaren religiösen Erfahrungen und Aufschwüngen.
Wer bedürfte einer solchen lebensgeschichtlichen Dogmatik mehr als der Christ, der sich – trotz aller aktuellen Rede vom Priestertum aller Gläubigen, von der Kirche als Volk Gottes und trotz aller Beschwörung der Bedeutung des Laien in der Kirche – schwertut, bei der von der Theologie veröffentlichten Lehre wirklich «dabei zu sein», von ihr gemeint und betroffen zu sein, in ihr buchstabiert und in seiner ihm selbst zumeist verborgenen Mystik erraten zu sein? Und wo bedürfte er ihrer mehr als in unserer heutigen Gesellschaft? In einer Gesellschaft, in der bereits die fragile Identität des Menschen beklagt, der «Tod des Subjekts», das «Ende des Individuums» angekündigt wird? In einer Gesellschaft, in der die lebensgeschichtlich gespeisten Erfahrungen und Phantasien des einzelnen immer weniger Schritt halten mit den Mechanismen und Zwängen einer von fühlloser Rationalität konstruierten Welt? In der diese lebensgeschichtlichen Erfahrungen immer mehr wie eingemauert wirken in eine fugenlose «überraschungsfreie» Computer-Welt, die die systemkonformen Erwartungen stabilisiert, widerspenstige Hoffnungen und Träume hingegen immer mehr austreibt oder nivelliert? In einer Gesellschaft schließlich, in der alle lebensgeschichtlichen Muster wie vorfabriziert, wie ausgestanzt erscheinen und in der darum Identitätsmüdigkeit oder Langeweile an den Seelen frißt?
In einer lebensgeschichtlichen Theologie muß auch die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie neu gestellt werden. Dabei ist zu vergegenwärtigen, daß die wichtigsten Errungenschaften in der Theologie und Kirchengeschichte allemal einer wissenschaftlich «unreinen» Theologie entstammen, in welcher Biographie, Phantasie, akkumulierte Erfahrung, Konversionen, Visionen, Gebete unlöslich ins «System» verwoben sind.
Dies bedingt, daß auch die Frage nach dem adäquaten Subjekt der Theologie neu gestellt und kritisch überdacht werden muß. Wer ist denn dieses Subjekt? Der Gelehrte? Der Professor? Der Prediger, der Seelsorger? Der mit seiner eigenen Existenz gestikulierende Mystiker? Oder aber auch der einzelne, seine Lebensgeschichte vor Gott artikulierende Christenmensch? Oder die vielfältigen Gruppen? Oder gar und anders das Volk, die Gemeinschaft, — das Volk, das sich eine kollektive religiöse Biographie schreibt wie einst Israel?
Wie immer es sei: Theologie ist auch heute nicht einfach Professorentheologie, ist nicht identisch mit Berufstheologie. Erst recht darf dann eine lebensgeschichtliche Theologie sich nicht in die Darstellungsmuster einer exakten und normierten Wissenschaftssprache einzwängen lassen. Die gelebte Überzeugung und gelehrte Erfahrung des Glaubens läßt sich nicht durch die metalogischen Regeln analytischen Argumentierens hinreichend begründen und muß es sich daher auch selber verbieten, sich dem Vokabular der Exaktheit bedingungslos unterzuordnen. Theologie ist eben nicht – und dies in keinen Stücken – eine Naturwissenschaft des Göttlichen.
Die hier begegnende Einheit von Lehre und Leben, von theoretischer Dogmatik und praktischer Lebensgeschichte kann daher eigentlich nur einer Theologie als schlechthin unzeitgemäß, als archaisch und regressiv erscheinen, die sich ihrerseits selbst längst einem standardisierten Wissenschaftsbegriff unterworfen hat und ihre Gedanken domestizieren ließ und die deshalb kaum mehr weiß, wo ihr der eigene Kopf steht oder gar das eigene Herz schlägt. Als ob sich Theologie die völlige theoretische Ächtung der Unmittelbarkeit, der Naivität gelebter Überzeugung oder überzeugten Lebens je leisten könnte, ohne ihre Identität preiszugeben! Freilich, wirkt die Sprache einer Theologie, die dem Rechnung trägt, nicht zu poetisch, zu lyrisch oder gar erdichtet, zu konfessorisch und zu emphatisch, um der Sache der Theologie noch allgemein Verständlichkeit und Zustimmungsfähigkeit erhalten zu können?
Dagegen muß jedoch gefragt werden, warum narrativ-biographische Theologie sich dergestalt in sprachkritischer Kleinmütigkeit selber verleugnen und nicht den Mut haben soll, auf einer eigenen, anderen, situations- und sachgerechten Sprache mit aller Entschiedenheit zu beharren.
Wer es Heinrich Böll oder Peter Handke nicht glauben will, der kann es sich z.B. von Klopstock sagen lassen: «Es giebt Gedanken, die beynahe nicht anders als poetisch ausgedrückt werden können; oder vielmehr, es ist der Natur gewisser Gegenstände so gemäß, sie poetisch zu denken, und zu sagen, daß sie zuviel verlieren würden, wenn es auf eine andere Art geschähe, Betrachtungen über die Allgegenwart Gottes gehören, wie mich deucht, vornahmlich hierher.»
Im deutschen Sprachraum tun wir uns mit solchen Äußerungen besonders schwer-wegen unserer «deutschen Ideologie», wegen unserer Monokultur der Verbindlichkeit, in der als verläßlich und der Beliebigkeit enthoben eigentlich nur gilt, was sich «wissenschaftlich» nennen kann. Entsprechend muß freilich bei uns die Bezeichnung «Wissenschaft» auch mehr decken als sonst irgendwo in der Welt. Hätten wir, wie in angelsächsischen Ländern, in slawischen und romanischen, eine Kultur der öffentlichen Verbindlichkeit der Poesie, auch nur des Essayistischen, dann wäre nicht der Vorwurf des «Dilettantismus» so schnell bei der Hand. Dilettantisch im präzisen Sinn scheint mir eher die Ahnungslosigkeit jener, die ohne Identitätsschock die theologische Sprache frischfröhlich einer standardisierten Wissenschaftssprache unterwerfen.
II. Das Paradigma
In Karl Rahners Lebenswerk ist m.E. in wichtigen Ansätzen der Versuch gelungen, das beklagte Schisma zwischen Dogmatik und Lebens geschickte zu beenden — und dies in einer schöpferischen Vermittlungskraft, mit einem Einbewältigungsvermögen, das an die großen Vermittlungen in der abendländischen Theologiegeschichte denken läßt. Karl Rahners Werk kann als Unternehmen einer lebensgeschichtlichen Dogmatik in unserer Zeit, als mystische Biographie eines Christenmenschen heute verstanden werden. Ich will das kurz verdeutlichen.
In Fachkreisen, so scheint es, ist eine erste Sortierung, Ortung und Wertung Rahnerscher Theologie nicht allzu schwer, auch wenn man das Außergewöhnliche, Immense und Beispiellose dieses theologischen Werks fühlt und anerkennt, das sich selbst selten anders bezeichnet denn als Fortführung der traditionellen Schultheologie, als Entbindung ihrer teilweise verschütteten und verdrängten Intuitionen und Intentionen, ihrer inneren Dynamik – mit den Mitteln transzendentaler Reflexion,
Was nun besagt bei Rahner «transzendentale Theologie»? Rahners Theologie hat das System der Schultheologie auf «das Subjekt» hin aufgesprengt. Seine Theologie hat «das Subjekt» heraus gebrochen aus dem Fels eines scholastischen Objektivismus, in den diese Schultheologie allenthalben eingeschlossen war. «Subjekt» ist dabei keine reine Reflexionsbestimmung, die selbst wieder beliebig objektivierbar ist. Es bezeichnet den Menschen in seiner Erfahrungsgeschichte, die selbst nicht ohne Erzählelemente identifiziert und mitgeteilt werden kann. In diesem Sinn hat Rahner die religiöse Lebensgeschichte zum objektiven Thema der Dogmatik erhoben.
Am augenfälligsten und deshalb immer auch zitiert ist die beispiellose, nahezu tumultuarische Vielfalt der Themen dieses Werks. Em beliebiger Blick auf beliebige Seiten der Rahnerschen Bibliographie, deren ausgedruckter Umfang allein schon manch gedrucktes Theologen-Oeuvre in den Schatten stellt, kann das bestätigen. Und dabei zugleich erkennen lassen, daß es sich hier nicht nur um eine Vielfalt von Themen handelt, sondern auch von Behandlungsweisen und Aussageformen quer durch die verschiedensten Bereiche des theologischen, kirchlichen und öffentlichen Lebens. Das Ganze ist ganz einfach dies: em theologisch substantieller Lebensbericht aus dem zeitgenössischen Christentum. Hier regiert nicht ein klassischer Fragekanon, hier werden nicht nur Fragen behandelt, die vom System her zugelassen sind. Der Kanon ist das Leben, nicht das geschmäcklerisch gewählte, sondern das aufgedrängte, das unbequeme. Rahner hat sich nicht einfach für das Interessante interessiert, sondern sich von der Not, den Fragen der anderen beispiellos verpflichten lassen.
Die Vielfalt des Werks ist deshalb nicht nervöse oder gar modisch-eitle Beliebigkeit, sie hat selbst System: Die große Reduktionsbewegung, die in diesem Werk steckt, gilt nicht, wie man oft meint, dem Versuch, eine theologische Lehre auf eine andere zurückzuführen, sie gilt vielmehr der einzigartigen Anstrengung, Lehre und Leben unter unseren heutigen Verhältnissen zusammenzuzwingen. Deshalb wird ihm auch das wissenschaftliche Leben zur Theologie – und nicht, wie üblicherweise, die Theologie zur Wissenschaft in einem bereits vorausbestimmten fremdformulierten Sinn. Deshalb werden ihm schließlich auch Alltagsfragen zu theologischen Fragen – zum Greuel jener, die sich um der vermeintlichen Wissenschaftlichkeit der Dogmatik willen aus all diesen Fragen heraushalten und sich auf die «klassischen Fragen» beschränken, die freilich allemal die Lebensfragen von vorgestern sind, die Lebensfragen aus einer Zeit, da die Dogmatik sich eben noch nicht darauf beschränkt hatte, bloß Begriffe früherer Erfahrungen zu formulieren, sondern jeweils auch neue Erfahrungen mit diesen Begriffen mitzuteilen und zu tradieren – opportune, importune, wissenschaftlich oder «dilettantisch», wie Rahner seine Überbeanspruchtheit von Fragen, Erfahrungen und Leben gern charakterisiert; doch wer sind hier wirklich die Dilettanten, frage ich.
Lebensgeschichtliche Dogmatik, biographisch, narrativ, konfessorisch, und in allem wie kaum eine zweite Theologie ins Lehrhaft-Objektive gewendet: dies läßt auch noch ganz andere Ahnen und historische Prototypen der Rahnerschen Theologie vermuten als die üblich aus Thomismus und Transzendentalphilosophie angeführten. Ich denke an Augustinus, an Bonaventura, an Newman, vielleicht an Pascal, vielleicht an Bonhoeffer. Natürlich geht es dabei nicht um nachweisliche Abhängigkeiten (obwohl Rahner Wertvolles und Wichtiges auch zur patristischen Tradition geschrieben hat, obwohl er Thomas näher bei Augustinus als bei den Thomisten sieht, obwohl er Tauler immer schon mehr geliebt hat als Suarez und Molina), es geht, sage ich, dabei nicht um nachweisliche Abhängigkeiten, sondern um vermutete Verwandtschaften in Anlage, Eigenart und Rang des theologischen Werks. Eine Theologie wie die Rahners hat nicht nur unterschiedliche, oft gegensätzlich auseinanderlaufende Nachfahren, die sich alle gleichwohl zu Recht auf ihn berufen mögen ; sie hat zumeist auch sehr unterschiedlich verzweigte, ja widersprüchlich entzweite Ahnen; Klassiker sind am wenigsten reinrassig – in ihrer Vorgeschichte wie in ihrer Nachgeschichte. Und so gehört Rahners Theologie, die als religiöse Existentialbiographie gerade theologische Doxographie ist, beides in einem und ständig ganz, durchaus in die Nähe eines theologischen Typus, dem sie systemgeschichtlich praktisch nie zugeordnet wird: der großen lebensgeschichtlichen Theologie.
Für eine lebensgeschichtliche Dogmatik gilt: im unkalkuliert Vielfältigen allein kristallisiert sich auch die Einheit. Wer sich bloß auf die «Prinzipien» der Rahnerschen Theologie beschränken wollte, würde am Ende vielleicht nur erhabene Tautologien nach Hause tragen. Der Tenor, das Thema dieses Werks ist nur in seinen Variationen zu hören. Oder anders: das System ist nicht ohne die Geschichten, die Lehre nicht ohne die mitgeteilten, erzählten Erfahrungen, die Doxographie nicht ohne die mystische Biographie zu verstehen. Schade, hört man zuweilen sagen, daß Rahner keine Dogmatik geschrieben hat. Er hat sie geschrieben! Lebensgeschichtliche Dogmatik, mystische Biographie in dogmatischer Absicht sieht so aus! Sein Werk ist genau das System, die Summa, die einem solchen theologischen Ansatz zugemutet und uns vergönnt ist.
Es ist hier nicht möglich, wohl auch nicht erforderlich, den Duktus lebensgeschichtlicher Dogmatik in den einzelnen theologischen Themen und Traktaten nachzuweisen, die Karl Rahner bislang behandelt hat. Es wäre, glaube ich, nicht schwer, das erzählende, auf religiöse Lebensgeschichte bezogene, mystisch- existentialbiographische Element in seinen christologischen, soteriologischen, eschatologischen, geschichtstheologischen Arbeiten herauszustellen, von anderen Themenbereichen der Theologie zu schweigen. Die stärkste Vermutung gegen eine lebensgeschichtliche Behandlungsart provoziert wohl die Trinitätstheologie. Darum möchte ich im Blick auf sie wenigstens aus der Einleitung zu Rahners Traktat «Der Dreifältige Gott als transzendenter Urgrund der Heilsgeschichte» zitieren. In ihr betont Rahner, «daß das Geheimnis der Trinität das letzte Geheimnis unserer eigenen Wirklichkeit ist und eben in dieser Wirklichkeit auch erfahren wird … Von da aus aber läßt sich ein methodisches Prinzip gewinnen für den ganzen Trinitätstraktat. Die Trinität ist ein Geheimnis, dessen paradoxaler Charakter schon in dem des Daseins des Menschen anklingt. Darum ist es (einerseits) sinnlos, diesem Charakter auszuweichen, ihn verschleiern zu wollen durch eine gewaltsame Subtilität von Begriffen und Begriffsunterscheidungen, die das Geheimnis nur scheinbar weiter erhellen, in Wahrheit aber nur Verbalismen bieten, die für naiv scharfsinnige Geister wie Analgetika wirken zur Betäubung des Schmerzes, das Geheimnis undurchschaut verehren zu müssen.»
«Geheimnis» ist offensichtlich ein Grund- und Schlüsselwort dieser lebensgeschichtlichen Dogmatik. In ihm ist beides, der Begriff des unbegreiflichen Gottes und die Erfahrung des sich selbst in diese Unbegreiflichkeit hinein entzogenen Menschen, beziehungsreich zusammengeschlossen. Die ignatianische Mystik der Allgegenwart Gottes, des «Gott in Welt» schlägt hier durch. Doxographie und mystische Biographie sind ineinander verschränkt. Rahners Selbstverständnis von Theologie – Theologie als Einübung, als Initiation, als Mystagogie, als «Einweisung des Lebens in die Erfahrung des Geheimnisses schlechthin» – bestätigt diese Einheit.
In einem Punkt freilich unterscheidet sich Rahners biographische Dogmatik von ihren Prototypen ganz wesentlich und entscheidend. Rahners Theologie ist die lebensgeschichtlich angelegte Dogmatik des einfachen, ich wage zu sagen: des durchschnittlichen Christenmenschen – die mystische Biographie eines undramatischen Lebens. Rahners Leben selbst kennt keine «spektakulären Übergänge», die Veränderungen seiner Lebenssituation versteht er selbst als «Umdisponierungen» seiner Ordensobern, diktiert vom praktischen, gewissermaßen administrativen Interesse eines reibungslosen Funktionierens seiner Ordensgesellschaft. Seine biographische Dogmatik ist die eines ausgesprochenen antibiographischen Typs. Darin unterscheidet sich Rahners Werk von den großen lebensgeschichtlichen Theologien eines Augustinus, eines Newman, eines Pascal, eines Bonhoeffer. Doch dieser Unterschied ist nicht einfachhin ein Nachteil; er kennzeichnet die Eigenart und den Vorzug der Rahnerschen Theologie. Er macht diese Theologie auch geistes- und religionssoziologisch in einem spezifischen Sinn heutig, gegenwärtig.
Rahners leidenschaftlicher Versuch, Schultheologie, gewöhnliche Theologie für alle zu treiben – «und sonst nichts», hat seine genaue Entsprechung in der Absicht, die religiöse Lebensgeschichte des Alltagschristen, gewissermaßen des Volkes, dogmatisch ins Spiel zu bringen. Und was sich in manchen seiner Theologoumena «elitär» ausnehmen mag — etwa seine Ausweitung der Lehre von der fides implicita, seine Anwendung des bona-fides-Prinzips, manches an seiner Theorie vom «anonymen Christentum» – ist in der Absicht jedenfalls vom genauen Gegenteil bestimmt. Rahner hat eine geradezu proletarische Abneigung gegen alles Elitäre und Esoterische. Nie hat er das Arkanum der Religion mit quasi-aristokratischem Gehabe simuliert. Darum ist er – trotz seiner «schwierigen» Sprache – den vielen nahegekommen, nicht nur den binnentheologisch, binnenkirchlich Auserlesenen. Darum hat er, ohne Anpassungskunst, breite Bedürfnisse erraten und angesprochen.
Gewiß, an dieses Beispiel einer biographischen Theologie können nochmals jene kritischen Fragen gestellt werden, die heute überhaupt der theologischen Orientierung am «Subjekt» und damit jeder biographischen Theologie entgegenstehen; Fragen, die die Vorherrschaft der Anthropologie in der Theologie gegenüber Geschichte und Gesellschaft nicht problemlos gelten lassen wollen. Doch, so würde Karl Rahner sagen, «darüber mögt ihr euch den Kopf zerbrechen.» Videbimus!
JOHANN BAPTIST METZ geboren 1928 in Welluck. 1954 zum Priester geweiht. Er studierte an den Universitäten Innsbruck und München, ist Doktor der Philosophie und der Theologie, Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Münster. Er veröffentlichte u.a. : Christliche Anthropozentrik (München 1962), Weltverständnis im Glauben (Mainz 1965, 21967), Zur Theologie der Welt(Mainz 1968, 31973), Politische Theologie (1969), Reform und Gegenreformation heute(Mainz 1969), Befreiendes Gedächtnis Jesu Christi (Mainz 1970), Die Theologie in der interdisziplinären Forschung (1971), Leidensgeschichte (1973), Unsere Hoffnung (1975).
Concilium 12 (1976), Heft 5, S. 311-315.
[1] Der Text verarbeitet eine Laudatio auf Karl Rahner, die der Verfasser zu dessen 70. Geburtstag gehalten hat und die in vollem Wortlaut erschienen ist unter dem Titel: «Karl Rahner – ein theologisches Leben. Theologie als mystische Biographie eines Christenmenschen heute», in: Stimmen der Zeit, Mai 1974, 305-316. – Die »These» im Text ist also ursprünglich vom «Paradigma» her entwickelt, und nicht umgekehrt.