Johann Baptist Metz, Theologie als Biographie. Eine These und ein Paradigma: „Biographisch soll eine solche Theologie heißen, weil die mystische Biographie der religiösen Erfahrung, der Lebensgeschichte vor dem verhüllten Antlitz Gottes, in die Doxographie des Glaubens eingeschrieben wird. Biographisch ist sie auch, insofern sie nicht eine mo­nomane Ableitungstheologie ist, die sich ihre Stim­migkeit und Unwiderleglichkeit letztlich um den Preis der Tautologie erkauft, sondern begrifflich abgekürzte und verdichtete Erzählung der Lebensgeschichte vor Gott.“

Theologie als Biographie. Eine These und ein Paradigma[1]

Von Johann Baptist Metz

I. Die These

Die katholische Theologie in der Neuzeit scheint mir weithin geprägt von einem tiefgreifen­den Schisma zwi­schen theologischem System und religiöser Erfahrung, zwischen Doxographie und Biographie, zwischen Dogmatik und Mystik. Natürlich bedeutet diese Fest­stellung nicht, daß in der neuzeitlichen katholischen Theologie der einzelne Theologe nicht auch fromm, ja mystisch gewesen sei und ist. Doch nicht um diese pri­vate Versöhnung von Lehre und Lebensgeschichte geht es hier, sondern darum, daß diese Versöhnung nicht selbst Theologie wurde, daß sie gewissermaßen nichtöffentlich, kommunikabel, geschichtlich belang­voll gelang – mitten im breiten Strom der Theologie.

Solange sich die gesamtgesellschaftliche Lebenswelt selbst durch ein religiöses Endziel defi­nierte, solange die theologische Vernunft als Schlüsselvernunft, als allgemein zustimmungsfähig galt, konnte die Identi­tätskrise der Theologie, die durch dieses Schisma her­aufbe­schworen war, leidlich verborgen bleiben. Supplet societas! Doch schließlich wurde diese Entzweiung immer offensichtlicher. Die religiöse Erfahrung, die Artikulation der Lebensgeschichte vor Gott, die my­stische Biographie geriet immer mehr ins Abseits der Doxographie des Glaubens, so daß sie ihre Erfah­rungsinhalte immer mehr subjektivistisch-impressio­nistisch demontierte und deshalb auch immer unfähi­ger wurde, sie in die Öffentlichkeit des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens einzubringen. Die «eigentli­che» Theologie hingegen, die Dogmatik, wurde immer mehr zur objektivistisch verkümmerten Lehre, wirkte nicht selten wie die zum System gewordene Berüh­rungsangst vor dem unbegriffenen Leben. Ich meine hier vor allem die Regel der Schultheologie, die ein­zelne Ausnahmen bestätigen mögen. Die üblichen Versuche unserer Zeit, dieses Schisma zu überbrücken, wirken noch eher wie Anzeichen seiner anhalten­den Herrschaft. So fragt man heute oft und viel nach der «Relevanz» der dogmatischen Lehre, nach ihrem «Sitz im Leben», nach ihrem Frömmigkeitswert, nach ihrer praktisch-pastoralen Bedeutung – und gibt damit doch indirekt zu, daß diese Lehre von sich aus nichts oder kaum etwas mit all dem zu tun hat und deshalb auch nicht prägend, rettend oder verwandelnd in die religiöse Lebenswelt eingreift.

Wie müßte eine Theologie aussehen, der es gelingt, dieses Schisma zwischen Dogmatik und Lebensge­schichte zu beenden und in schöpferischer Vermitt­lungskraft das lang Entzweite wieder zusammenzu­führen?

Ich möchte eine solche Theologie, versuchsweise und um die Absicht zu kennzeichnen, lebensgeschicht­liche Dogmatik nennen, eine Art Existentialbiographie. «Biographie» meint hier nicht einfachhin literari­sche Spiegelung der Subjektivität, um (wie das Goethe einst definierte) in dieser Spiegelung ein Symbol zu gewinnen für Welt- und Lebensdeutung überhaupt. Biographisch soll eine solche Theologie heißen, weil die mystische Biographie der religiösen Erfahrung, der Lebensgeschichte vor dem verhüllten Antlitz Gottes, in die Doxographie des Glaubens eingeschrieben wird. Biographisch ist sie auch, insofern sie nicht eine mo­nomane Ableitungstheologie ist, die sich ihre Stim­migkeit und Unwiderleglichkeit letztlich um den Preis der Tautologie erkauft, sondern begrifflich abgekürzte und verdichtete Erzählung der Lebensgeschichte vor Gott.

Lebensgeschichtliche Theologie muß «das Subjekt» ins dogmatische Bewußtsein der Theologie erheben. Damit ist keineswegs einem neuen theologischen Sub­jektivismus das Wort geredet. «Subjekt» ist ja nicht eine beliebige, austauschbare Bestimmung. Subjekt ist der in seine Erfahrungen und Geschichten verstrickte und aus ihnen immer wieder neu sich identifizierende Mensch. Das Subjekt in die Dogmatik einfuhren, heißt deshalb auch, den Menschen in seiner religiösen Le­bens- und Erfahrungsgeschichte zum objektiven Thema der Dogmatik erheben; heißt Lehre ins Leben wenden und Leben in die Lehre wenden; heißt also Dogmatik und Lebensgeschichte miteinander versöh­nen, heißt schließlich : theologische Doxographie und mystische Biographie zusammenbringen.

Dies alles steht nicht unter dem Interesse einer preziösen Außenseitertheologie, sondern ist zu verstehen als Verwirklichung der Schultheologie und ihrer Sy­stematik einerseits, sowie als lebensgeschichtliche Dogmatik des durchschnittlichen Christen anderer­seits. In dieser lebens­geschichtlichen Vermittlung von Theorie und Praxis artikuliert sich theologische Refle­xion als mystische Biographie eines undramatischen Lebens aus dem Glauben, als Geschichte seiner alltäg­lichen Bewährung, ohne große Wandlungen und Wendungen, besondere Erleuchtungen und Konver­sionen. Darum geht es in einer lebensgeschichtlichen Theologie, und nicht vorwiegend um die große, inter­essante, reiche und bewegte Subjektivität, die (gewis­sermaßen paradigmatisch und stellvertretend für die anderen, die Sprachlosen und «Leblosen») in der Lehre durchschlägt und das System lebensgeschichtlich dra­matisiert. In ihr wird vielmehr sichtbar, wie sich ge­rade die Lebensgeschichte des Volkes, die religiöse All­tags- und Durchschnittserfahrung, geradezu die kollektive Routineerfahrung des Katholiken im Kanon der Lehre selbst buchstabieren läßt. Keine besonderen Begabungen oder Widerfahrnisse sind vorausgesetzt, keine steile Mystik ist unterstellt; immer freilich geht es um jene Mystik, ohne die Glauben nie und nimmer ist. Darum aber ist die lebensgeschichtliche Theologie gerade Mystagogie für alle, ohne Vulgarisierungs- angst, ohne Berührungsangst gegenüber dem alltägli­chen, langweiligen, fast monomanen Leben und seinen kaum entzifferbaren religiösen Erfahrungen und Auf­schwüngen.

Wer bedürfte einer solchen lebensgeschichtlichen Dogmatik mehr als der Christ, der sich – trotz aller ak­tuellen Rede vom Priestertum aller Gläubigen, von der Kirche als Volk Gottes und trotz aller Beschwörung der Bedeutung des Laien in der Kirche – schwertut, bei der von der Theologie veröffentlichten Lehre wirklich «dabei zu sein», von ihr gemeint und betroffen zu sein, in ihr buchstabiert und in seiner ihm selbst zumeist verborgenen Mystik erraten zu sein? Und wo bedürfte er ihrer mehr als in unserer heutigen Gesellschaft? In einer Gesellschaft, in der bereits die fragile Identität des Menschen beklagt, der «Tod des Subjekts», das «Ende des Individuums» angekündigt wird? In einer Gesellschaft, in der die lebensgeschichtlich gespeisten Erfahrungen und Phantasien des einzelnen immer we­niger Schritt halten mit den Mechanismen und Zwän­gen einer von fühlloser Rationalität konstruierten Welt? In der diese lebensgeschichtlichen Erfahrungen immer mehr wie eingemauert wirken in eine fugenlose «überraschungsfreie» Computer-Welt, die die sy­stemkonformen Erwartungen stabilisiert, widerspen­stige Hoffnungen und Träume hingegen immer mehr austreibt oder nivelliert? In einer Gesellschaft schließ­lich, in der alle lebensgeschichtlichen Muster wie vor­fabriziert, wie ausgestanzt erscheinen und in der darum Identitätsmüdigkeit oder Langeweile an den Seelen frißt?

In einer lebensgeschichtlichen Theologie muß auch die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie neu gestellt werden. Dabei ist zu vergegenwärtigen, daß die wichtigsten Errun­genschaften in der Theologie und Kirchengeschichte allemal einer wissenschaftlich «unreinen» Theologie entstammen, in welcher Bio­graphie, Phantasie, akkumulierte Erfahrung, Konver­sionen, Visionen, Gebete unlöslich ins «System» ver­woben sind.

Dies bedingt, daß auch die Frage nach dem adäqua­ten Subjekt der Theologie neu gestellt und kritisch überdacht werden muß. Wer ist denn dieses Subjekt? Der Gelehrte? Der Professor? Der Prediger, der Seel­sorger? Der mit seiner eigenen Existenz gestikulie­rende Mystiker? Oder aber auch der einzelne, seine Lebensgeschichte vor Gott artikulierende Christenmensch? Oder die vielfältigen Gruppen? Oder gar und anders das Volk, die Gemeinschaft, — das Volk, das sich eine kollektive religiöse Biographie schreibt wie einst Israel?

Wie immer es sei: Theologie ist auch heute nicht ein­fach Professorentheologie, ist nicht identisch mit Be­rufstheologie. Erst recht darf dann eine lebensge­schichtliche Theologie sich nicht in die Darstellungs­muster einer exakten und normierten Wissenschafts­sprache ein­zwängen lassen. Die gelebte Überzeugung und gelehrte Erfahrung des Glaubens läßt sich nicht durch die metalogischen Regeln analytischen Argu­mentierens hinreichend begründen und muß es sich daher auch selber verbieten, sich dem Vokabular der Exaktheit bedingungslos unterzuordnen. Theologie ist eben nicht – und dies in keinen Stücken – eine Natur­wissenschaft des Göttlichen.

Die hier begegnende Einheit von Lehre und Leben, von theoretischer Dogmatik und prak­tischer Lebens­geschichte kann daher eigentlich nur einer Theologie als schlechthin unzeitgemäß, als archaisch und regres­siv erscheinen, die sich ihrerseits selbst längst einem standardisierten Wissenschaftsbegriff unterworfen hat und ihre Gedanken domestizieren ließ und die deshalb kaum mehr weiß, wo ihr der eigene Kopf steht oder gar das eigene Herz schlägt. Als ob sich Theologie die völ­lige theoretische Ächtung der Unmittelbarkeit, der Naivität gelebter Überzeugung oder überzeugten Le­bens je leisten könnte, ohne ihre Identität preiszuge­ben! Freilich, wirkt die Sprache einer Theologie, die dem Rechnung trägt, nicht zu poetisch, zu lyrisch oder gar erdichtet, zu konfessorisch und zu emphatisch, um der Sache der Theologie noch allgemein Verständlich­keit und Zustimmungsfähigkeit erhalten zu können?

Dagegen muß jedoch gefragt werden, warum narra­tiv-biographische Theologie sich dergestalt in sprach­kritischer Kleinmütigkeit selber verleugnen und nicht den Mut haben soll, auf einer eigenen, anderen, situations- und sachgerechten Sprache mit aller Entschie­denheit zu beharren.

Wer es Heinrich Böll oder Peter Handke nicht glau­ben will, der kann es sich z.B. von Klop­stock sagen lassen: «Es giebt Gedanken, die beynahe nicht anders als poetisch ausgedrückt werden können; oder viel­mehr, es ist der Natur gewisser Gegenstände so gemäß, sie poetisch zu denken, und zu sagen, daß sie zuviel verlieren würden, wenn es auf eine andere Art geschä­he, Betrachtungen über die Allgegenwart Gottes gehö­ren, wie mich deucht, vornahmlich hierher.»

Im deutschen Sprachraum tun wir uns mit solchen Äußerungen besonders schwer-wegen unserer «deut­schen Ideologie», wegen unserer Monokultur der Ver­bindlichkeit, in der als verläßlich und der Beliebigkeit enthoben eigentlich nur gilt, was sich «wissenschaft­lich» nennen kann. Entsprechend muß freilich bei uns die Bezeichnung «Wissenschaft» auch mehr decken als sonst irgendwo in der Welt. Hätten wir, wie in angel­sächsischen Ländern, in slawischen und romanischen, eine Kultur der öffentlichen Verbindlichkeit der Po­esie, auch nur des Essayistischen, dann wäre nicht der Vorwurf des «Dilettantismus» so schnell bei der Hand. Dilettantisch im präzisen Sinn scheint mir eher die Ah­nungslosigkeit jener, die ohne Identitätsschock die theologische Sprache frischfröhlich einer standardi­sierten Wissenschaftssprache unterwerfen.

II. Das Paradigma

In Karl Rahners Lebenswerk ist m.E. in wichtigen An­sätzen der Versuch gelungen, das be­klagte Schisma zwischen Dogmatik und Lebens geschickte zu beenden — und dies in einer schöpferischen Vermittlungskraft, mit einem Einbewältigungsvermögen, das an die gro­ßen Vermittlungen in der abendländischen Theologie­geschichte denken läßt. Karl Rahners Werk kann als Unternehmen einer lebensgeschichtlichen Dogmatik in unserer Zeit, als mystische Biographie eines Chri­stenmenschen heute verstanden werden. Ich will das kurz verdeutlichen.

In Fachkreisen, so scheint es, ist eine erste Sortie­rung, Ortung und Wertung Rahnerscher Theologie nicht allzu schwer, auch wenn man das Außergewöhn­liche, Immense und Bei­spiellose dieses theologischen Werks fühlt und anerkennt, das sich selbst selten an­ders bezeichnet denn als Fortführung der traditionel­len Schultheologie, als Entbindung ihrer teilweise ver­schütteten und verdrängten Intuitionen und Intentio­nen, ihrer inneren Dynamik – mit den Mitteln trans­zendentaler Reflexion,

Was nun besagt bei Rahner «transzendentale Theo­logie»? Rahners Theologie hat das System der Schul­theologie auf «das Subjekt» hin aufgesprengt. Seine Theologie hat «das Subjekt» heraus gebrochen aus dem Fels eines scholastischen Objektivismus, in den diese Schultheolo­gie allenthalben eingeschlossen war. «Sub­jekt» ist dabei keine reine Reflexionsbestimmung, die selbst wieder beliebig objektivierbar ist. Es bezeichnet den Menschen in seiner Erfahrungsgeschichte, die selbst nicht ohne Erzählelemente identifiziert und mit­geteilt werden kann. In diesem Sinn hat Rahner die re­ligiöse Lebensgeschichte zum objektiven Thema der Dogmatik erhoben.

Am augenfälligsten und deshalb immer auch zitiert ist die beispiellose, nahezu tumultuarische Vielfalt der Themen dieses Werks. Em beliebiger Blick auf belie­bige Seiten der Rahnerschen Bibliographie, deren aus­gedruckter Umfang allein schon manch gedrucktes Theologen-Oeuv­re in den Schatten stellt, kann das be­stätigen. Und dabei zugleich erkennen lassen, daß es sich hier nicht nur um eine Vielfalt von Themen han­delt, sondern auch von Behandlungsweisen und Aus­sageformen quer durch die verschiedensten Bereiche des theologischen, kirchlichen und öffentlichen Le­bens. Das Ganze ist ganz einfach dies: em theologisch substantieller Lebensbericht aus dem zeitgenössischen Christentum. Hier regiert nicht ein klassischer Frage­kanon, hier werden nicht nur Fragen behandelt, die vom System her zugelassen sind. Der Kanon ist das Leben, nicht das geschmäcklerisch gewählte, sondern das aufgedrängte, das unbeque­me. Rahner hat sich nicht einfach für das Interessante interessiert, sondern sich von der Not, den Fragen der anderen beispiellos verpflichten lassen.

Die Vielfalt des Werks ist deshalb nicht nervöse oder gar modisch-eitle Beliebigkeit, sie hat selbst System: Die große Reduktionsbewegung, die in diesem Werk steckt, gilt nicht, wie man oft meint, dem Versuch, eine theologische Lehre auf eine andere zurückzufüh­ren, sie gilt vielmehr der einzigartigen Anstrengung, Lehre und Leben unter unseren heutigen Verhält­nissen zusammenzuzwingen. Deshalb wird ihm auch das wissenschaftliche Leben zur Theologie – und nicht, wie üblicherweise, die Theologie zur Wissenschaft in einem bereits vorausbestimmten fremdformulierten Sinn. Deshalb werden ihm schließlich auch Alltagsfra­gen zu theologischen Fragen – zum Greuel jener, die sich um der vermeintlichen Wissenschaftlichkeit der Dogmatik willen aus all diesen Fragen heraushalten und sich auf die «klassischen Fragen» beschränken, die freilich allemal die Lebensfragen von vorgestern sind, die Lebensfragen aus einer Zeit, da die Dogmatik sich eben noch nicht darauf beschränkt hatte, bloß Begriffe früherer Erfahrungen zu formulieren, sondern jeweils auch neue Erfahrungen mit diesen Begriffen mitzutei­len und zu tradieren – opportune, importune, wissen­schaftlich oder «dilettantisch», wie Rahner seine Überbeanspruchtheit von Fragen, Erfahrungen und Leben gern charakterisiert; doch wer sind hier wirk­lich die Dilettanten, frage ich.

Lebensgeschichtliche Dogmatik, biographisch, nar­rativ, konfessorisch, und in allem wie kaum eine zweite Theologie ins Lehrhaft-Objektive gewendet: dies läßt auch noch ganz andere Ahnen und historische Prototypen der Rahnerschen Theologie vermuten als die üblich aus Thomismus und Transzendentalphilo­sophie angeführten. Ich denke an Augustinus, an Bo­naventura, an Newman, vielleicht an Pascal, vielleicht an Bonhoeffer. Natürlich geht es dabei nicht um nachweisliche Abhängigkeiten (obwohl Rahner Wert­volles und Wichtiges auch zur patristischen Tradition geschrieben hat, obwohl er Thomas näher bei Augu­stinus als bei den Thomisten sieht, obwohl er Tauler immer schon mehr geliebt hat als Suarez und Molina), es geht, sage ich, dabei nicht um nachweisliche Abhän­gigkeiten, sondern um vermutete Verwandtschaften in Anlage, Eigenart und Rang des theologischen Werks. Eine Theologie wie die Rahners hat nicht nur unter­schiedliche, oft gegensätzlich auseinanderlaufende Nachfahren, die sich alle gleichwohl zu Recht auf ihn berufen mögen ; sie hat zumeist auch sehr unterschied­lich verzweigte, ja widersprüchlich entzweite Ahnen; Klassiker sind am wenigsten reinrassig – in ihrer Vor­geschichte wie in ihrer Nachgeschichte. Und so gehört Rahners Theologie, die als religiöse Existentialbiographie gerade theologische Doxographie ist, beides in ei­nem und ständig ganz, durchaus in die Nähe eines theologischen Typus, dem sie systemgeschichtlich praktisch nie zugeordnet wird: der großen lebensge­schichtlichen Theologie.

Für eine lebensgeschichtliche Dogmatik gilt: im unkalkuliert Vielfältigen allein kristallisiert sich auch die Einheit. Wer sich bloß auf die «Prinzipien» der Rahnerschen Theologie beschränken wollte, würde am Ende vielleicht nur erhabene Tautologien nach Hause tragen. Der Tenor, das Thema dieses Werks ist nur in seinen Variationen zu hören. Oder anders: das System ist nicht ohne die Geschichten, die Lehre nicht ohne die mitgeteilten, erzählten Erfahrungen, die Doxographie nicht ohne die mystische Biographie zu verstehen. Schade, hört man zuweilen sagen, daß Rahner keine Dogmatik geschrieben hat. Er hat sie geschrieben! Le­bensgeschichtliche Dogmatik, mystische Biographie in dogmatischer Absicht sieht so aus! Sein Werk ist ge­nau das System, die Summa, die einem solchen theolo­gischen Ansatz zugemutet und uns vergönnt ist.

Es ist hier nicht möglich, wohl auch nicht erfor­derlich, den Duktus lebensgeschichtlicher Dogmatik in den einzelnen theologischen Themen und Trakta­ten nachzuweisen, die Karl Rahner bislang behandelt hat. Es wäre, glaube ich, nicht schwer, das erzählende, auf religiöse Lebensgeschichte bezogene, mystisch- existentialbiographische Element in seinen christo­logischen, soteriologischen, eschatologischen, ge­schichtstheologischen Arbeiten herauszustellen, von anderen Themenbereichen der Theologie zu schwei­gen. Die stärkste Vermutung gegen eine lebensge­schichtliche Behandlungsart provoziert wohl die Trinitätstheologie. Darum möchte ich im Blick auf sie wenigstens aus der Einleitung zu Rahners Traktat «Der Dreifältige Gott als transzendenter Urgrund der Heilsgeschichte» zitieren. In ihr betont Rahner, «daß das Geheimnis der Trinität das letzte Geheimnis unse­rer eigenen Wirklichkeit ist und eben in dieser Wirk­lichkeit auch erfahren wird … Von da aus aber läßt sich ein methodisches Prinzip gewinnen für den ganzen Trinitätstraktat. Die Trinität ist ein Geheimnis, dessen paradoxaler Charakter schon in dem des Daseins des Menschen anklingt. Darum ist es (einerseits) sinnlos, diesem Charakter auszuweichen, ihn verschleiern zu wollen durch eine gewaltsame Subtilität von Begriffen und Begriffsunterscheidungen, die das Geheimnis nur scheinbar weiter erhellen, in Wahrheit aber nur Verbalismen bieten, die für naiv scharfsinnige Geister wie Analgetika wirken zur Betäubung des Schmerzes, das Geheimnis undurchschaut verehren zu müssen.»

«Geheimnis» ist offensichtlich ein Grund- und Schlüsselwort dieser lebensgeschichtlichen Dogmatik. In ihm ist beides, der Begriff des unbegreiflichen Got­tes und die Erfahrung des sich selbst in diese Unbe­greiflichkeit hinein entzogenen Menschen, bezie­hungsreich zusammengeschlossen. Die ignatianische Mystik der Allgegenwart Gottes, des «Gott in Welt» schlägt hier durch. Doxographie und mystische Bio­graphie sind ineinander verschränkt. Rahners Selbst­verständnis von Theologie – Theologie als Einübung, als Initiation, als Mystagogie, als «Einweisung des Le­bens in die Erfahrung des Geheimnisses schlechthin» – bestätigt diese Einheit.

In einem Punkt freilich unterscheidet sich Rahners biographische Dogmatik von ihren Prototypen ganz wesentlich und entscheidend. Rahners Theologie ist die lebensgeschichtlich angelegte Dogmatik des einfa­chen, ich wage zu sagen: des durchschnittlichen Chri­stenmenschen – die mystische Biographie eines un­dramatischen Lebens. Rahners Leben selbst kennt keine «spektakulären Übergänge», die Veränderungen seiner Lebenssituation versteht er selbst als «Umdis­ponierungen» seiner Ordensobern, diktiert vom prak­tischen, gewissermaßen administrativen Interesse ei­nes reibungslosen Funktionierens seiner Ordensgesell­schaft. Seine biographische Dogmatik ist die eines aus­gesprochenen antibiographischen Typs. Darin unter­scheidet sich Rahners Werk von den großen lebensge­schichtlichen Theologien eines Augustinus, eines Newman, eines Pascal, eines Bonhoeffer. Doch dieser Unterschied ist nicht einfachhin ein Nachteil; er kenn­zeichnet die Eigenart und den Vorzug der Rahnerschen Theologie. Er macht diese Theologie auch geistes- und religionssoziologisch in einem spezifischen Sinn heutig, gegenwärtig.

Rahners leidenschaftlicher Versuch, Schultheologie, gewöhnliche Theologie für alle zu treiben – «und sonst nichts», hat seine genaue Entsprechung in der Absicht, die religiöse Lebensgeschichte des Alltagschristen, gewissermaßen des Volkes, dogmatisch ins Spiel zu bringen. Und was sich in manchen seiner Theologoumena «elitär» ausnehmen mag — etwa seine Auswei­tung der Lehre von der fides implicita, seine Anwen­dung des bona-fides-Prinzips, manches an seiner The­orie vom «anonymen Christentum» – ist in der Absicht jedenfalls vom genauen Gegenteil bestimmt. Rahner hat eine geradezu proletarische Abneigung gegen alles Elitäre und Esoterische. Nie hat er das Arkanum der Religion mit quasi-aristokratischem Gehabe simuliert. Darum ist er – trotz seiner «schwierigen» Sprache – den vielen nahegekommen, nicht nur den binnentheo­logisch, binnenkirchlich Auserlesenen. Darum hat er, ohne Anpassungskunst, breite Bedürfnisse erraten und angesprochen.

Gewiß, an dieses Beispiel einer biographischen Theologie können nochmals jene kritischen Fragen ge­stellt werden, die heute überhaupt der theologischen Orientierung am «Subjekt» und damit jeder biographi­schen Theologie entgegenstehen; Fragen, die die Vor­herrschaft der Anthropologie in der Theologie ge­genüber Geschichte und Gesellschaft nicht problemlos gelten lassen wollen. Doch, so würde Karl Rahner sa­gen, «darüber mögt ihr euch den Kopf zerbrechen.» Videbimus!

JOHANN BAPTIST METZ geboren 1928 in Welluck. 1954 zum Priester geweiht. Er studierte an den Universitäten Innsbruck und München, ist Doktor der Philoso­phie und der Theologie, Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Münster. Er veröffentlichte u.a. : Christliche Anthropozentrik (München 1962), Weltverständnis im Glauben (Mainz 1965, 21967), Zur Theologie der Welt(Mainz 1968, 31973), Politische Theologie (1969), Reform und Gegenreformation heute(Mainz 1969), Be­freiendes Gedächtnis Jesu Christi (Mainz 1970), Die Theologie in der interdisziplinären Forschung (1971), Leidensgeschichte (1973), Un­sere Hoffnung (1975).

Concilium 12 (1976), Heft 5, S. 311-315.


[1] Der Text verarbeitet eine Laudatio auf Karl Rahner, die der Verfasser zu dessen 70. Geburtstag gehalten hat und die in vollem Wortlaut erschienen ist unter dem Titel: «Karl Rahner – ein theologisches Leben. Theologie als mystische Biographie eines Christenmenschen heute», in: Stimmen der Zeit, Mai 1974, 305-316. – Die »These» im Text ist also ursprünglich vom «Paradigma» her entwickelt, und nicht umgekehrt.

Hier der Text als pdf.

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