Romano Guardinis Einführung in Blaise Pascals „Pensées“ (1937): „Was wir besitzen, ist also fragmentarisch in jedem Sinne des Wortes. Aber diesen Bruchstücken wohnt eine unbän­dige Kraft inne: Die Existentialität der Wahrheit. Dass hier die Frage aus dem Leben kommt und die Antwort in Leben übergeht, aber nicht in der Form ruhigen Schauens und inniger Aneignung, sondern eines unablässigen Kampfes, das hier der Wahrheitskampf zur Daseinsform wird – daraus kommt die unvergängliche Kraft dieser Bruchstücke.“

Einführung in Blaise Pascals „Pensées“

Von Romano Guardini

Im abendländischen Schriftbereich gibt es einige Bücher, welche die Gewähr einer unvergänglichen Wirkung in sich tragen, weil sie aus einem geistig-religiösen Schicksal her­vorgehen, das allgemein gültig ist. Sie führen zur Begeg­nung mit dem Wesentlichen und werden so für den, der in der richtigen Stunde auf sie trifft, selbst zum Schicksal. Da­zu gehören die Apologie und der Phaidon Platons und die Bekenntnisse des Aurelius Augustinus; dazu gehört auch das Buch, dessen Übersetzung hier vorgelegt wird, die „Gedanken“ Blaise Pascals.

Um das zu sein, was soeben angedeutet wurde, braucht ein Buch keine bestimmte Form zu haben. Die „Apologie“ besteht aus drei Gerichtsreden eines Angeklagten; der „Phaidon“ stellt das Gespräch von Schülern mit ihrem zum Tode verurteilten Meister dar; die „Bekenntnisse“ sind der Bericht, den ein Mann auf der Höhe seines Lebens über seinen Weg zu Gott niederschreibt. Die Form des Buches kann also ganz verschieden sein; worauf es an­kommt, ist der Rang der Existenz, die sich in ihm aus­drückt, und die Größe und Reinheit, mit welcher diese ihre Entscheidung für die Wahrheit vollzieht. Pascals „Pensées“ können ihrer Form nach mit keinem der voraufgenannten Bücher verglichen werden. Streng genommen sind sie überhaupt kein „Buch“ im üblichen Sinn des Wortes, sondern eine Masse von Bruchstücken, welche die Kritik vergeblich in eine überzeugende Ordnung zu bringen sucht. Dennoch gehören sie zu jenen existenzgeborenen Schrif­ten, von denen die Rede war.

Die „Pensées“ enthalten mehrere hundert Fragmente; doch steht die Zahl nicht fest, wechselt vielmehr, je nach dem Gesichtspunkt, welcher der Sammlung zugrunde gelegt wird. Es sind Notizen und Entwürfe verschiedener Länge, vom Stichwort bis zur zusammenhängenden Ausführung. Wirkliche Fragmente; nicht etwa Sprüche, wie sie sich in der Weisheitsliteratur aller Zeiten finden und in welchen ein Mann, der tief genug ins Dasein geschaut hat, Wesent­liches in wenige Worte zusammendrängt, damit es medi­tierend angeeignet werde oder bei irgendeiner Wende des Lebens Licht und Weisung gebe. Auch nicht kurze Lehr­stücke, wie etwa die Kapitel von Epiktets „Handbüchlein“, in denen sich die Einsicht und Überwindung langer Jahre zusammendrängen, so daß sie dem Leser wie Themata sitt­licher Übung entgegentreten. Spruch und Lehrstück stel­len eine Verdichtung ausgebreiteten Erfahrens und Den­kens dar. Ihre Form bedeutet zur Ruhe gebrachte Span­nung, die dann im Aufnehmenden zu neuem Leben wird. So erscheinen sie als kleine, geschlossene Gefüge, in denen unter einem besonderen Gesichtspunkt jeweils das Ganze des Daseins aufleuchtet. Bei den „Pensées“ handelt es sich nicht um dergleichen. Gewiß gibt es unter ihnen Sätze, die zum „Spruch“, und Stücke, die zum „Kapitel“ geraten sind; in der Regel sind es aber wirkliche Fragmente, Werksplit­ter, Niederschläge weitergehenden Erfahrens und Den­kens.

So fühlt man sich zum Vergleich mit anderen Texten auf­gefordert, die ebenfalls aus Bruchstücken bestehen, ja in denen das Unfertige selbst zur Form geworden ist. Wir denken an die Schriften der französischen „Moralisten“ und an die Fragmente der Romantiker.

Auch die „Maximen“, „Gedanken“ und „Reflexionen“ des Herzogs de la Rochefoucauld, die Skizzen von Vauvenargues, die Notizen Chamforts und Jouberts sind in der Hauptsache „Fragmente“. Keine in sich ruhenden Sprü­che, keine ausgewogenen Lehrstücke, sondern Durch­gänge einer geistigen Bewegung; Funken, die aus einer Begegnung springen; Einfälle, Lichter, hingeworfene Ge­sichtspunkte. Ihre Atmosphäre ist die gesellschaftliche Kul­tur des „ancien régime“. Was sie trägt, ist der „esprit“ des Weltmannes; sein scharfes Beobachten, rasches Verstehen, lebendiges Formulieren. Es ist die Überlegenheit des Ka­valiers, dessen Lässigkeit höchste Form bedeutet. Ihr Ur­heber hat viel gesehen und gelesen; er blickt tief, denkt genau und ist ein Meister des Ausdrucks. Allein für ihn ziemt es sich nicht, irgend etwas ernst zu nehmen. Eine Abhandlung wäre pedantisch, ein Spruch pathetisch. Er hat Wichtigeres zu tun: in überlegener Weise dazusein, Form zu verwirklichen, Ehre zu haben, ein Leben der Hal­tung aufzubauen, das Dasein in Leichtigkeit zu verwan­deln. Sein Ernst besteht darin, alles leicht zu machen, auch wenn es ihm noch so schwer fällt. So hat seine Äußerung den Charakter des Nebensächlichen. Es ist vollkommen, wenn es den Eindruck der absoluten Beiläufigkeit, des rei­nen Einfalls macht – dazu muß aber das Wesentliche klar gesehen sein, jedes Wort an der richtigen Stelle sitzen, und das Ganze mit genauer Eleganz ins Ziel treffen.

Anders das Fragment der Romantiker. Die Aufzeichnun­gen des Novalis oder Friedrich Schlegels kommen aus dem Genialitätsstrom einer überreichen Zeit, der alles verwan­delt. Alles wird vom Gefühl durchflutet. Überall leuchtet die Intuition auf. Die Phantasie herrscht und führt. Das Dasein hat symphonische Natur. Wirklichkeit wird zur Dichtung, Dichtung zum Lebensinhalt, Philosophie ent­steht aus der Phantasie, Phantasie ist mit Einsicht gesät­tigt, Spiel geht in Ernst über, und aus künstlerischer Konstruktion entsteht der Staat. Alle Dinge haben Sym­bolcharakter. Jede Erscheinung verheißt Geheimnisvolles, und durch jede Gestalt steigen die Urgründe herauf. Die Grenzen kommen in Bewegung. Ein unersättliches Ver­langen drängt nach dem All. Der schöpferische Augen­blick scheint schrankenlos. Das einzelne Gebilde strömt ins Unendliche aus, und jede Gestalt sucht das Ganze in sich hereinzuziehen. Dadurch wird alles unermeßbar reich, aber auch zutiefst unernst. Es fehlen die Kraft zur Grenze und der Wille zur Entscheidung. Alles bleibt fließend und unverpflichtet. Daraus entsteht das Fragment: der allesahnende Geist, der zuviel-wollende Wille resignieren vor der Unmöglichkeit, sich zu erfüllen, und machen aus der Not eine Form. Im Fragment verdichten sich die geniale Intui­tion, die dionysische Berührung, das Symphilosophieren der vom geistigen Eros durchschwungenen Freundschaft; es ist ursprünglich, reich, sprühend, aber hinter ihm steht kein geistiger Charakter, der die Verantwortung über­nähme. So ist es unverbindlich und ohne letzten Ernst. ¡Sicherlich anders als die Äußerung des nur die reine Form an­erkennenden Weltmannes: kommt es doch nicht aus kühler Überlegenheit, sondern aus dem unmittelbaren Gefühl, aus der Sehnsucht nach dem Unendlichen, aus dem Ungenügen am Augenblick, der immer mehr bedeuten soll, als er bedeu­ten kann. Seine Unverbindlichkeit ist die der schweifenden Phantasie, des nie sich endgültig definierenden Gefühls und des vor jeder wirklichen Treubindung scheuenden Herzens – ist aber deswegen nicht weniger tief.

Die „Pensées“ sind anders geartet. Manchmal machen sie den Eindruck, als Fragment geformt zu sein; Pascals Blick ist so scharf und seine Sprache so mächtig, daß seine Sätze sich immer wieder zu gespannten Einheiten zusammenschließen. In Wahrheit sind es aber wirkliche Bruchstücke aus einem Gesamtwerk, zum mindesten einer Gesamtfor­schung, die als Ganzes gedacht waren, aber nicht zu Ende gebracht werden konnten. Und zwar nicht deshalb, weil ihr Urheber Unmögliches gewollt oder es ihm an Kraft gefehlt hätte. Er ist ein Könner von ungeheurem Ausmaß gewesen, aber früh krank geworden und hat sein Werk unvollendet zurückgelassen. Was bleibt, ist eine Werk­statt voller Materialien, Werkzeuge, Entwürfe, Versuchs­anordnungen, zu denen der Meister allein den Schlüssel besessen hat – man kann auch sagen: ein Schlachtfeld, das vor dem Deutlichwerden der Entscheidung erstarrt ist und den Plan nicht mehr erkennen läßt. Die „Pensées“ sind also in einem viel ernsteren Sinne Bruchstück als die Re­flexionen eines de la Rochefoucauld oder die Fragmente eines Novalis. Sie unterscheiden sich von ihnen aber auch innerlich, in ihrem geistigen Charakter. Sie stehen nicht im Abstand, sondern sind leidenschaftlich beteiligt. Sie sind nicht elegant, sondern glühend; wo aber elegant, dann in einer gefährlichen Art. Sie entspringen der Intui­tion des Genies; aber so, daß sie eine Entscheidung vor­treiben. Sie haben hohe ästhetische Qualität und sind in einer Sprache geschrieben, die bei aller Nachlässigkeit der raschen Niederschrift meisterlich genannt werden muß; werden aber nie von der Gestaltung um ihrer selbst willen, sondern von der ethischen und religiösen Forderung her bestimmt. Sie setzen an den verschiedensten Stellen an, lassen fallen, nehmen wieder auf, versuchen, vergleichen, konstruieren; der Leser hat aber nie den Eindruck, es handle sich um ein geniales Spiel. Immer ist der Gedanke vom Willen zur Wahrheit bestimmt. Diese Fragmente kennen weder die lässige Skepsis des Weltmannes noch die unberechenbare Phantastik des Romantikers, sondern sind von einem tiefen, leidenschaftlichen, ja fanatischen Ernst beherrscht. Wollte man durchaus nach einer Parallele suchen, dann würde man sie am ehesten noch bei jenem Manne finden, der, selbst Romantiker, die Romantik da­durch überwunden hat, daß er sich mit allen Mitteln auf das hin erzog, was dem Romantiker am schwersten fällt, auf die sittliche und christliche Entscheidung — Sören Kierke­gaard. Aus seinen Tagebüchern ließe sich vielleicht ein Buch zusammenstellen, das mit ähnlich glühender Ent­schlossenheit um das christlich Wesentliche ränge wie Pascals „Pensees“. Ja es würde ihnen auch noch in einem anderen Sinne ähnlich sein: auch in ihm würde alles auf eine äußerste Krisis hindrängen, auf einen letzten Zusam­menbruch, hinter welchem die Stille der Ewigkeit stünde. Doch soll auch dieser Vergleich nicht zu weit getrieben werden; denn es ist doch eine Welt, eine ganze Existenz­welt, welche die beiden Männer trennt.

Wer ist der Mann, der die „Pensées“ hinterlassen hat? Blaise Pascal wird am 19. Juni 1623 in Clermont geboren. Im Alter von drei Jahren verliert er seine Mutter. Zusam­men mit seinen beiden Schwestern Gilberte und Jacque­line wächst er in ansehnlicher Umgebung auf. Sein Vater Etienne ist ein wohlhabender und geistig hochstehender Mann. Er gehört zu einem jener Kreise, in denen die überall entstehende neuzeitliche Wissenschaft soziologisch wur­zelt, und sein Haus bildet eine Stätte hochstehender Ge­selligkeit.

Die Kinder sind noch jung, als der Vater nach Paris über­siedelt. Auch dort steht er in Beziehung zu zahlreichen Per­sönlichkeiten der mathematischen und naturwissenschaftlichen Welt. Er wird an den Hof gezogen, und auch die Kinder kommen mit der glänzenden Erscheinung des „ancien régime“ in Berührung; so wird z. B. berichtet, Kardinal Richelieu habe sie mit besonderer Gunst ausgezeichnet. 1639 wird Étienne Pascal als leitender Steuerbeamter nach Rouen geschickt, und seine Familie folgt ihm. Rouen ist Provinzstadt, aber von regem geistigem Leben erfüllt. Corneille lebt dort und tritt mit seinen ersten Werken hervor.

Die Bildung des Knaben ist von besonderer Art. Der Vater übernimmt selbst den Unterricht; dadurch erhält der Lehr­gang etwas Unsystematisches, regt aber zu eigener Unter­nehmung an. Geschichte und Philosophie kommen wenig zur Geltung; dafür legt der alte Pascal großen Wert auf die klassischen Sprachen und vor allem auf Mathematik. Gilberte berichtet in ihrem „Leben Blaise Pascals“, daß der Vater ihm zuerst die Mathematik vorenthalten habe, aus Furcht, diese herrlichste aller Wissenschaften werde ihn ganz in Anspruch nehmen und nicht zum Studium der not­wendigen Sprachen kommen lassen. Eines Tages aber habe man den Zwölfjährigen gefunden, wie er mit Kreide auf den Fliesen des Fußbodens Figuren zog, und festgestellt, daß er selbständig die 32 ersten Sätze des Euklid gefunden hatte. Die Geschichte besagt jedenfalls so viel, daß sich im Knaben eine frühe und außergewöhnliche Begabung zur Mathematik offenbarte. So läßt der Vater es sich angelegen sein, seinen Sohn in deren Studium einzuführen, und dieser macht die erstaunlichsten Fortschritte.

Mit 17 Jahren schreibt er einen „Versuch über die Kegel­schnitte“, der große Beherrschung des Problems verrät[1]. Da er seinem Vater bei dessen steuertechnischen Berech­nungen helfen muß, konstruiert er, um sich diese zu erleichtern, im Alter von neunzehn bis einundzwanzig Jahren eine Rechenmaschine, die in theoretischer wie prak­tisch-technischer Hinsicht hochvollendet ist. Zur gleichen Zeit führt Pascal das berühmte Experiment über den lee­ren Raum durch, womit er die Versuche des italieni­schen Physikers Torricelli bestätigt, ja noch weiter bringt, indem er aus der Spiegelbewegung in der luftleeren Röhre das Prinzip des hydrostatischen Gleichgewichts ableitet und es zur Konstruktion der hydraulischen Presse be­nutzt.

In seinem vierundzwanzigsten Jahre erleidet Pascals Ge­sundheit infolge der übermäßigen geistigen Anstrengun­gen einen Zusammenbruch, von dem er sich nie wieder wirklich erholt hat. Um bessere ärztliche Behandlung zu finden, siedelt er mit seiner Schwester Jacqueline nach Paris über und kommt dort in den Mittelpunkt des gesell­schaftlichen Lebens der Zeit. Er lernt den jungen, feinsin­nigen Herzog von Roannez und dessen Schwester kennen.

Bald verknüpft ihn mit den Geschwistern eine enge Freundschaft; vielleicht ist Mlle. de Roannez seine große und jedenfalls einzige Herzenserfahrung gewesen. Ferner begegnet er dem Chevalier de Méré, einem der Verkünder jenes Typus vollendeter Menschlichkeit, der die ganze Zeit be­herrschen sollte, des „honnête homme“. Dieser vermittelt Pascal die Kenntnis der Schriften Michel Montaignes, welche für ihn von da ab die größte Bedeutung haben sollen.

Pascal, der bis dahin nur in mathematischen und physika­lischen Gedankengängen gelebt hatte, stößt in diesen Krei­sen zum erstenmal auf das Problem des Menschen. Es zeugt für seine Kraft geistigen Entdeckens und Durchdringens, wie schnell er sich des neuen Phänomens bemächtigt. Wäh­rend er den Gegenstand und Begriffsbereich der Natur­wissenschaft festhält, baut er über ihm einen neuen, die „Wissenschaft vom Menschen“ auf. Die geistreichen „Dar­legungen über die Affekte der Liebe“ (Strowski III, S. 407) und vor allem die „Pensées“ geben von der Meisterschaft dieser Problemerschließung Zeugnis[2].

In Pascals Erfahrung gewinnen alle Dinge eine besondere Intensität. Verhältnismäßig kurze Zeit genügt, damit er „die Welt“ als existentielles Phänomen vorsichbekommt. So setzt denn auch bald die Krise ein. Schon in Clermont ist Pascals Vater einer religiösen Bewegung begegnet, die man summarisch als Auswirkung reformatorischer Mo­tive im französisch-kirchlichen Raum bezeichnen kann: dem frühen Jansenismus. Dieser verband eine große sitt­liche Strenge mit einer extrem durchgeführten Lehre vom Primat der Gnade. Theologisch baute er auf dem „Augu­stinus“ des Bischofs Jansenius von Ypern auf; religiös wurde er vom Abbé de Saint Cyran geführt und fand später seinen doktrinären Ausdruck in den Schriften Antoine Arnaulds. Während die jansenistischen Anschauungen großen Einfluß auf die Pascalsche Familie gewonnen ha­ben, ist Blaise zunächst nur oberflächlich von ihnen be­rührt. Das wird anders, wie er in Paris mit der Abtei Port-Royal des Champs in Beziehung kommt. Dieses in der Nähe von Versailles gelegene Zisterzienserinnenkloster war durch die junge Äbtissin Angélique Arnauld – die Schwester des bereits genannten Theologen — reformiert worden, hatte zuerst unter der Leitung des Genfer Bischofs Franz von Sales gestanden und war dann unter den Einfluß des ebenfalls genannten, religiös sehr begabten, stren­gen, aber auch unklaren Abbé de St. Cyran gekommen. Um die klösterliche Gemeinschaft hatte sich ein Kreis von gesinnungsverwandten Persönlichkeiten gesammelt, die sogenannten „Einsiedler“, Männer, die sich aus zum Teil bedeutenden Lebensstellungen zurückgezogen hatten, um sich ganz dem geistigen Leben zu widmen. Die beiden Ge­schwister werden vom Einfluß dieses Mittelpunktes starken religiösen Lebens erfaßt. Jacqueline tritt in Port-Royal ein; Pascal gerät in eine tiefe religiöse Krise. Sie entlädt sich schließlich in einer religiösen Erfahrung, welche in dem berühmten „Mémorial“ ihren Ausdruck findet – einem Schriftstück, das nach Pascals Tode in seinen Rock ein­genäht entdeckt wurde (Strowski I S. LIX).

Damit endet die „weltliche Periode“ in Pascals Leben. Ein neuer Bereich der Wirklichkeit erschließt sich ihm, der ihn von da ab ganz in Anspruch nehmen wird: die religiöse, richtiger gesagt, christliche Wirklichkeit. Das geschieht im Jahre 1654. Unter dem Einfluß des Bekehrungserlebnisses geht er nach Port-Royal und verbringt dort längere Zeit in asketischer Läuterung und religiöser Konzentration. Er gestaltet seine Lebensführung um. Von jetzt ab wird er seine Bedürfnisse immer mehr einschränken, große Strenge gegen sich selbst üben und den Armen helfen, wo er kann. Zeugnis von dieser Umkehr gibt die Schrift „Über die Be­kehrung des Sünders“ (Strowski III 383). Auch stammt wohl die tiefe, von einer mächtigen Innerlichkeit erfüllte Betrachtung über das Gebet Jesu in Gethsemane, über­liefert unter dem Titel „Das Geheimnis Jesu“, aus dieser Zeit. (Pensées Nr. 611.)

Wiederum beweist es aber die Spannkraft dieses Geistes, daß er unter dem Eindruck des religiösen Erlebnisses die früher errungenen Bereiche des Forschens nicht losläßt. Pascal beschäftigt sich mit den Problemen der Zahlentheorie, der Infinitesimal- und Wahrscheinlichkeitsrechnung[3], la studiert Montaigne und, von ihm geführt, den Menschen, mit einer Meisterschaft, die bald den Lehrer überholt. Er dringt in die Lehre der Stoa ein, die beim Jansenismus in hohem Ansehen stand und überhaupt in der Unsicherheit der ersten Jahrhunderthälfte für viele ein Halt geworden war. Als Frucht dieser Studien entsteht unter anderem die Schrift über „die Kunst zu überzeugen“, auf der Theorie vom „esprit de finesse“ als dem Organ der Intuition und dem „cœur“ als dem Organ der Werterfah­rung ruhend. Zugleich beginnen die Studien über das Wesen des christlichen Daseins und dessen Verhältnis zum Natürlichen, über die Gewißheit des Glaubens, über die Motivationen des christlichen Handelns usw. Durch alle Einzelforschungen wird sich dann die Aufgabe vordrän­gen, das Ganze des Daseins zu verstehen und darzustellen, wie es sich aus dem naturwissenschaftlichen in den psycho­logisch-soziologischen und philosophischen Bereich hebt, um schließlich seine letzte Bestimmung im Glauben zu empfangen.

Die Beziehung zum Port-Royal und zum Jansenismus hat Pascal in den Ernst der religiösen Entscheidung gezogen. Sie bringt ihm auch den Kampf und das Schicksal seines Lebens. In der genannten größeren Arbeit habe ich darzu­stellen versucht, wie dieser Kampf in dem glühenden, von harten Spannungen erfüllten Innern Pascals begründet war; wie das Kämpfen neben dem Forschen und Konstru­ieren seine stärkste Kraft, aber auch zugleich seine tiefste Gefahr bildete – eine Gefahr, die schließlich, von den Prin­zipien seiner eigenen Überzeugung her beurteilt, verhäng­nisvolle Formen annahm und ihn hart an den Bruch mit der Kirche führte. Diesen Kampf kann ich hier nicht schil­dern, sondern muß dafür auf das bereits genannte Buch verweisen[4]. Seine Fronten sind sehr verwickelt. Politische und religiöse Gegensätze durchflechten einander. Zuerst stehen der Jesuitenorden und die sich für seine Theologie einsetzenden kirchlichen wie weltlichen Kreise auf der einen Seite, die jansenistische Bewegung sowie ihr gün­stige Gruppen mit Port-Royal und Pascal auf der anderen; dann wieder Port-Royal auf der einen Seite und Pascal auf der anderen. Diese Fronten verschieben sich, und in einem bestimmten Augenblick hat man den Eindruck, als ob, von der Dämonie des Kampfes verwirrt, alles in einem Knäuel durcheinandergehe. Die äußere Entscheidung erlebt Pas­cal nicht mehr. Nachdem er durch die berühmt gewordenen „Briefe an einen Mann in der Provinz“, eine Reihe kleinerer Einzelschriften und auch sonstwie eingegriffen und sich endlich, nach einer letzten, mit äußerster Heftigkeit ge­führten Auseinandersetzung von Port-Royal losgesagt hat, bricht seine Gesundheit endgültig zusammen. Der Kampf geht nun ganz nach innen. Während der sechs letz­ten Monate seines Lebens äußert sich Pascal nicht mehr. Es ist eine Zeit des Schweigens, von furchtbaren Leiden gequält, aber, wie die Dokumente berichten, ganz dem Religiösen zugewendet und in einem tiefen Frieden sich lösend. Die Kontroverse darüber, wie Pascal sich endgültig zu den schwebenden Problemen gestellt habe, ist bis zur Stunde nicht ausgetragen. Die Deutungen wechseln je nach dem Standpunkt des Deutenden. Meine Ansicht, für die ich ebenfalls auf meine größere Arbeit verweise, geht dahin, daß Pascal den Jansenismus weder preisgegeben noch festgehalten hat, vielmehr über den Raum des Kampfes hinausgewachsen ist und eine letzte Loslösung von dem vollzogen hat, was auch in diesem Streit noch „Welt“ gewesen war.

In diesem Leben leiten die „Pensées“. Ihren Hauptteil bil­den die Vorarbeiten zu einem Werke, das die „Briefe an einen Mann in der Provinz“ zur Seite drängte, selbst aber ebensowenig vollendet wurde: der „Apologie der christ­lichen Religion“.

Problem und Methode der Apologie haben sich im Lauf der christlichen Geistesgeschichte gewandelt.

Der Begriff entsteht, zugleich mit der Aufgabe, in der Frühzeit des Christentums, als der junge Glaube genötigt ist, sich einer übermächtigen, fremd oder feindlich gesinn­ten Umgebung gegenüber zu rechtfertigen. „Apologie“ hat hier den nächsten Sinn der Verteidigung gegenüber den Mißverständnissen, Entstellungen und Angriffen der heid­nischen Öffentlichkeit. Innerlich steht der Apologet nicht im Kampf. Er selbst ist überzeugt. Das Christentum ist von mächtigen Erfahrungen zum Teil charismatischer Art ge­tragen, weiß sich von göttlicher Wirklichkeit erfüllt und empfindet die umgebende Kultur bei allem Glanz und aller Macht doch als etwas im Kern Überwundenes. So hat die Apologie eine einfache Struktur. Sie wehrt den Angriff ab und versucht vom gemeinsamen geistigen Bewußtsein aus den echten Sinn der christlichen Botschaft darzulegen.

Die frühchristliche Apologetik gipfelt in Augustinus. Zu seiner Zeit bebt das römische Reich in allen Fugen. Die öffentliche Meinung, selbst ohne religiösen Halt, wirft dem Christentum vor, es habe die Grundlagen des Reiches unterminiert und trage die Schuld an seinem Untergang. Darauf muß Augustinus antworten; so zieht er in seiner „Civitas Dei“ die Summe aller bisherigen Apologetik. Die Frage erwacht aber auch in ihm selbst, freilich auf anderer Ebene, und lautet: Kann das römische Reich, dieser Inbe­griff von Ordnung und Größe, untergehen? Augustinus sucht die Antwort, indem er Rom dem Gesamtzuge des Weltgeschehens einfügt und seinen letzten Sinngehalt in ein anderes Reich, das göttliche, aufgenommen sieht. Damit überschreitet Augustinus schon die frühchristliche Position und führt die Apologie als Auseinandersetzung mit eigenen Fragen. Er geht aber noch weiter und nimmt damit eine Situation voraus, die sich erst sehr viel später bilden wird. Augustinus hat nämlich das Problem des Glaubens selbst aufs stärkste erlebt; und so unerschütterlich seine in langem Kampfe gewonnene Überzeugung mich ist, so wird doch das Glauben für ihn nie zur Selbstverständlichkeit. Immer trägt er die Wurzel der Glaubensproblematik in sich; so steht der Gegner des in der Apologie geführten Kampfes nie bloß draußen, als der zweifelnde oder leugnende Andere, sondern auch im eigenen, spannungsreichen, von allen Gegensätzen der Vitalität, des Herzens und des Geistes bewegten Inneren. Die Apologie, die er von dorther führt, findet sich durch alle seine Werke hin zerstreut, hat aber auch eine letzte Synthese gefunden, nämlich in seinen „Confessiones[5].

Das römische Reich, in welchem sich der Kulturzusam­menhang des Mittelmeers politisch gestaltet hat, geht unter. Aus der Völkerwanderung und den durch sie werdenden volklichen und politischen Gebilden erhebt sich die Kultur des Mittelalters. Darin stellt der christliche Glaube die nicht nur von einzelnen Gruppen und Schichten, sondern allgemein anerkannte und überall zur Geltung kommende religiöse Daseinsform dar. Das christliche Denken ist we­sentlich nicht entdeckerischer und kritischer, sondern kon­templativer und konstruktiver Art. Es richtet sich darauf, die Offenbarung immer tiefer zu durchdringen und zu ent­falten. So entstehen die großen Synthesen der Kommen­tare, Summen und geschichtlichen Konstruktionen. Nach einer eigentlichen Apologetik besteht, streng genommen, kein Bedürfnis; denn es gibt keinen wirklichen Gegner. Äußerlich nicht, weil das Christentum herrscht; innerlich nicht, weil der Glau­be die Norm bildet. Nur an gewissen Randstellen wird ein Kampf geführt; vor allem gegen den Rationalismus und Pantheismus der arabischen und jüdi­schen Philosophie. Hier entwickelt sich auch eine Apolo­getik; sie findet ihren klarsten Ausdruck in Thomas von Aquins „Summe wider die Heiden“. Existentiell gesehen bleibt diese Apologie insofern äußerlich, als der Glaubende sich mit seinem Glauben selbst nicht im Kampf stehend fühlt. Er führt ihn vom objektiven Geltungsanspruch des Christentums her, wie einen Krieg gegen ein fremdes Volk in fremdem Lande, und aus theoretischem Interesse, wie ein objektiv gestelltes Problem. In beiden Fällen wirkt er als Spannungsfaktor, der die Synthese des christlichen Denkens zu höherer Leistung emportreibt.

Mit dem Ausgang des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit wandelt sich die Situation. Es bildet sich ein außer­christliches Bewußtsein, das nicht mehr den Charakter des Illegitimen trägt, sondern überzeugt ist, sich auf die großen Wertbilder der Antike sowohl wie auf die überall ent­stehende Naturwissenschaft berufen zu können. Es greift immer weiter und wird, da es die Bewegung der Kultur bestimmt, zu einer Macht in jedem Menschen. Die Pro­bleme, die durch es eine von der Offenbarung wegführende Antwort erhalten, liegen in der allgemeinen Situation; so machen sie sich auch im Innern des Glaubenden geltend und verlangen Antwort. Aus alledem entspringt die neu­zeitliche Apologetik. In ihr geht es um die Frage, wie die durch die freie Forschung sowohl wie durch den Fortgang des individuellen und kollektiven Lebens heraufgerufenen Probleme zur christlichen Offenbarung – umfassender aus­gedrückt: wie das weltliche Bewußtsein zum christlichen stehe. Dadurch wird dieses gezwungen, die eigenen Grund­lagen kritisch zu sichern, sich von der nichtchristlichen Denkweise zu unterscheiden und vom eigenen Ansatz her die sich erhebenden Fragen zu bewältigen. Es muß die Ergebnisse der neuen Arbeit ringsumher aufnehmen und sie in den eigenen Bestand einbauen. Und es muß von ihnen her am eigenen, bis dahin in sorglosem Besitz stehenden Weltbilde Kritik üben: unterscheiden, was wirklich des Glaubens ist und was nicht; die Substanz von ihrer Aus­legung, das Ernsthafte von Dichtung und Phantasie, das lichte und Bewährte vom bloß Mitgenommenen und Zwei­felhaften sondern und sich fragen, ob die verwendeten Denkmittel Stich halten.

Pascals „Apologie der christlichen Religion“ nimmt diese Aufgabe in Angriff – von einer Höhe des Standorts und mit einer Überlegenheit der Methode, die seitdem vielleicht nicht mehr erreicht worden sind. Der hier arbeitet, ist For­scher von höchstem Rang und hat im Reich der exakten Wissenschaft sowohl wie in dem des menschlichen Da­seins und des christlichen Glaubens ursprüngliche Erfah­rung. Er ist sich der Tragweite dieser Erfahrungen voll­kommen bewußt und faßt ihre Inhalte mit einer an ihnen selbst entwickelten Methode an. Als Forscher steht er in der neuen wissenschaftlichen Haltung. Als Charakter er­füllen ihn die „Leidenschaft der Unterscheidung“ und der Wille zur Konsequenz. Zugleich aber lebt in ihm noch ein starkes Maß jener religiösen Sensibilität und jener Kraft, aus dem Glauben heraus Welt zu bauen, wie sie dem Mittelalter eigen gewesen. Er steht in einer Zeit, in welcher überall das wissenschaftliche Bewußtsein durchbricht, zu­gleich aber im Kampf um die Reform der Kirche die reli­giösen Fragen aufs lebendigste empfunden und durch große mystische Persönlichkeiten die Grundkräfte des reli­giösen Lebens aufgerührt werden.

Diese Voraussetzungen bedingen die Eigenart von Pascals Apologie. Da steht kein überlegen Dozierender, der dem von Fragen Beunruhigten darlegt, die Sache verhalte sich so und so, sondern der spricht, ist selbst bis ins Innerste beteiligt. Er hat gekämpft. Dieser Kampf ist aber nicht ab­geschlossen, denn Kämpfe dieser Art werden nie abge­schlossen. Ein theoretisches Problem wird durchgedacht und ist dann erledigt; bei den Spannungen aber, die aus dem Aneinandergeraten von Offenbarung und Welt kom­men, handelt es sich darum, den Standpunkt zu finden, von dem aus in Redlichkeit geglaubt werden kann, um ferner­hin kämpfend weiterzuexistieren. Die Gültigkeit des ge­wonnenen Standpunktes aber erweist sich dadurch, daß er sich in diesem Kampf immer aufs neue bewährt. Hier wird nicht einer der herkömmlichen Beweise an den anderen ge­reiht, wobei der Hörer das Gefühl hat, die eigentlichen Fragen entgingen dem Schema und lägen ganz anderswo, sondern die wirklichen Probleme kommen in Bewegung. Es ist, als ob sie ganz neu hervorbrächen – jedes echte Pro­blem ist ja, wenn es wirklich aus den Spannungen der Existenz kommt, „neu“, mag es im übrigen noch so alt sein. Hier wird nicht die eine oder andere Teilfrage angefaßt, die dem Autor aus irgendeinem Grunde wichtig er­scheint, sondern das ganze Dasein steht in der Form der Frage auf. Diese Apologie leistet schon beim ersten Zu­griff – qualitativ, möchte man sagen; in der Weise, wie sie vorgeht – das, was eigentlich die Aufgabe einer Apologetik sein muß, die auf wirkliche Offenbarung hingeordnet ist: Sie läßt sich die Probleme nicht von außen diktieren; sie wartet nicht auf den Angriff, um ihn zu widerlegen; sie tut keine gezwungene Arbeit, glücklich über jede Frage, die nicht gestellt wird, sondern ergreift die Initiative. Sie teilt die Fragen selbst. In ihr werden eine Ebene, eine Erfahrung, ein Wahrheitsmaßstab deutlich, welche ihre Gül­tigkeit dadurch ausweisen, daß sie die Probleme des Daseins überhaupt richtig herauskommen lassen. Gewiß weist auch sie die zerstörende Problematik eines weltverfangenen Denkens in ihre Grenzen; besteht doch ein wichtiger Teil der christlichen Antwort darin, Problemgefühl und Problemwillen zu ernüchtern. Zugleich entbindet sie aber das ernste Problem und zeigt seine Tragweite.

Noch etwas anderes kommt hinzu. Pascal stellt sich die Aufgabe der Apologie nicht auf abstrakter Basis, sondern bezieht das Denkproblem des christlichen Daseins auf eine konkrete Situation. Seine Darlegungen bilden keinen theo­retischen Monolog, sondern ein Gespräch, dessen Partner ein bestimmter Mensch ist. Und zwar der Gebildete seiner Zeit in jenen beiden Verkörperungen, die ihm selbst be­sonders nahestanden: dem eleganten, genießenden, skep­tischen Weltmann und dem sittenstrengen, vernunftstol­zen, charaktervollen Stoiker. Dadurch bekommen seine Darlegungen ihre unmittelbare Lebendigkeit. Pascal ist nämlich, so sonderbar es klingen mag, ein Dramatiker, und zwar sehr seltener Art. Ihm werden der Geist zum Raum, die Ideen zu Kräften, die verschiedenen Anschauungen zu dynamischen Gestalten. Das Fragen und Antworten ist ein Kampf von Mächten, die sich als Wahrheit erweisen wol­len. In verschiedenen Schriften zeigt sich diese Dramatur­gie des Geistes, z. B. in der „Unterhaltung mit Herrn von Saci“, worin „der Skeptiker“ und „der Dogmatist“ mit­einander ringen; oder, ganz groß, in den „Briefen an einen Männin der Provinz“, worin die verschiedenen Stellungnahmen zur jansenistischen Lehre einander wie Wesen gegen­übertreten, mit dem stellungnehmenden Menschen so ganz eins, daß diese als ihre unmittelbare Verkörperung erschei­nen. Es ist das Phänomen des philosophischen Dialogs mit seinem so selten verwirklichten Anspruch. In ihm voll­zieht sich die Apologie – und zwar nicht nur jene Ab­schnitte von ihr, in denen, wie etwa dem berühmten „Argu­ment der Wette“, das Gesprächsverhältnis ausdrücklich hervortritt, sondern auch das übrige Ganze. Daraus kommt die überall in ihm spürbare innere Erregung.

Die „Apologie der christlichen Religion“ wäre Pascals Lebenswerk geworden. In ihr hätte er dargestellt, was er darzustellen hatte: die große, von mächtigen Spannungen bedrohte und von der noch größeren Macht der Wahrheit zusammengefaßte Einheit des gläubigen Daseins. Und zwar hätte er sie in jener Form gezeigt, welche zuinnerst die seine war: der des Kampfes. Es ist ihm nicht vergönnt gewesen, sein Werk zu Ende zu führen. Was uns vorliegt, bildet ein Gewirr von Bruchstücken verschiedenster Art. Das Werk ist unvollendet in jeder Beziehung. Der ur­sprüngliche Plan wird wohl nie wieder herzustellen sein. Die Sammlung der Fragmente geht auf spätere Hand zu­rück und ist schon als solche problematisch. Wir wissen nicht, wieweit die Herausgeber das Vorgefundene erhalten, was sie ausgeschieden und was sie verändert haben. Von manchen Stücken kann man nicht einmal den Wortlaut außer Zweifel setzen, da die Schrift des Kranken zuweilen nicht mit Sicherheit zu entziffern ist. Auch läßt sich nicht eindeutig ausmachen, wieweit das Überlieferte zur Apo­logie gehört, da auch aus anderen Werkbereichen, z. B. aus Skizzen für die „Briefe an einen Mann in der Provinz“, aus Entwürfen zu Kampfschriften, vielleicht auch aus Briefen Materialien in die Sammlung aufgenommen worden sind.

Was wir besitzen, ist also fragmentarisch in jedem Sinne des Wortes. Aber diesen Bruchstücken wohnt eine unbän­dige Kraft inne: Die Existentialität der Wahrheit. Daß hier die Frage aus dem Leben kommt und die Antwort in Leben übergeht, aber nicht in der Form ruhigen Schauens und inniger Aneignung, sondern eines unablässigen Kampfes, daß hier der Wahrheitskampf zur Daseinsform wird – dar­aus kommt die unvergängliche Kraft dieser Bruchstücke.

Man könnte einwenden, durch jenen Bezug auf die beson­dere Art der Pascalschen Wahrheitsfrage werde die Bedeu­tung der „Pensées“ eingeschränkt. Das trifft zu — wie über­all, wo die Wahrheit nicht in der Form rein gegenständ­licher Theorie, sondern geistigen Lebens auftritt. Indem sie konkret wird, bestimmt sie zugleich, an wen sie sich wendet. Das bedeutet nicht, daß es verschiedene Wahrhei­ten gäbe; so zu sprechen wäre nicht nur Unsinn, sondern Abfall. Wenn aber Wahrheit Existenz wird, Macht, Da­seinsgestalt, dann ist sie nicht von jedem vollziehbar wie eine Formel, sondern nur von dem, der selbst in ähnlicher Position steht. Irgendwie kann jeder die „Apologie“ und den „Phaidon“ verstehen; wirklich, existentiell nur jener, für den die Wahrheit der Idee Basis von Dasein ist. In irgendeinem logischen oder historischen Sinne wird jeder die „Confessiones“ verstehen; mit lebendiger Sprache re­den sie nur, wenn der Hörende etwas von jenem Konflikt der Geistigkeit und Sinnlichkeit in sich trägt, der sie er­füllt und der sich erst in dem Maße löst, in dem das Herz erwacht und sich dem anklopfenden Gott öffnet. Ähnlich steht es mit den „Pensées“. Interessant werden sie für jeden sein, der sie als Dokument einer großen Zeit, als Ausdruck einer mächtigen Persönlichkeit, als Fülle bedeutungsvoller Formulierungen zu würdigen versteht – wichtig aber in dem Sinne, den wir schon mehrmals auszudrücken such­ten: Ort der Begegnung mit dem Wesentlichen, Anstoß zum Schicksal im Geistigen können sie nur dem werden, der ihnen irgendwie verwandt ist. Der Geist muß ihm Wirklichkeit, Macht, glühendes Leben sein. Die Frage nach der Wahrheit muß ihm aus dem Kern des Daseins kommen und Verstand, Willen und Herz in Anspruch neh­men. Der Begriff darf ihm kein „bloßer Begriff“ bleiben, sondern muß ihm zum Ausdruck existentieller Entschei­dung werden. Er muß einen Sinn dafür haben, wie die tiefste Erfahrung sich im begrifflichen Denken vollendet und der reine Gedanke Inhalt vom Leben wird. Dann wird ihn dieses seltsame Buch, das gar kein richtiges Buch ist, so tief berühren, daß er es nie wieder ganz zur Seite legt.

Quelle: Blaise Pascal, Gedanken, übertragen von Wolfgang Rüttenauer, Leipzig: Dieterich, o.J., S. VII-XXVIII.


[1] Er enthält den Satz vom Pascalschen Sechseck: 1. In jedem einem Kegelschnitte einbeschriebenen Sechseck liegen die drei Schnittpunkte von je zwei gegenüberliegenden Seiten auf einer Ge¬raden („Pascalsche Gerade“). Sechs Punkte eines Kegelschnitts kann man durch Überschlagen von Punkten auf 60 verschiedene Weisen verbinden. Dadurch entstehen 60 verschiedene Sechsecke, deren jedes eine andere Pascalsche Gerade hat. Von diesen gehen je drei durch einen „Steinerschen Punkt“. Nach dem Prinzip der Du¬alität entspricht dem Pascalschen Satz der von Brianchon. 2. Liegen auf zwei sich schneidenden Geraden die Punkte a b c und a‘ b‘ c‘ so, daß b c‘ und c b‘ parallel sind, ebenso a c‘ und c a‘, so sind auch ab‘ und ba‘ parallel. Dieser Satz gehört zu den Grundlagen der Geometrie.
Die unter dem Namen „Pascalsche Schnecke“ bekannte ebene Kurve vierter Ordnung geht auf Pascals Vater zurück.

[2] Über die Begriffe, die er dabei verwendet und die von einer heute wieder neu aufleuchtenden Richtigkeit und Kraft sind, habe ich in einer größeren Arbeit — Christliches Bewußtsein; Versuche über Pascal. I. Hegner, Leipzig 1935 — Rechenschaft zu geben versucht. Siehe darin besonders S. 60 ff.

[3] Pascal stellte u. a. als erster die als „Pascalsches Dreieck“ berühmte Zahlenanordnung auf, welche die Binomialkoeffizienten entwickelt.

[4] Kap. 6, S. 235 ff.

[5] Siehe dazu mein Buch: Die Bekehrung des Heiligen Aurelius Augustinus (Jakob Hegner, Leipzig 1935); besonders dessen zweiten Teil, S. 187 ff.

Hier der Text als pdf.

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