Sören Kierkegaards Stärke im Gebet
Von Walter Rest
Es gibt viele Möglichkeiten, ein guter Christ zu sein. Ein jeder ist dazu aufgerufen, einem Ruf, seinem Ruf, zu folgen. Gott spricht nicht in allgemeinen Redensarten, er ruft den Menschen in sehr verschiedenen Weisen an. Die Antwort muß in je eigener Weise erfolgen. Die Mannigfaltigkeit dieses Verständnisses, was Gott uns abverlangen mag, spiegelt sich deutlich in den Lebensbildern unserer Heiligen: Keiner gleicht einem andern, jeder erreicht sein Heil in seiner Weise. In der Einmaligkeit ihres Lebens prägt sich ihre Heilwerdung aus. Es gibt keinen »Passepartout« des Christseins. Waren darum nicht auch jene Zeiten immer noch die müdesten, in denen Schemata und Abziehbilder zu Richtpunkten eines »Normal-Christentums« gesetzt wurden? Der Konformismus ist nur Wegbereiter allgemeiner Verflachung des Lebens und heute erster Helfershelfer kollektivistischer und totalitärer Strömungen in allen Bereichen des Daseins, auch im kirchlichen Leben, in Beruf und gesellschaftlicher Verflechtung. Nur, wo der Einzelne qualitativ wieder zur Geltung gelangt, kann auch Gemeinde wieder wachsen, Berufung zu Beruf werden und Verantwortung das öffentliche Leben füllen.
Sören Kierkegaard hat immer wieder von dieser Mission des Einzelnen gesprochen, aber nicht nur das, er hat sie in seinem Leben selber verwirklicht, er war ein Einzelner. Mit Leidenschaft setzte er sich immer wieder von der »Menge«, dem »Publikum«, der »Masse« ab, die seine und unsere Zeit beherrschen möchten. Als Einzelner weiß er sich vor Gott gestellt, um jeden Schritt nur in innigem Einverständnis mit ihm zu tun. Als Schriftsteller war er ein Mensch der großen und angestrengten Reflexion, die er in mehrfacher Überreflexion bis in ihre äußersten Verstecke hinein zu erhellen wußte; als Dialektiker ruhte er nicht, bis seine eigene Dialektik noch einmal dialektisch geprüft war; überall setzte er die Sonde der Unterscheidung an, auch wenn es schmerzen mußte, und dennoch beruhigte er sich nie im Erreichen eines Zieles: »Die Ordre lautet: weiter!«, so heißt es immer wieder in seinen Tagebüchern. Ein Mensch unablässiger Wachsamkeit, eingedenk der Schriftworte: »Wenn du nicht wachest, so werde ich zu dir kommen wie ein Dieb« – »Selig, der da wachet!« – »Was ich euch sage, das sage ich allen: Wachet!« Er sah die Christenheit in einen gefährlichen Schlaf versunken, müde und satt, und verstand, daß in solchen Augenblicken der Verräter leichtes Spiel hat. »Haltet hier stand und wachet!«, so sprach der Herr zu Petrus und den beiden Zebedäussöhnen im Garten von Gethsemani, und bitter war sein Vorwurf, als er sie schlafend fand, daß sie nicht eine Stunde mit ihm wachen konnten: »Wachet und betet, damit ihr nicht in Anfechtung fallet!«, so lautete drängender noch als vorher seine Mahnung – aber sie schliefen, wieder und wieder schliefen sie.
Kierkegaard hat seine Schriftstellerei im Sinne eines Wachdienstes verstanden, als Schiffsjunge im Ausguck, als Spion, als christlicher Mäeutiker, der wachrüttelt, aufmerksam macht, im Dienst des Allerhöchsten! Mag man seine Schriften von Stil und Methode her glänzend oder unerträglich empfinden, der Grund für ihre radikale Durchreflektiertheit und intellektuelle Geschliffenheit ist nicht ein Spiel des Könners oder die Eitelkeit rationalistischer Überspanntheit, sondern die Sorge des wachen Menschen in solcher Zeit. Mit gleichstarken Waffen wollte er seiner Zeit die endgültige Nivellierung durch die Systemphilosophie, durch Doktrinen und Ideologien verwehren. Keine psychologische oder philosophische, keine soziologische oder zeitkritische Kategorisierung kann liier zureichend und treffend sein, sondern nur der theologische, der heilsgeschichtliche Grund: als religiöser Erwecket wirken zu wollen, wirken zu müssen, das Christentum wieder in die Christenheit einzuführen, den einzelnen Christen in die wache Entscheidung zu stellen.
Man wird von einem Menschen, der sich weigert, einen Spalt zu übertünchen, um ruhig schlafen zu können, der die Tragfähigkeit eines Grundes bezweifelt, auf dem andere fahrlässig bauen, man wird einem Menschen, der Patentlösungen, die laut angepriesen werden, ablehnt, mit Leidenschaft ablehnt, weil sie wie Narkotika berauschen, nicht einräumen können, daß er ein angenehmer Zeitgenosse sei. Und so warfen ihm selbst ernsthafte Betrachter Mangel an natürlichem Vertrauen vor, Mangel an kindlicher Gläubigkeit und das Fehlen der notwendigen Vitalität. Man wähnte ihn statt dessen krankhaft, unmännlich, verstiegen, auch wohl haltlos lüstern und dämonisch. Und so machte man ihn, mangels eines anderen Namens kurz zum »Intellektuellen«. Welche Ironie, kein Name könnte treffender sein: ein Unterscheidender, ein Sehender, ein Wachender! Es ist bezeichnend, daß man in den Jahren des Unterganges der Neuzeit gerade über diese »Intellektuellen« herfiel, und gibt es nicht zu denken, daß sich heute diese Szene zu wiederholen scheint? Wird sie sich nicht immer wiederholen, wenn der endzeitliche Charakter des Jüngsten Tages, den wir leben, den die Christenheit immer als die »kurze Weile nur« schon lange lebt – ob wissend oder unwissend –, wird nicht gerade der bewußte Mensch gelästert und verfolgt werden? Wir meinen den echten Intellektuellen, nicht den Bastard, dem der Grund zur Unterscheidung der Geister fehlt, dem das Aufreißen der Wunden ein sadistisches Spiel ist; wir meinen den echten Intellektuellen, dem die Gabe gegeben, die Diagnose zu stellen, weil er sich Rat und Hilfe von jenem holt, der allein das remedium sempiternum zu geben vermag. Und darum ist es an der Zeit, einmal deutlich zu zeigen, wie sehr sich dieser Intellektuelle Kierkegaard von jenen unterscheidet, die sich im bloßen Zirkel ihres Gedankenwirbels drehen und wenden: Den betenden Kierkegaard, der all seine Last auf Gott geworfen hat, um sich von ihm helfen zu lassen und nicht einen Gedanken ohne ihn zu denken! Denn darin liegt seine Stärke, Gottes zu bedürfen, ihn zum Vater zu haben, war doch die Mahnung zur Wachsamkeit an die Mahnung zum Gebet gebunden: vigilate et orate! Nur, wer diese Seite unsres Denkers nicht keimt, wird ihn auch nur »intellektuell« verstehen und die Rede von der christlichen Existenz als bloßes Gedankenmonstrum abtun können. Er war im entscheidenden Sinne mehr.
Kierkegaard hat mehrfach betont, daß er seine eigentliche Stärke im Beten habe, ja, er nennt sie kühn sogar seine wahre »Genialität«. Die Kraft zum Gebet ist also ursprünglich in ihm, sie ist nicht durch Wille und Askese erzwungen worden, sie gehört zu seinem urtümlichen Wesen. Wer seine Tagebücher keimt, seine erbaulichen, religiösen und christlichen Reden gelesen hat, der wird über die Fülle seiner Gebete immer wieder nur staunen können. Sein ganzes Werk ist ohne sein Gebet überhaupt nicht denkbar. Wie kann man daher an dieser Tatsache vorübergehen, wie will man dem Denker, Dichter, Theologen, dem Schriftsteller gerecht werden, wenn man kurzerhand darüber hinweg sieht. »Die letzte Unterstützung in Hinsicht auf alles Handeln ist – zu beten, das ist eigentlich die wahre Genialität, so kommt man nie zu kurz.« Alle Reflexion – so schreibt er in einem »Rapport« aus dem Jahre 1846 – könne das letzte nicht schaffen, sondern das Vollendende, ein bestimmtes »Mehr«, wie er sagt, verdanke er nicht der Reflexion, sondern der Vorsehung, so daß er die seltsame Erfahrung machen müsse, hinterher, wenn man sich ihr anvertraut habe, alles weit besser zu verstehen. Kierkegaards Leben und Werk steht daher auf dem Hintergrund eines ununterbrochenen Gebetes; wie aber will man den Vordergrund kennen, wenn man das nicht weiß!
Welcher Art mag sein Beten gewesen sein? Es ist das Gebet des wachenden Menschen, wach, also reflektiert im Gebet selber noch und doch unmittelbar zu Gott hin gesprochen, oft auch aufsteigend zum Dank- und Loblied. Man merkt es ihnen an, daß diese Gebete gesprochen wurden, und man sollte sie daher laut nachlesen, besser noch: nachbeten! Ja, man kann diese Gebete sehr wohl beten, man kann sie sich zu eigen machen, es sind Gebete eines Einzelnen zu Gott, es sind oft Dialoge, weil man zwischen den einzelnen Sätzen die Antwort Gottes vernehmen kann. Es sind Gebete im echten Sinne, gefüllt mit biblischem Wissen und von einem lebendigen Gottesverhältnis. Es sind im theologischen Sinne echte Gebete, keine privaten, subjektiven Ergüsse des Herzens oder des Verstandes. Und doch, bei einem Menschen, dem die Gabe der Unterscheidung im intellektuellen Sinne gegeben war, sind sie nicht ohne großen Rang im geistigen Anspruch. Darum kann er einmal im abstrakten Bereich die Entwicklung der apriorischen Begriffe mit der Sphäre des Gebetes vergleichen, indem er aufzeigt, daß der Mensch nicht »auf die freieste und subjektivste Weise in ein Verhältnis zu Gott sich setze«, sondern daß es der Heilige Geist ist, der das Gebet wirke, »so, daß das einzige Gebet, das noch übrigbliebe, das wäre: beten zu können, wenngleich bei tieferem Nachsehen auch noch dieses in uns gewirkt wird« – so habe auch keine Deduktion, Begriffsbildung, oder wie man es nennen wolle, eine konstitutive Kraft. Wie das Gebet in uns gewirkt werde, so der apriorische Grundbegriff. Dieser merkwürdige Vergleich macht noch einmal mit Nachdruck deutlich, daß seine Gebete nicht subjektiven, privaten Charakter haben, wenngleich sie aus personhafter Tiefe kommen. Sie stammen aus einer lebendigen Gottergebenheit, in die er sich unermüdlich einübte: »Die Hauptsache ist, daß man recht aufrichtig gegen Gott ist, nicht von etwas loszukommen sucht, sondern durchdringt, bis er selber die Erklärung gibt; ob sie mm so ist, wie man sie selber sich wünscht, oder nicht, sie ist doch die beste!« Daß unter solcher Voraussetzung seine Gebete nicht die Einfalt des Kindermundes haben, die uns bei großen Menschen oft zu rühren pflegt, sondern eine ihm adäquate Form besitzen, macht sie noch in besonderem Maße gültig. Er ist noch im Gebet mündig! Gewiß, es sind nicht die objektiv gültigen Texte der betenden Kirche, und es kann nicht die Absicht sein, sie ihnen gegenüberzustellen, aber es sind Gebete eines lebendigen Gliedes der Gemeinde, in der Kierkegaard als Einzelner, wie einst der Psalmist, seine Stimme zu Gott erhebt. Wäre es nicht vielleicht dennoch durchaus denkbar, daß sie von einer Gemeinde gebetet würden? Fügen sie sich nicht in das große Gebet ein, das Gott in allen Menschenherzen entzündet und jeweils verschieden die Zungen zum Lallen, zum kultischen Hochgesang oder auch zum Streitgebete löst, um dadurch zu siegen, daß Gott siegt.
Im Jahre 1844 veröffentlichte Kierkegaard vier erbauliche Reden. Eine von ihnen behandelt das Thema: »Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – dadurch, daß Gott siegt.« In dieser Rede kennzeichnet Kierkegaard sehr eindrucksvoll seine Gebetshaltung, in der der Betende Gott aktiv gegenübertritt, obwohl er vorweg weiß, daß Gott der Sieger in diesem Ringen bleiben wird, was aber zugleich bedeutet, daß der Betende, indem er verliert: siegt. Schon in dieser Dialektik prägt sich die ganze Eigenart seines Gebetes aus, die bis wenige Jahre vor seinem Tode kennzeichnend blieb.
In einer sehr lebendigen Weise – man vergleiche damit einmal die landläufigen »erbaulichen« Trakte über das Beten! – demonstriert der Verfasser zunächst einmal, wie lächerlich es der Welt vorkommt, das Gebet ernst nehmen zu sollen. Ausführlich behandelt Kierkegaard sodann die Schwierigkeit, daß die Wirkung des Gebetes nicht in die unmittelbare Erscheinung der Sinnenwelt tritt und daher den Menschen, der konkrete Ergebnisse haben möchte, abstoßen muß. Die Wirkung des Gebetes zielt auf den inneren Menschen, denn nur so erschließt sich ihm das Ewige. Diese Innerlichkeit besitzt nur das Kind, und darum erfordert die rechte Gebetshaltung die Hingabe und Innerlichkeit des Kindes. Man würde aber eine wesentliche Unterscheidung übersehen, wollte man mit diesem Hinweis auf das Kind eine abschließende Aussage gemacht haben. Für das Kind ist zwar Gott in Wahrheit lebendig und gegenwärtig, jedesmal, wenn es an ihn denkt, aber seine Vorstellung von Gott ist noch nicht durchgebildet genug, ist in einem anderen Sinne nicht eben sehr »göttlich«. Der Erwachsene bedarf also der schlichten kindlichen Grundhaltung im Gebet, aber er muß doch auch mit Gott eine Vorstellung verbinden, die über die Vorstellungen des Kindes hinausgeht. Den Gebeten Kierkegaards ist daher eigen, daß sie von einer kindlichen Innerlichkeit und von einer Hingabe erfüllt sind, wie sie nur Kinder haben können, zugleich aber spricht aus ihnen der reife Mensch, der reflektieren de, seine Bitten sehr wohlprüfende und verantwortende Beter. Beten heißt also, zu Gott in kindlicher Innerlichkeit, nicht aber »kindisch« sprechen! Darum ringt der Mensch im Gebet aufrichtig mit Gott, durchaus auf ein Ziel hin, das er mit Gotte Hilfe erreichen möchte, und dabei soll er sehr wohl seine Gedanken anstrengen und nach der auch noch so fernen Erfüllung seiner Bitte spähen, ja die unbedeutendste Begebenheit beschwören, ob sie nicht das bergen sollte, worum es ihm geht. Nicht aber ist es die richtige Haltung, wie ein Kind einmal dieses und dann jenes zu wollen, oder sein Gebet als einen listigen Trick anzusehen, der gelingen oder mißlingen mag. Die Beständigkeit, die man von erwachsenen Menschen fordert, wird daher auch im Gebet darüber entscheiden, ob es in der Rechtheit steht. Der Betende ist ein Kämpfer in einem gerechten Streit, und es geht ihm um den Sieg. Der Erfolg, der Sieg aber besteht darin, daß Gott siegt, und dadurch wird der Betende zum rechten Beter. Nun ist es gewiß nicht leicht, sich besiegen zu lassen, die Überlegenheit des »Gegners« zu erfahren und dennoch weiter um den Sieg zu streiten. Die Innerlichkeit bewährt sich darin, daß sie nicht gegen Gott aufbegehrt, sich nicht aus dem Gottesverhältnis herausstreitet, sondern sich in Gott hineinarbeitet. Dies ist das eigentliche Ziel des Gebetes: die Gewinnung der Gottinnigkeit und nicht die Durchsetzung einer Absicht. Und genau diese Sprache sprechen alle Gebete Kierkegaards. Im Gebet geht es um Gott, der Einzelne und Gott, das ist die Paarung dieses Streites. Und es geht um die Gewinnung einer Erklärung, einer Antwort. Nicht um die zerstreuende Antwort, die man einem Kinde gibt, weil es die letzten Zusammenhänge nicht begreift und daher nur zufriedengestellt zu werden braucht. Es geht um die letzte Erklärung, die in harter Arbeit unermüdlich gewonnen werden muß, die man aber nur dadurch gewinnt, indem man verliert, indem man vor Gott zunichte geworden ist: »Wenn das Meer all seine Gewalt anstrengt, kann es gerade nicht das Bild des Himmels wiedergeben, und schon bei der geringsten Bewegung gibt es dieses nicht rein wieder; wenn es aber still und tief wird, so sinkt des Himmels Bild in sein Nichts.« So ergeht es dem rechten Beter, der in die Stille und Ruhe verwandelt wird, um das Bild Gottes in sich aufzunehmen. Der letzte Akt des Betenden ist dann nur noch Dankbarkeit; wer aber immer dankt, ist der rechte Beter. Bis wenige Jahre vor seinem Tode hat Kierkegaard in dieser Weise beten können. Dann aber kam die Unruhe über ihn, die schließlich in Sturm übergehen sollte. Niemand weiß, ob ihm hierbei das Bild Gottes verlorenging, das sich so tief in ihn hineingesenkt hatte. Er hatte diese Wandlung deutlich verspürt und auch in seinen Tagebüchern aufgezeichnet, was uns Gewähr genug dafür sein mag, daß er ein wachsamer Streiter blieb, den der Dieb in der Nacht nicht überraschen konnte.
Die Wandlung zu einer anderen Gebetshaltung erfolgte langsam und nicht abrupt. Nachdem er Jahre hindurch die Erfahrung gemacht hatte, daß er Gott um alles bitten konnte und ihm selbst das Kühnste gewährt wurde, »denn einen Allmächtigen soll man nicht kleinlich machen«, schwand dieses natürliche, kindliche Grundverhalten, da sja immer schon durch ein tiefes Leiden – seine Schwermut von Jugend ausgebrochen gewesen war. Im Jahre 1853 schreib, er in seinem Tagebuch, daß dies nun ganz anders geworden sei: »Nach und nach bin ich mehr und mehr darauf aufmerksam geworden, daß alle die, welche Gott wirklich geliebt hat… in dieser Welt leiden mußten. Weiter, daß dies die Lehre des Christentums ist: geliebt werden von Gott und Gott heben ist leiden.« Damit ist es mit dem »Streit« vorbei. Die neue Haltung entspricht eher einem Mit-sich-geschehen-Lassen. Man könnte an das Überschreiten einer Schwelle zur Mystik hin denken: in die amour désintéressé, denn nun konnte er nicht mehr um irgendein Glück oder einen Erfolg bitten. »Wenn ein Wunsch erwachte – und ich wollte beten, da war er wie weggeblasen, alle meine einst brennende Innerlichkeit; denn es war mir, als sähe ich Gott auf mich bücken und sagen: mein kleiner Freund, bedenke wohl, was du tust, willst du denn, daß ich dich nicht lieben soll, und willst du davon befreit sein, mich zu heben?« Die Ruhe, in die ihn diese Gebetshaltung führte, war die Ruhe vor dem letzten Sturm. Zwar zeigen seine Schriften aus dem Jahre 1848 und 1851 über das Verständnis seiner »Verfasser-Wirksamkeit« immer noch ganz eindeutig, daß er sich als religiöser Schriftsteller versteht, der »wie ein Schreiber auf seinem Kontor« für Gott seine Pflichtarbeit leistet, in unbedingtem Gehorsam und in tiefem Einverständnis, voller Dank im Gebet. »Im stillen Überlassen an Gott« erwartete er das nähere Verständnis. Denn die Endfrage seines Lebens, die ihn schon früh beschäftigt hatte, lautete, ob das Neue Testament eine andere Art als den »Jünger« für das Christsein anerkenne. Der in seinem letzten Lebensjahre erfolgte direkte Angriff auf die Christenheit und namentlich auf die dänische Staatskirche scheint deutlich zu machen, daß ihm auch darüber Gewißheit wurde.
In seiner Auswahl aus den Tagebüchern Kierkegaards schreibt Theodor Haecker in einem abschließenden Wort: »In den letzten Tagen des Jahres 1854 begann jener Kampf, der mit dem „Augenblick“ und dem Tode Kierkegaards aus vollständiger Erschöpfung endete. 1855 hat Kierkegaard kein Journal mehr geführt [es sind uns aus dieser Zeit auch keine Gebete mehr überliefert] – war vorher schon alles Private fast ganz zurückgetreten, so ist es jetzt schlechtweg aufgesaugt von seiner öffentlichen Tätigkeit. Kierkegaard ist während dieser 10 Monate im eminenten und idealen Sinne Publizist.« Man kann darüber anders denken. Wer den Weg des Beters verfolgt, wird zu der Auffassung neigen können, daß er nunmehr ganz Instrument wurde, Werkzeug, gebrechlich, aber zutreffend, das sich von Gott im weltlichen Sinne brauchen, verbrauchen Heß, bis zur völligen Erschöpfung, um dann im totalen Sinne Gott in die Arme zu sinken. Da er, weltlich gesprochen, vollkommen scheiterte und seinen Kampf verlor, sollte er nicht in Gott gesiegt haben?
Quelle: Sören Kierkegaard, Gebete, hrsg. v. Walter Rest, Köln-Olten: Jakob Hegner, 21957, S. 13-27.