Hannah Arendt über kollektive Verantwortung (1968): „Die stellvertretende Verantwortung für Dinge, die wir nicht getan haben, das Auf-uns-Nehmen der Konsequenzen von Dingen, an denen wir vollkommen unschuldig sind, ist der Preis, den wir für die Tatsache zahlen, dass wir unser Leben nicht mit uns allein, sondern unter unseren Gefährten leben. Sie ist der Preis dafür, dass die Fähigkeit zum Handeln, die schließlich die politische Fähigkeit par excellence ist, nur in einer der vielen und mannigfaltigen Formen menschlicher Gemeinschaft verwirklicht werden kann.“

Kollektive Verantwortung

Von Hannah Arendt

Obwohl ich dem zustimme, von dem ich meine, daß es die beiden Kernthesen von Mr. Feinbergs Text (s. unten) sind so muß ich gestehen, daß ich einige Schwierigkeiten damit habe. Ich stimme mit ihm überein hinsichtlich seiner strengen Unterscheidung zwischen Schuld und Verantwortung. „Kollektive Verantwortung,“ schreibt er, „ist ein spezieller Fall von stellvertretender Verantwortung; und so etwas wie stellvertretende Schuld kann es nicht geben.“ Mit anderen Worten, es gibt so etwas wie Verantwortung für Dinge, die man nicht getan hat, man kann für sie zur Rechenschaft gezogen werden. Aber es gibt kein Schuldigsein oder sich schuldig Fühlen für Dinge, die passierten ohne daß man selbst an Ihnen beteiligt war. Dies ist ein wichtiger Punkt, der gerade zu einer Zeit klar und deutlich ausgesprochen werden sollte, in der so viele gute weiße Liberale ihre Schuldgefühle in der Schwarzen-Frage bekennen. Ich weiß nicht wie viele Präzedenzfälle es für derart fehlgeleitete Gefühle in der Geschichte gibt. Aber was ich weiß ist, daß im Nachkriegs-Deutschland, wo ähnliche Probleme hinsichtlich dessen auftauchten, was das Hitler-Regime den Juden angetan hat, der Ausruf „Wir sind alle schuldig“, der beim ersten Hören so äußerst nobel und verführerisch klang, in Wirklichkeit nur dazu diente, diejenigen in einem erheblichen Maße zu entlasten, die tatsächlich schuldig waren. Wo alle schuldig sind, ist es keiner. Schuld, anders als Verantwortung, sondert immer aus; sie ist ausschließlich persönlich. Sie resultiert aus einer Handlung, nicht aus Intentionen oder Möglichkeiten. Nur in einem metaphorischen Sinne können wir sagen, daß wir uns für die Sünden unserer Väter oder unseres Volkes oder der Menschheit schuldig fühlen, kurz, für Taten, die wir nicht begangen haben, obwohl der Lauf der Ereignisse uns sehr wohl für sie büßen lassen kann. Und weil das Schuldgefühl, mens rea oder schlechtes Gewissen das Bewußtsein für die Untat, eine so wichtige Rolle in unserem rechtlichen und moralischen Urteilen spielt, mag es klug sein, sich solcher metaphorischer Äußerungen zu enthalten, die, werden sie wortwörtlich genommen nur zu falscher Sentimentalität fuhren können, in der alle wirklichen Fragen verdunkelt werden. Mr. Feinberg selbst, so fürchte ich, ist manchmal gefährlich nahe daran, seine eigene klare Unterscheidung zunichte zu machen, wenn er den Begriff der „sympathetic identification“ (einfühlende Identifikation) einführt und sagt, daß „jedes Gefühl, das eine Person empfinden kann, von einer anderen, einbildungsbegabten Person nachempfunden werden kann.“ Wenn dies wahr wäre, dann gäbe es in der Tat ein solches Phänomen wie stellvertretendes Schuldgefühl; doch Mr. Feinberg hat selbst seine Zweifel daran – „ein authentisches stellvertretendes Gefühl, wenn es so etwas geben kann.“ Wir nennen es Mitleid, was ein Mensch fühlt, wenn ein anderer leidet. Und dieses Gefühl ist nur authentisch, solange man sich darüber im klaren ist, daß schließlich nicht man selbst, sondern daß ein anderer es ist, der leidet. Es ist jedoch richtig, denke ich, daß „Solidarität eine notwendige Bedingung“ für Mitgefühl ist. Und dies hieße, übertragen auf die Frage nach dem kollektiven Schuldgefühl, daß der Ausruf „Wir sind alle schuldig“ in Wahrheit eine Solidaritätserklärung mit den Tätern ist.

Ich weiß nicht, wann der Ausdruck „kollektive Verantwortung“ erstmals auftauchte, aber ich bin mir ziemlich sicher, daß nicht nur der Begriff, sondern auch die Probleme, die er impliziert, ihre Bedeutung und das ihnen zukommende allgemeine Interesse politischen Kategorien, d.h. von rechtlichen und moralischen unterschiedenen Kategorien, verdanken. Meine Schwierigkeiten mit Mr. Feinbergs Text rühren nicht daher, daß er diese Dimension der Frage außer Acht läßt – er diskutiert die politischen Probleme im letzten Teil seines Textes -, sondern daß er von Anfang an versucht, alle Problemstellungen Beispielen entsprechend zu konstruieren, die entweder rechtlich oder moralisch relevant sind, so daß die politische Frage nichts weiter zu sein scheint als ein Sonderfall dessen Angelegenheiten gängigen rechtlichen Verfahren oder gängigen moralischen Urteilen unterliegen. Mr. Feinberg unterscheidet zwischen rechtlichen und moralischen Maßstäben. Moralische Maßstäbe seien strenger als die Maßstäbe rechtlicher Strafbarkeit, wobei die Unterscheidung seiner Meinung nach einer Sache des Grades sei. Ich bin mir nicht sicher, ob Ich dem gänzlich zustimmen würde. Zum Beispiel ist Glücksspiel rechtlich verboten zumindest in diesem Land. Obwohl ich keine professionelle Spielerin bin, sind meine moralischen Maßstäbe in dieser Angelegenheit wesentlich weniger streng. Ich stimme ihm jedoch zu, daß rechtliche und moralische Maßstäbe einen sehr wichtigen Punkt gemeinsam haben – sie beziehen sich immer auf eine Person und auf das, was diese Person getan hat. Wenn eine Person zufällig in ein gemeinschaftliches Unterfangen verwickelt ist, wie im Falle der organisierten Kriminalität, bleibt es einzig und allein die Person, und nicht die Gruppe, über die geurteilt werden muß, der Grad ihrer Beteiligung, ihre spezifische Rolle usw. Die Tatsache Ihrer Mitgliedschaft spielt nur insofern eine Rolle, als daß sie die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß die Person ein Verbrechen begangen hat; und dies ist im Prinzip nicht anders als bei einem schlechten Ruf oder einer ausgewiesenen kriminellen Vergangenheit. Egal ob der Angeklagte ein Mitglied der Mafia oder ein Mitglied der SS oder einer anderen kriminellen oder politischen Organisation war und uns versichert daß er ein bloßes Zahnrad war, das nur auf Befehl von ‚Oben‘ gehandelt und nur das getan hat, was jeder andere an seiner Stelle auch getan hätte, sobald er vor einem Gerichtshof erscheint, erscheint er als Person und wird nach dem beurteilt, was er getan hat. Es ist die Größe von Gerichtsverfahren, daß selbst ein Zahnrad wieder zu einer Person werden kann. Und dasselbe scheint in einem noch höheren Maße für das moralische Urteilen zuzutreffen, das die Entschuldigung: Meine einzige Alternative wäre Selbstmord gewesen, nicht so berücksichtigt wie das Rechtsverfahren. Es ist keine Frage von Verantwortung, sondern von Schuld.

Mir scheint, daß Mr. Feinberg durch die Wahl seiner Beispiele die genaue Unterscheidung zwischen Verantwortung und Schuld verwischt, die sein eigener Ausgangspunkt war. Es handelt sich nicht um kollektive Veranwortung im Falle der tausend erprobten Schwlmmer, die an einem öffentlichen Strand herumlungern und einen Menschen im Meer ertrinken lassen, ohne ihm zur Hilfe zu kommen, weil sie zunächst kein Kollektiv waren. Es handelt sich nicht um kollektive Verantwortung im Falle der Verschwörung zu einem Bankraub, weil ein Vergehen nicht stellvertretend begangen werden kann. Es handelt sich um verschiedene Grade von Schuld. Und wenn, wie im Falle des Gesellschaftssystems der Südstaaten nach dem Krieg, nur die „entfremdeten Ortsansässigen“ oder die „Ausgestoßenen“ unschuldig sind, so haben wir wieder einen glasklaren Fall von Schuld. Denn alle anderen haben tatsächlich etwas getan, was keineswegs „stellvertretend“ ist.

Mr. Feinberg’s Argumentation weiter folgend, würde ich sagen, daß für kollektive Verantwortung zwei Bedingungen erfüllt sein müssen: Ich muß verantwortlich gehalten werden für etwas, was ich nicht getan habe. Und der Grund für meine Verantwortlichkeit muß meine Mitgliedschaft in einer Gruppe (einem Kollektiv) sein, die kein willentlicher Akt von meiner Seite aus lösen kann, das heißt, eine Mitgliedschaft, die gänzlich anders ist als eine Geschäftsbeziehung, die ich durch meinen Willen lösen kann. Die Frage der „beitragenden Gruppen Schuld“ (contributory group fault) muß hier in der Schwebe gelassen werden, weil jede Beteiligung bereits nicht-stellvertretend ist. Meiner Meinung nach ist diese Art von Verantwortung immer politisch, ob sie nun in der älteren Form erscheint, in der eine ganze Gemeinschaft die Verantwortung für alles auf sich nimmt, was auch immer eines ihrer Mitglieder getan hat, oder ob eine Gemeinschaft für das verantwortlich gehalten wird, was in ihrem Namen geschieht. Der letztere Fall ist für uns natürlich von größerem Interesse, weil er, im guten wie im schlechten, auf alle politischen Gemeinschaften und nicht nur auf repräsentative Regierungen zutrifft. Jede Regierung übernimmt Verantwortung für die Taten und Untaten ihrer Vorgänger und jede Nation für die Taten und Untaten der Vergangenheit. Das gilt für revolutionäre Regierungen, die Verpflichtungen aus vertraglichen Vereinbarungen verneinen können, die ihre Vorgänger eingegangen sind. Als Napoleon Bonaparte der Herrscher Frankreichs wurde, sagte er: Ich übernehme für alles Verantwortung, was Frankreich in der Zeit von Karl dem Großen bis zum Terror von Robespierre getan hat. Mit anderen Worten, er sagte, all dies geschah in meinem Namen, soweit ich ein Mit glied dieser Nation und der Repräsentant dieses politischen Körpers bin. In diesem Sinne werden wir immer verantwortlich gehalten für die Sünden unserer Väter, wie wir auch den Lohn für ihre Verdienste ernten. Aber natürlich haben wir keine Schuld an ihren Untaten, weder moralisch oder rechtlich, noch können wir uns ihre Taten als unsere eigenen Verdienste anrechnen. Wir können dieser politischen und streng kollektiven Verantwortung nur entgehen, indem wir die Gemeinschaft verlassen. Und da kein Mensch ohne die Zugehörigkeit zu irgendeiner Gemeinschaft leben kann, würde dies einfach den Austausch einer Gemeinschaft durch eine andere und daher den Austausch einer Art der Verantwortung durch eine andere bedeuten.

Es ist richtig, daß das 20. Jahrhundert eine Kategorie von Menschen hervorgebracht hat, die wirklich Ausgestoßene waren und keiner, wie auch immer international anerkannten Gemeinschaft angehörten. Es sind die Flüchtlinge und Staatenlosen, die in der Tat fiir nichts politisch verantwortlich gemacht werden können. Politisch sind sie, unabhängig von ihrem Gruppen oder individuellen Charakter, die einzigen absolut Unschuldigen. Und es ist eben diese absolute Unschuld, die sie zu einer Position außerhalb, gleichsam der ganzen Menschheit verdammt hat. Wenn es so etwas wie kollektive, nämlich stellvertretende Schuld gäbe, dann wäre dies der Fall der kollektiven, nämlich stellvertretenden Unschuld. Tatsächlich sind sie die einzigen gänzlich nicht-verantwortlichen Menschen. Und während wir normaler Weise Verantwortung, insbesondere kollektive Verantwortung, als eine Bürde und sogar als eine Art Bestrafung begreifen, kann meiner Ansicht nach gezeigt werden, daß der Preis für kollektive Nicht-Verantwortung erheblich höher ist. Worauf ich hier hinaus will, ist eine schärfere Trennungslinie zwischen politischer (kollektiver) Verantwortung auf der einen Seite, und moralischer und/oder rechtlicher (persönlicher) Schuld auf der anderen. Ich denke dabei hauptsächlich an jene häufigen Fälle, in denen moralische und politische Überlegungen und moralische und politische Verhaltensmaßstäbe in Konflikt geraten. Die Hauptschwierigkeit in der Behandlung dieser Angelegenheiten scheint in der sehr verwirrenden Vieldeutigkeit der Worte zu liegen, die wir in der Erörterung dieser Fragen gebrauchen, nämlich Moralität und Ethik. Beide Worte bedeuten ursprünglich nicht mehr als Bräuche oder Sitten und dann, in einem höheren Sinne, die für die Bürger angemessensten Bräuche und Sitten. Von der Nikomachischen Ethik bis zu Cicero waren Ethik oder Moral ein Teil des Politischen, und zwar der Teil, der sich nicht mit den Institutionen, sondern mit den Bürgern befaßte. Alle Tugenden in Griechenland oder in Rom sind ausschließlich politische Tugenden. Hier stellt sich niemals die Frage, ob ein Einzelner gut ist, sondern ob sein Verhalten für die Welt, in der er lebt, gut ist. Im Zentrum des Interesses steht die Welt und nicht das Selbst. Wenn wir heute über moralische Fragen sprechen, die Frage des Gewissens eingeschlossen, so meinen wir etwas gänzlich anderes, etwas, für das wir tatsächlich kein fertiges Wort besitzen. Andererseits, wenn wir diese alten Worte in unseren Diskussionen gebrauchen, ist auch diese sehr alte und andersartige Konnotation immer präsent. Es gibt nur einen einzigen Fall, in dem in einem klassischen Text moralische Überlegungen in unserem Verständnis zu finden sind. Dies ist die Aussage von Sokrates: Es ist besser, Übel zu leiden, als Übel zu tun, auf die ich weiter unten zurückkommen werde. Zuvor möchte ich eine weitere Schwierigkeit erwähnen, die gewissermaßen von der entgegengesetzten Seite kommt, nämlich von der Seite der Religion. Daß moralische Angelegenheiten eher das Wohl der Seele als das der Welt betreffen, ist natürlich Teil und Bürde des jüdisch-christlichen Erbes. Wenn zum Beispiel – um das bekannteste Vorbild aus der griechischen Antike zu nehmen – bei Aischylos Orestes auf strengen Befehl von Apollon seine Mutter tötet und dann dennoch von den Erinnyen verfolgt wird, so deshalb, weil die Ordnung der Welt zweimal gestört wurde und wiederhergestellt werden muß. Orest tat das richtige als er den Tod seines Vaters rächte und seine Mutter tötete. Und doch war er schuldig, weil er ein anderes „Tabu“, wie wir heute sagen würden, verletzt hatte. Die Tragödie ist, daß nur eine Untat das ursprüngliche Verbrechen sühnen kann. Die Lösung brachte bekannter Maßen Athene oder vielmehr die Gründung eines Tribunals, das es von nun an selbst auf sich nahm, die rechte Ordnung zu erhalten und den Fluch einer unendlichen Kette böser Taten aufzuheben, der nötig war, um die Ordnung der Welt aufrecht zu erhalten. Dies ist die griechische Version der christlichen Einsicht, daß jeder Widerstand gegen das Böse in der Welt notwendig einige Verwicklungen in das Böse zur Folge hat, ebenso wie die Auflösung der mißlichen Lage für den Einzelnen.

Mit dem Aufstieg des Christentums verschob sich die Betonung gänzlich von der Sorge um die Welt und die mit ihr verbundenen pflichten auf die Sorge um die Seele und ihrer Erlösung. In den frühen Jahrhunderten war die Polarisierung beider Seiten absolut; die Episteln im neuen Testament sind voller Empfehlungen, Öffentlichkeit und politische Verwicklungen zu meiden und sich um die eigenen, ausschließlich privaten Angelegenheiten zu kümmern, sich um seine eigene Seele zu sorgen – bis Tertullian diese Haltung mit nec ulla magis res aliena quam publica zusammenfaßte (Keine Sache ist uns fremder als die der Öffentlichkeit). Selbst was wir heute unter moralischen Maßstäben und Vorschriften verstehen, hat diesen christlichen Hintergrund. Mr. Feinberg steht immer noch in der gleichen Denktradition, wenn er für den moralischen Standpunkt, d.h. den vom rechtlichen unterschiedenen, strengere Maßstäbe der Schuldhaftigkeit behauptet. Im heutigen Denken ist der Grad der Strenge in moralischen Angelegenheiten offensichtlich am höchsten, am niedrigsten in Angelegenheiten der Sitten und Bräuche, während Rechtsnormen irgendwo dazwischen rangieren. Mir geht es hier darum zu betonen, daß die Moralität ihre Vorzugsstellung in unserer Hierarchie der „Werte“ ihrem religiösen Ursprung verdankt. Ob das göttliche Gesetz, das die Regeln menschlichen Verhaltens vorschreibt, als eines verstanden wurde, das sich wie in den zehn Geboten direkt offenbarte oder wie in Naturrechtsvorstellungen indirekt, ist in diesem Zusammenhang von keinerlei Bedeutung. Die Gebote waren wegen ihres göttlichen Ursprungs absolut, und ihre Sanktionen bestanden in „zukünftigen Belohnungen und Bestrafungen“. Und es ist mehr als zweifelhaft, ob diese ursprünglich religiös verwurzelten Verhaltensregeln den Verlust des Glaubens an ihren Ursprung und besonders den Verlust der transzendenten Sanktionen überleben können. (John Adams sagte in einer eigentümlich prophetischen Weise vorher, daß dieser Verlust „das Morden so gleichgültig werden läßt wie das Abschießen eines Kiebitzes und die Vernichtung des Rohilla Volkes so unschuldig wie das Verschlucken von Milben in einem Stückchen Käse.“) Soweit ich sehen kann, sind es nur zwei der zehn Gebote, an die wir uns noch moralisch gebunden fühlen, „Du sollst nicht töten“ und „Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen“. Und diese beiden sind in jüngster Zeit recht erfolgreich sowohl durch Hitler als auch Stalin herausgefordert worden.

Im Zentrum der moralischen Erwägungen des menschlichen Verhaltens steht das Selbst. Im Mittelpunkt der politischen Erwägungen des Verhaltens steht die Welt. Wenn wir die moralischen Imperative von ihren religiösen Konnotationen und Ursprüngen entkleiden, werden wir auf die Sokratischen Aussage zurückgeworfen: „Es ist besser, Übel zu leiden, als Übel zu tun“, und auf seine eigentümliche Begründung: „Es wäre besser für mich mit der ganzen Welt uneins zu sein, als wenn ich, der ich einer bin, mit mir selbst uneins bin.“ Wie immer wir diese Berufung auf das Axiom der Widerspruchsfreiheit in moralischen Fragen interpretieren mögen – obgleich doch ein und derselbe Imperativ „Du sollst dir nicht selbst widersprechen“ axiomatisch für die Logik und die Ethik ist (was nebenbei bemerkt Kants Hauptargument für den Kategorischen Imperativ ist) -, scheint eine Sache klar zu sein: Die Voraussetzung ist, daß ich nicht nur mit anderen zusammenlebe, sondern auch mit mir selbst, und daß dieses Zusammensein gleichsam vor allem anderen Vorrang hat. Die politische Antwort auf den Sokratischen Satz müßte lauten: Wichtig ist, daß es in der Welt kein Übel gibt; Übel zu leiden und Übel zu tun sind gleich schlecht. Wer es auch erleidet, es ist die Pflicht eines jeden, es zu verhindern. Oder um, der Kürze halber, an ein anderes berühmtes Wort zu erinnern, diesmal von Machiavelli, der genau aus diesem Grund die Fürsten lehren wollte „wie man nicht gut sei“ und, wenn er über die Florentiner Patrioten schreibt, die es wagten sich dem Papst zu widersetzen, diese preist, weil sie gezeigt hätten „um wieviel höher sie die Stadt über ihre Seelen setzten.“ Wo die religiöse Sprache von der die Seele spricht, spricht die säkulare Sprache vom Selbst. Es gibt viele Arten und Weisen, auf die politische und moralische Verhaltensmaßstäbe miteinander in Konflikt kommen können, und in der politischen Theorie werden sie üblicherweise in Verbindung mit der Doktrin der Staatsräson und ihrem doppelten Moralitätsmaßstab behandelt. Doch wir sind hier nur mit dem Sonderfall der kollektiven und stellvertretenden Verantwortung befaßt, in dem das Mitglied einer Gemeinschaft für Dinge verantwortlich gemacht wird, an denen es nicht beteligt war, die aber in seinem Namen getan wurden. Solche Nicht-Beteiligung kann viel Gründe haben: Die Regierungsform eines Landes kann so geartet sein, daß seine Einwohner, oder große Einwohnerschichten, gar keinen Zutritt zum öffentlichen Raum haben, so daß Nicht-Beteiligung keine Frage der Wahl ist. Oder wenn, im Gegensatz dazu, in freien Ländern eine bestimmte Gruppe von Bürgern nicht teilhaben will, nichts mit Politik zu tun haben will, aber dies nicht aus moralischen Gründen, sondern einfach, weil sie sich entschlossen haben, eine unserer Freiheiten auszunutzen, diejenige nämlich, die gewöhnlich nicht erwähnt wird, wenn wir unsere Freiheiten aufzählen, weil sie im großen und ganzem für selbstverständlich gehalten wird, und dies ist die Freiheit von der Politik. Diese Freiheit war in der Antike unbekannt, und sie ist in einer Reihe von Diktaturen des 20. Jahrhunderts recht wirksam abgeschafft worden, besonders natürlich in der totalitaristischen Spielart. Im Gegensatz zum Absolutismus und anderen Formen der Tyrannei, wo Nicht-Beteiligung eine Selbstverständlichkeit und keine Sache der Wahl war, befassen wir uns hier mit einer Situation, in der Beteiligung, und dies kann, wie wir wissen, Komplizenschaft an kriminellen Handlungen bedeuten, eine Selbstverständlichkeit und Nicht-Beteiligung eine Sache der Entscheidung ist. Und schließlich gibt es in freien Ländern den Fall, daß Nicht-Beteiligung tatsächlich eine Form des Widerstands ist – wie im Fall derer, die sich weigerten zum Vietnam-Krieg eingezogen zu werden. Dieser Widerstand wird oft mit moralischen Gründen gerechtfertigt. Aber solange es die Versammlungsfreiheit und mit ihr die Hoffnung gibt, daß Widerstand in der Form der Verweigerung der Teilnahme eine Veränderung der Politik mit sich bringen wird, ist sie essentiell politisch. Was im Zentrum dieser Erwägungen steht, ist nicht das Selbst – Ich gehe nicht, weil ich mir nicht die Hände schmutzig machen möchte, was natürlich auch ein triftiges Argument sein könnte -, sondern das Schicksal der Nation und ihr Verhalten gegenüber anderen Nationen in der Welt.

Die Nicht-Beteiligung an den politischen Angelegenheiten der Welt setzt sich immer dem Vorwurf der Verantwortungslosigkeit aus, dem Vorwurf sich vor den eigenen Pflichten zu drücken gegenüber der mit den anderen geteilten Welt und gegenüber der Gemeinschaft, der wir angehören. Und diesem Vorwurf kann keineswegs erfolgreich begegnet werden, wenn Nicht-Beteiligung mit moralischen Gründen gerechtfertigt wird. Wir wissen aus den jüngsten Erfahrungen, daß aktiver und manchmal heroischer Widerstand gegen verbrecherische Regierungen viel eher von Männern und Frauen kam, die an ihnen beteiligt waren, als von Außenseitern, die frei von jeder Schuld waren. Dies gilt, als eine Regel mit Ausnahmen, für den deutschen Widerstand gegen Hitler, und es ist noch zutreffender für die wenigen Fälle der Rebellion gegen kommunistische Regime. Ungarn und die Tschechoslowakei sind Beispiele dafür. Otto Kirchheimer, der diese Dinge (in seiner Political Justice) unter einem rechtlichen Gesichtspunkt diskutiert, betont richtig, daß in der Frage der rechtlichen oder moralischen Unschuld, nämlich der Enthaltung von jedweder Komplizenschaft an den von einem Regime begangenen Verbrechen, „aktiver Widerstand eine illusionäre Richtschnur“ sei, und der „Rückzug aus sichtbarer Teilnahme am öffentlichen Leben, …die Bereitschaft, in die Vergessenheit“ und Dunkelheit „zu verschwinden, ein Maßstab ist, der vielleicht zu Recht von denen angelegt wird, die zu Gericht sitzen.“ Mit dieser Argumentation rechtfertigt er in gewisser Weise freilich auch jene Angeklagten, die sagten, daß ihr Sinn für Verantwortung es ihnen nicht gestattete, diesen Weg zu wählen, daß sie dienten, um Schlimmeres zu verhindern etc. – Argumente, die sich gewiß im Falle des Hitler-Regimes eher absurd anhören und tatsächlich gewöhnlich nicht viel mehr waren, als heuchlerische Rechtfertigungen des eifrigen Bestrebens, die eigene Karriere zu verfolgen. Aber dies ist eine andere Sache. Richtig ist, daß die Nicht Teilnehmenden keine Widerständler waren, und daß sie selbst nicht glaubten, daß ihre Haltung irgendeine politische Konsequenz hatte. Das moralische Argument, das ich über die Sokratische Aussage anführte, besagt in Wirklichkeit folgendes: Wenn ich das täte, was von mir jetzt als Preis für die Teilnahme verlangt wird, sei es bloßer Konformismus oder auch die einzige Chance eines eventuell erfolgreichen Widerstands, so könnte ich mit mir selbst nicht länger leben. Mein Leben würde für mich aufhören, lebenswert zu sein. Daher muß ich, falls ich zur Teilnahme gezwungen werde, selbst um den Preis der Todesstrafe eher Übel Leiden, statt Übel zu tun, da ich ansonsten mit einem Übeltäter zusammenleben müßte. Wenn es um die Frage des Tötens geht, lautete die Argumentation nicht, daß die Welt ohne die Mordtat besser wäre, sondern das Argument ist der Widerwillen gegen das Zusammenleben mit einem Mörder. Dieses Argument, so scheint mir, ist selbst vom striktesten politischen Gesichtspunkt aus unwiderlegbar. Aber es ist eindeutig ein Argument, das nur in extremen, das heißt in Ausnahmesituationen gültig sein kann. Allerdings sind solche Situationen oft am geeignetsten, um Klarheit in ansonsten eher dunkle und zweideutige Sachverhalte zu bringen. Die Extremsituation, in der moralische Aussagen im Reich des Politischen absolute Gültigkeit erlangen, ist die Machtlosigkeit.

Machtlosigkeit, die immer Isolation voraussetzt, ist eine gültige Entschuldigung für Untätigkeit. Die Problematik dieses Arguments besteht natürlich darin, daß es vollkommen subjektiv ist. Seine Authentizität kann nur durch Leidensbereitschaft bewiesen werden. Es gibt keine allgemeinen Regeln wie in rechtlichen Verfahren, die zur Anwendung gebracht werden können und für alles Gültigkeit besitzen. Aber dies ist, fürchte ich, die Last aller moralischer Urteile, die nicht von religiösen Geboten aufrechterhalten oder abgeleitet werden. Wie wir wissen, war Sokrates niemals in der Lage, seine Aussage zu beweisen. Und Kants kategorischer Imperativ – der einzige Konkurrent um eine strikt nicht-religiöse und nicht-politische moralische Vorschrift – kann ebenfalls nicht bewiesen werden. Die noch tiefergehende Schwierigkeit mit diesem Argument ist seine ausschließliche Anwendbarkeit auf Menschen, die es gewohnt sind, ausdrücklich auch mit sich selbst zu leben, was nichts anderes heißt, als daß es nur für Menschen plausible Gültigkeit erlangt, die ein Gewissen haben. Und hinsichtlich des Vorurteils der Rechtswissenschaft, die so oft in einer Verlegenheit an das Gewissen appelliert, als etwas, das jeder vernünftige Mensch in jedem Fall haben muß, ist es evident, daß eine ganze Reihe von Menschen ein Gewissen hat, aber keineswegs alle, und daß die, die es haben, in allen Lebensaltem und, was noch eigentümlicher ist, auf allen Stufen der Bildung und Nicht-Bildung gefunden werden können. Kein objektives Zeichen sozialer Stellung oder des Bildungsniveaus kann seine An oder Abwesenheit sicherstellen. Die einzige Tätigkeit, die mit dieser säkularen moralischen Aussage zu korrespondieren und ihre Gültigkeit zu bestätigen scheint, ist die Tätigkeit des Denkens, das in seiner allgemeinsten und gänzlich nicht spezialisierten Weise mit Plato als der stille Dialog zwischen mir und mir selbst definiert werden kann. Übertragen auf Fragen des Verhaltens bezöge ein solches Denken die Fähigkeit der Einbildungskraft in hohem Maße mit ein, das heißt die Fähigkeit zur Repräsentation, die Fähigkeit, sich selbst zu vergegenwärtigen, was noch abwesend ist – jede erdenkliche Tat. In welchem Maße diese Fähigkeit des Denkens, das im Alleinsein ausgeübt wird, sich in die streng politische Sphäre ausdehnt, in der ich mich immer zusammen mit anderen befinde, ist eine andere Frage. Aber wie immer unsere Antwort auf diese Frage ausfallen wird, die hoffentlich von der politischen Philosophie beantwortet werden kann, es werden keine moralischen, individuellen und persönlichen Verhaltensmaßstäbe es jemals möglich machen, uns von der kollektiven Verantwortung zu entlasten. Die stellvertretende Verantwortung für Dinge, die wir nicht getan haben, das Auf-uns-Nehmen der Konsequenzen von Dingen, an denen wir vollkommen unschuldig sind, ist der Preis, den wir für die Tatsache zahlen, daß wir unser Leben nicht mit uns allein, sondern unter unseren Gefährten leben. Sie ist der Preis dafür, daß die Fähigkeit zum Handeln, die schließlich die politische Fähigkeit par excellence ist, nur in einer der vielen und mannigfaltigen Formen menschlicher Gemeinschaft verwirklicht werden kann.

Vortrag gehalten Ende Dezember 1968 im Rahmen eines Symposiums der American Philosophical Assotiation über „Collective Responsability“ als Kommentar zu einem Vortrag von Joel Feinberg mit dem gleichen Titel. Aus dem Amerikanischen von Frank Stühlmeyer und Ute Vorkoeper.

Quelle: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Debatte. Politik und Moderne, Band 4. Bremen 2001, S. 4-16.

Hier der Text als pdf.

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