Von Hellmut Traub
1. Enderwartung bezieht sich auf eine Geschichtsbetrachtung, die eine Beendigung der Zeit voraussetzt und diese mit (meist kosmischen) Heils- oder Katastrophenereignissen erwartet. Sie findet deshalb in einem sog. naturwissenschaftlichen Weltbild, das die Unendlichkeit der Zeit voraussetzt, keine Möglichkeit.
Die biblische Enderwartung beruht nicht auf der Frage, was „am Ende“ kommt, noch auf der Mahnung, bei allem Tun „das Ende“ zu bedenken. Das „Ende“ ist in der Schrift nicht von der Zeit her, sondern von Gott bestimmt. Er selber offenbart sich mit seinem Namen als „der Ich werde sein“ (2. Mose 3,14). Deshalb ist das Wort „Zukunft“ in der Bibel allein von Gottes Offenbarung benutzt (nur 2. Thess. 2,9 von der „Zukunft“ des Antichristen). Gott ist die Zukunft. Wie er der Anfang ist, so das Ende (A und O). Diese Aussage ist auch so gefaßt worden: „der da ist, der da war und der da kommt“ (Offb. 1,4). „Zukunft“ und „Ende“ heißen: Gott, der da kommt, der allem Fleisch sichtbar offenbar wird (Jes. 40,5). Nicht um das Ende, das Letzte geht es, sondern um den Endenden, den Letzten. So heißt es anstatt „Enderwartung“ richtiger: Gotteserwartung, Offenbarungserwartung, Erwartung des Herrn. Es gilt, den Menschen gleich zu sein, die „auf ihren Herrn warten“ (Lk. 12,36; Jes. 26,8).
2. Zweierlei ist hier zu unterscheiden, ohne es trennen zu können, a) Die Aussage: „ich glaube an Gott“ ist die gleiche wie die zeitlich gewendete: „ich warte, ich hoffe auf Gott“. Beide sind untrennbar. Aber ich kann das Kommen Gottes nicht erwarten, ohne daß er schon gekommen ist und erneut kommt. Diese drei Aussagen stehen nebeneinander. Jesus sagt: „Ich bin gekommen“ (Mt. 20,28; Joh. 12,46). Er spricht als „der Kommende“: „Des Menschen Sohn kommt“ (Mt. 11,3.6; 10, 23; 16,27). Und die Gemeinde wartet: „Komm, Herr Jesu“ (1. Kor. 16,22; Offb. 22,20). Dieses Kommen hat den festen Begriff „der Tag“ (der Tag des Herrn). Er ist der kommende Gerichts- und Heilstag (1. Kor. 3,13; Lk. 17,24; Offb. 16,14 – Am. 5,18f; Joel 2,1; Jes. 2,12). Als solcher heißt er der Tag der Finsternis, des Zornes, des Gerichtes oder der Läuterung, der Geistbegabung, der Auserwählten, des Menschensohnes. Er kann aber durchaus auch von einem schon vergangenen Ereignis sprechen (Klgl. 1,2 wörtl.: Du hast den Tag gebracht, den du verkündigt hast). In der vorexilischen Prophetie schaut „der Tag“ immer wieder auf die geschichtliche Katastrophe der Gefangenschaft. Im NT heißt es von dem zurückliegenden Tag der Pfingsten: „die letzten Zeiten“ (Apg. 2,1.17). Aber ebenso kann „der Tag“ gegenwärtig sein: „der Tag ist gekommen“ (Jer. 50,27), jetzt ist der Tag (2. Kor. 6,2; Joh. 9,4; 11,1).
Dies will besagen, daß die Ewigkeit die Zeit von allen Seiten umgibt und ihr Ende ist. Diese Spannung ist Enderwartung. Sie ist es, die z. B. beim Abendmahl sowohl dem Gedächtnis an den vergangenen Tod Jesu als auch seiner Gegenwart in der Austeilung wie der Verkündigung „bis daß er kommt“ erst den Sinn verleiht. Von daher wird es deutlich, daß die großen geschichtlichen Ereignisse als verkündete Gotteswerke endgeschichtliche Prägung erhalten haben und die Gestaltung der Enderwartung bestimmen. Das gilt von den ägyptischen Plagen (2. Mose 7,17 – Offb. 11,6), dem Passahmahl (2. Mose 12 – Mt. 26,29), von der Flucht durch das Schilfmeer (2. Mose 15 – Hab. 3,8. 15; und als Taufe verstanden 1. Kor. 10,1f), von der Wüste (Mt. 3,3; 24,26), vom Bundesschluß (2. Mose 9 – Offb. 4,1); es gilt von Jerusalem, Davids Königtum, dem Exil, der Rückführung.
b) Davon ist zu unterscheiden, daß die Offenbarung Gottes auch als tatsächliches Ende der Zeit verkündet ist. Die Enderwartung ist dann nicht nur als Gotteserwartung des Glaubens („Herr ich warte auf dein Heil“ 1. Mose 49,18) verstanden, sondern auf ein die Zeit als diese Weltzeit beendendes Handeln Gottes bezogen. Das jetzt sich vollziehende Gericht in der Annahme oder Ablehnung der Botschaft von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi wird dann, wenn er kommt, offenbar werden.
3. Die Enderwartung hat im AT eine vielseitige Ausbildung gefunden, a) Enderwartung heißt Friedenserwartung (Jes. 54,10ff; Mi. 5,4; Joh. 14,27). In ihr sind Ruhe (Jes. 14,3; Zeph. 3,13; Hebr. 4,1) und unangefochtene Sicherheit (3. Mose 25,18; Jes. 14,30; Hebr. 6,19) erhofft. Diese Erwartung ersehnt ihre Verwirklichung in dem Königtum Gottes (2.Mose 15,8; Zeph. 3,15). Gott wird König (Jes. 24,23; Sach. 14,16; Ob. 21). In der Liturgie wird – vorausnehmend – diese Zukunft mit den Thronbesteigungspsalmen gefeiert (Ps. 47; 93; 96; 97; 99). Nebenher geht die Verheißung des messianischen Friedenskönigs aus Davids Stamm (4. Mose 24,17; Jes. 9,5. 11; Jer. 23,5; 33,15; Hos. 3,5; Ez. 37,24; Am. 9,11; Mi. 5,1). Sie trägt paradiesische Züge (1. Mose 49,10f) und beruht in dem Willen Gottes, dem David das Haus zu bauen (2. Sam. 7). Gottes Königtum und Davidsherrschaft gehen ineinander über (1. Chr. 13,14; 28,5; 29,23; 2. Chr. 9,8; 13,8 – Jes. 6,5 steht neben Jes. 9 und 11); zusammen bilden sie das Gottesreich, das über diese ganze Erde herrschen wird (Sach. 14,9.16).
Im NT wird Christus der König, der König aller Könige genannt (Mt. 2,2; Joh. 17,37; Offb. 19,16).
b) Enderwartung heißt Gnadenerwartung. Der Mensch muß wie Abraham Gnade finden, d. h. erwählt und gesegnet werden (1. Mose 6). Dieser Segen und diese Wahl bestimmen das „Eigentumsvolk“ Israel für Gottes Zukunft (2. Mose 19,5; Offb. 7,6). Die Verwirklichung des Abrahamsegens ist mit der verheißenen Gnadengestalt des „Priesters nach der Weise Melchisedek“ (Ps. 100,4; Hebr. 5-7) verbunden.
Im NT wird Christus als der wahre Priester Melchisedek verkündet. Er ist es, der als der Auferweckte den erfüllten Abrabamsegen den Juden (Apg. 3,25f) und den Heiden (Gal. 3,9-14) austeilt.
c) Enderwartung ist Erlösungserwartung (Hi. 19,25ff). Die Befreiung Israels erfolgt aus Gottes Gericht, der Passahnacht (2. Mose 12), aus der Hand der Zuchtmeister Gottes (Lk. 1,72ff; vgl. Gal. 3,25). Der erlösende Gott handelt als „Vater“ (= Bundesgott), dem die Lösungspflicht für seinen Erwählten zukommt. Sie entspricht der Einrichtung des Halljahrs, das Ausdruck des in der Erwartung der Erlösung lebenden Volkes ist (3. Mose 25). Die Verwirklichung dieser Lösungspflicht ist in einer Einzelgestalt erwartet: dem leidenden Gottesknecht (Jes. 53). Seine Zukunft ist im Perfekt verheißen. Er, der vieler Sünden trug, hat die Starken zum Raube.
Im NT beginnt Jesus seine Verkündigung mit der Ausrufung des Erlösungsjahres (Lk. 4,18) und wird als dieser Gottesknecht verkündet (Apg. 8,34), als das „Lamm“ (Offb. 5,6.12), das die Versiegelung der Weltgeschichte löst und dem der endgeschichtliche Hymnus des Lobes gehört.
d) Enderwartung ist Erwartung des befreienden Sieges. Gottes Weg führt in „das Land, das er gegeben hat“, darin „Milch und Honig fließt“ (2. Mose 3,8; Joel 4,18); es ist das enderwartete Heilsland mit Frieden, ohne Schwert, frei von bösen, wilden Tieren und voll Gewächs (3. Mose 26,6). Seine Eroberung beginnt mit dem Fall Jerichos durch die Posaunen des Befreiungsjahres (Halljahr) und unter Führung von Josua (= Jesus, zu Deutsch „Heiland“). Auch hier ist eine besondere Gestalt verheißen: ein „Prophet wie Mose“ (5. Mose 18, 15.18), der als Träger des göttlichen Wortes der Siegesgarant ist. Enderwartung läßt das Siegeslied Ps. 118 singen. Denn die „Heiligen des Höchsten“ werden „das Reich einnehmen“, das ewig ist. Doch ist dieses Ende gebunden an die Sendung des Menschensohnes, dessen „Königreich kein Ende“ hat (Dan. 7).
Im NT wird Jesus als der erwartete Moseprophet verkündet, als der gekommene Menschensohn, der wiederkommen wird mit den Posaunen des Jüngsten Tages (Apg. 3,22 – Mt. 11,14; 16,27ff; 18,11 – 1. Thess. 4,16; 1. Kor. 15,52).
Gott ist also immer der erwartete, der an seinem Tage richtend und heilbringend kommt. Erwartet ist eine unbeschreibliche Unmittelbarkeit und Nähe zu Gott, die mit „Gott sehen“ ausgedrückt wird (Jes. 40,5; Hi. 19,26); erwartet ist kein „Jenseits“, sondern die Neuschöpfung dieser Erde und dieses Himmels. Erwartet ist dies alles nicht für den Einzelnen, sondern für die Gemeinde und zwar durch eine Heilsgestalt, die zugleich göttliche und menschliche Züge trägt.
4. a) Im NT verkündet Jesus: die Weltzeit ist erfüllt, das Ende ist da, die Gottesherrschaft ist im Kommen (Mk. 1,15; Gal. 4,4). Das Neue ist, daß das „Reich“ in und mit Jesu Verkündigen einbricht: „Selig seid ihr … Ich sah den Satan vom Himmel fallen… Hier ist mehr denn …“ (Lk. 6,20; 10,18.23; 11,20.31). Er in seiner verkündigenden Person ist die endgültige Entscheidung. Auf ihn erstreckt sich die ganze Enderwartung: „Selig, wer nicht Anstoß nimmt an mir“ (Mt. 11,6). Diese Erfüllung leuchtet aus Jesu Antwort an den Hohenpriester hervor: „Ich bin.“ Das ist Gottes Name (Mk. 14,62)!
b) Angesichts der Himmelfahrt mußten die apostolischen Zeugen der Auferstehung die „Ankunft“ als „Wiederkunft“ des Menschensohnes verstehen lernen. Die pfingstliche Geistbegabung läßt sie „in den letzten Tagen“ leben. Im Glauben sind sie schon auferstanden und haben das ewige Leben (Kol. 2,12; Joh. 5,24), im Abendmahl ist der Herr selber gegenwärtig, wie im Gebet; die Gemeinde ist sein Leib. Ja, der Toten Stunde „ist schon jetzt“, jetzt geht das Gericht über die Welt (Joh. 5,25; 12,31). Und „ihr seid Kinder des Tages“ (1. Thess. 5,5). Aber die Offenbarung dieser Freiheit der Kinder Gottes steht aus, das, was wir „sein werden“, nämlich „ihm gleich“ (Röm. 8,14ff; 1. Joh. 3,2). Der ängstlich harrende Glaube muß zum Schauen kommen (Röm. 8,25; Mt. 5,8), zu dem wirklichen Schauen, auf dem das Zeugnis der Auferstehung beruht (Joh. 20,15; 1. Kor. 15,5ff). Letzter Ausdruck der Enderweckung ist die neue Schöpfung, in der Gott Alles in Allem ist.
Das „Ende ist nah“. Es kommt plötzlich und unerwartet; auch die fünf klugen Jungfrauen schlafen ein; aber dazu sind sie bereit – und Enderwartung bedeutet Bereitschaft –: dem Bräutigam zu begegnen. Diesem Wachen entspricht das Beten; es ist – oder sollte sein – der vollkommenste Ausdruck der Enderwartung, wie das „Vater Unser“ in allen seinen Stücken lehrt. Es ist das dem Kommenden entgegeneilende Geschrei nach der Errettung zum Frieden, zur Gnade, zur Erlösung und zum Sieg.
„Wohl dem, der da wartet!“ (Dan. 12,12).
Quelle: Biblisch-theologisches Handwörterbuch zur Lutherbibel und zu neueren Übersetzungen, hrsg. v. Edo Osterloh und Hans Engelland, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 21959, S. 107-109.