Clifford Geertz, Religion als kulturelles System: „Jemand, der beim Ritual in das von religiösen Vorstellungen bestimmte Bedeutungssystem »gesprungen« ist (vielleicht ist dieses Bild für die tatsächlichen Vorgänge ein wenig zu sportlich – »geglitten« mag zutreffender sein) und nach Beendigung desselben wieder in die Welt des Common sense zurückkehrt, ist – mit Ausnahme der wenigen Fälle, wo die Erfahrung folgenlos bleibt – verändert. Und so wie der Betreffende verändert ist, ist auch die Welt des Common sense verändert, denn sie wird jetzt nur noch als Teil einer umfassenderen Wirklichkeit gesehen, die sie zurechtrückt und ergänzt.“

Religion als kulturelles System

Von Clifford Geertz

Der Versuch zu sprechen, ohne eine konkrete Sprache zu sprechen, ist ebenso zum Scheitern verurteilt wie der Versuch, ohne Bezug auf eine bestimmte Religion religiös zu sein … So hat eine jede lebendige und gesunde Religion ihre deutlich hervorstechenden Eigenarten. Ihre Stärke liegt in ihrer je beson­deren und überraschenden Botschaft und in der Färbung, die diese Offenba­rung dem Leben verleiht. Die Ausblicke, die sie eröffnet, wie auch die Rätsel, die sie aufgibt, bilden eine andere, bewohnbare Welt. Und eine solche andere, bewohnbare Welt meinen wir, wenn wir uns als religiös bezeichnen – unab­hängig davon, ob wir nun daran glauben, einmal vollständig in sie einzugehen oder nicht.
Santayana, Reason in Religion

I

Vergleicht man die ethnologischen Arbeiten über Religion, die seit dem Zweiten Weltkrieg geschrieben wurden, mit denjenigen, die kurz vor oder kurz nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sind, so fallen an der neueren Forschung zwei eigentümliche Merkmale ins Auge. Zum einen enthält sie keine nennenswerten theoretischen Fortschritte. Sie zehrt vom Ideenkapital ihrer Vor­gänger, dem sie – abgesehen von einer gewissen empirischen An­reicherung – sehr wenig hinzugefügt hat. Zum anderen stammen die Ideen, auf die zurückgegriffen wird, aus einer sehr begrenzten geistigen Tradition, nämlich der von Durkheim, Weber, Freud und Malinowski. Dem Ansatz von mindestens einem dieser gro­ßen Männer folgen alle Arbeiten, und wenn sie ihn überhaupt verändern, so meist nur deshalb, weil die betreffenden Autoren bestrebt waren, ihren fruchtbaren Ansatz über seine Grenzen hinauszutreiben, oder weil es das inzwischen angehäufte und ge­sicherte deskriptive Material notwendig machte. Im Unterschied zu jenen Männern kommt es jedoch fast niemandem mehr in den Sinn, sich bei der Suche nach analytischen Ideen woanders umzu­schauen – in der Philosophie, in der Geschichtswissenschaft, im Recht, in der Literaturwissenschaft oder in den »harten« Natur- wissenschaften. Wahrscheinlich besteht zwischen diesen beiden auffallenden Momenten sogar ein Zusammenhang.

Wenn es stimmt, daß sich die ethnologische Religionsforschung in einem Zustand allgemeiner Stagnation befindet, so glaube ich kaum, daß sie durch immer neue minimale Variationen der klassi­schen Theorien wieder in Gang gebracht werden kann. Jede wei­tere akribisch ausgeführte Untermauerung von Thesen, die derart gut belegt sind wie die, daß Ahnenverehrung die Rechtsautorität der Alteren stützt, Initiationsriten zur Ausbildung von Ge­schlechter- und Erwachsenenrollen beitragen, rituelle Vereini­gungen politische Gegensätze reflektieren oder Mythen soziale Institutionen legitimieren und gesellschaftliche Privilegien recht­fertigen, kann eigentlich nur noch dazu führen, eine möglichst große Zahl von Leuten innerhalb und außerhalb des Faches da­von zu überzeugen, daß es den Ethnologen – ähnlich wie den Theologen – darum geht, das fraglos Feststehende zu beweisen. In der Kunst wird dieses ehrfurchtsvolle Kopieren der Leistun­gen großer Meister Akademismus genannt, ein Begriff, der mei­nes Erachtens auch unsere Malaise zutreffend beschreibt. Nur wenn wir, wie Leo Steinberg sagt, auf jenes schöne Gefühl ver­zichten, das mit der Vorführung routinierter Fähigkeiten einher­geht, und uns Problemen zuwenden, die noch so ungeklärt sind, daß sie möglicherweise Entdeckungen zulassen, dürfen wir auf ein Resultat hoffen, in dem sich die Errungenschaften jener gro­ßen Männer aus dem ersten Viertel dieses Jahrhunderts nicht nur einfach neu verkörpern, sondern das sich auch mit ihnen messen kann.[1]

Um das zu erreichen, muß man die überkommenen Traditionen der Sozialanthropologie nicht etwa aufgeben, sondern erweitern. Mindestens vier Beiträge jener Männer, die, wie ich sagte, unser Denken so weitgehend bestimmen, daß sie es bisweilen geradezu hemmen, sind in meinen Augen unentbehrliche Ausgangspunkte für eine jede brauchbare ethnologische Religionstheorie: Durk­heims Begriff des Heiligen, Webers verstehende Methode, Freuds Vergleich von individuellen und kollektiven Riten und Mali­nowskis Versuch, Religion und Common sense zu unterscheiden. Aber es sind nur Ausgangspunkte. Um über sie hinausgehen zu können, müssen wir sie in den Kontext des gegenwärtigen Den­kens stellen, der bedeutend weiter zu sein hat als der, den sie ihrerseits be- und umschreiben. Die Gefahren eines solchen Vor­gehens liegen auf der Hand: willkürlicher Eklektizismus, ober­flächliches Theorienschmieden und bloßes intellektuelles Ver­wirrspiel. Ich sehe jedoch nicht, wie anders man dem entgehen kann, was Janowitz generell in bezug auf die Ethnologie die Hypothek der tradierten Fachkompetenz genannt hat.[2]

Beim Versuch, den theoretischen Rahmen unserer Untersuchun­gen zu erweitern, kann man natürlich eine Vielzahl von Richtun­gen einschlagen, und das vielleicht wichtigste Ausgangsproblem besteht darin, nicht wie Stephen Leacocks berittener Polizist in alle Richtungen zugleich aufbrechen zu wollen. Ich für meinen Teil werde mich nur um die Entwicklung dessen bemühen, was ich im Anschluß an Parsons und Shils die kulturelle Dimension der Erforschung von Religion nenne.[3] Der Begriff »Kultur« ist wegen seiner vielfältigen Bezüge und der geflissentlichen Ver­schwommenheit, in der er nur zu häufig verwendet wurde, bei vielen heutigen Ethnologen in Verruf geraten. (Obwohl ich nicht ganz verstehe, wieso dann eigentlich die Begriffe »Sozialstruk­tur« oder »Persönlichkeit« besser davonkommen.) Der Kultur­begriff, den ich verwende, bezieht sich jedenfalls nicht auf mehre­re Referenten und weist, soweit ich sehe, auch keine besonderen Vieldeutigkeiten auf: er bezeichnet ein historisch überliefertes System von Bedeutungen, die in symbolischer Gestalt auftreten, ein System überkommener Vorstellungen, die sich in symboli­schen Formen ausdrücken, ein System, mit dessen Hilfe die Men­schen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln. Es steht außer Frage, daß Begriffe wie »Bedeutung«, »Symbol« und »Vorstellung« nach Erklärung verlangen. Und an genau diesem Punkt hat nun die Arbeit der Erweiterung und Verbreiterung des theoretischen Horizonts einzusetzen. Wenn Langer zu Recht sagt, daß »der Bedeutungsbegriff in allen seinen Spielarten der vorherrschende philosophische Begriff unserer Zeit ist« und daß »Zeichen, Sym­bol, Bezeichnung, Bedeutung, Kommunikation … unser [geisti­ges] Rüstzeug sind«, ist es wohl an der Zeit, daß sich die Sozial­anthropologie und besonders jener Teilbereich, der sich mit der Untersuchung von Religion befaßt, dieser Tatsache bewußt wird.[4]

II

Da wir es mit Bedeutung zu tun haben werden, wollen wir mit einem Paradigma beginnen: heilige Symbole haben die Funktion, das Ethos eines Volkes – Stil, Charakter und Beschaffenheit sei­nes Lebens, seine Ethik, ästhetische Ausrichtung und Stim­mung – mit seiner Weltauffassung – dem Bild, das es über die Dinge in ihrer reinen Vorfindlichkeit hat, seinen Ordnungsvor­stellungen im weitesten Sinne – zu verknüpfen. Religiöse Vorstel­lungen und Praktiken machen das Ethos einer Gruppe zu etwas intellektuell Glaubwürdigem, indem sie es als Ausdruck einer Lebensform darstellen, die vollkommen jenen tatsächlichen Ge­gebenheiten entspricht, wie sie die Weltauffassung beschreibt. Die Weltauffassung hingegen machen sie zu etwas emotional Überzeugendem, indem sie sie als Bild der tatsächlichen Gege­benheiten darstellen, das einer solchen Lebensform ganz beson­ders nahekommt. Diese Gegenüber­stel­lung und wechselseitige Bestätigung bewirkt zwei grundlegende Dinge. Einmal werden dadurch moralische und ästhetische Präferenzen objektiviert: Sie erscheinen als notwendige Lebensbedingungen, wie sie von einer in bestimmter Weise strukturierten Welt vorgegeben werden, als reiner Common sense angesichts der unveränderlichen Gestalt der Wirklichkeit. Zum anderen erfahren diese überlieferten Vor­stellungen vom Weltganzen eine Bekräftigung, indem nämlich tiefverwurzelte moralische und ästhetische Empfindungen als empirische Beweise für ihre Gültigkeit angeführt werden. Reli­giöse Symbole behaupten eine Grundübereinstimmung zwischen einem bestimmten Lebensstil und einer bestimmten (wenn auch meist impliziten) Metaphysik und stützen so jede Seite mit der Autorität der jeweils anderen.

Abgesehen von einzelnen Formulierungen ist dagegen wohl nicht viel einzuwenden. Die Auffassung, daß Religion die menschli­chen Handlungen auf eine vorgestellte kosmische Ordnung ab­stimmt und Bilder der kosmischen Ordnung auf den menschli­chen Erfahrungsbereich projiziert, ist keineswegs neu. Ihr ist je­doch auch kaum wissenschaftlich nachgegangen worden, so daß wir fast nichts darüber wissen, wie sich dieses Mirakel empirisch eigentlich ereignet. Wir wissen nur, daß es sich ereignet-jährlich, wöchentlich, täglich, für manche Menschen nahezu stündlich und es gibt eine umfangreiche ethnographische Literatur, die das belegen kann. Doch der theoretische Rahmen, der uns eine analy­tische Erklärung dafür liefern könnte – eine Erklärung, wie wir sie etwa für Lineage-Segmentierung, politische Sukzession, Aus­tausch von Arbeitsleistungen oder die Sozialisation des Kindes besitzen – fehlt.

Wir wollen deshalb unser Paradigma zu einer Definition zusam­menfassen, weil Definitionen, auch wenn sie bekanntlich nichts beweisen, bei genügend sorgfältiger Formulierung doch zur Orientierung oder Neuorientierung des Denkens beitragen kön­nen. Ihre detaillierte Ausarbeitung kann sich für die Entwicklung und Kontrolle einer neuen Forschungsrichtung als außerordent­lich nützlich erweisen. Ihr Vorzug liegt in ihrer Explizitheit. De­finitionen präsentieren sich in einer Deutlichkeit, wie das in der diskursiven Prosa, die gerade in unserem Fall anstelle der Argu­mentation gerne die Rhetorik setzt, nicht der Fall ist. Ohne wei­tere Umschweife also:

eine Religion ist

(1) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4) diese Vor­stellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, daß (5) die Stim­mungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen.

Ein Symbolsystem, das darauf zielt…

In Anbetracht des großen Gewichts, das hier auf dem Begriff »Symbol« liegt, muß unser erster Schritt der sein, einigermaßen genau zu bestimmen, was wir darunter verstehen wollen. Das ist gar nicht so leicht, da mit »Symbol« (ähnlich wie mit »Kultur«) sehr verschiedene Dinge – oft sogar gleichzeitig – bezeichnet worden sind.

Manche verwenden ihn für alles, was jemandem etwas anderes anzeigt: schwarze Wolken etwa sind die symbolischen Vorboten eines bevorstehenden Regens. Einige verwenden ihn nur für ex­plizit vereinbarte Zeichen verschiedenster Art: eine rote Fahne ist ein Symbol für Gefahr, eine weiße für Kapitulation. Andere schränken ihn auf etwas ein, das in indirekter und figurativer Weise ausdrückt, was direkt und unverstellt nicht gesagt werden kann, weshalb es Symbole zwar in der Dichtung, nicht aber in der Wissenschaft gibt und die Bezeichnung »symbolische Logik« irreführend ist. Wieder andere verwenden ihn für alle Gegenstän­de, Handlungen, Ereignisse, Eigenschaften oder Beziehungen, die Ausdrucksmittel einer Vorstellung sind, wobei diese Vorstel­lung die »Bedeutung« des Symbols ist; eben diesem Ansatz wer­de ich mich anschließen.[5] Die Zahl 6, ob geschrieben, vorgestellt, mit Hilfe von Steinen ausgelegt oder in Computerlochkarten ge­stanzt, ist ein Symbol. Das gleiche gilt für das Kreuz – sei es, daß man darüber spricht, es sich veranschaulicht, geängstigt in die Luft zeichnet oder verträumt damit an der Halskette spielt –, für die riesige bemalte Leinwand mit dem Titel »Guernica« oder für den kleinen bemalten Stein, den man Churinga nennt, für das Wort »Wirklichkeit« und schließlich sogar für das Morphem »-ing«. Sie alle sind Symbole oder zumindest symbolische Ele­mente, da sie faßbare Formen von Vorstellungen sind, aus der Erfahrung abgeleitete, in wahrnehmbare Formen geronnene Ab­straktionen, konkrete Verkörperungen von Ideen, Verhaltenswei­sen, Meinungen, Sehnsüchten und Glaubensanschauungen. Die Erforschung kultureller Tätigkeiten – Tätigkeiten, deren empirisch faßbare Seite Symbole sind – bedeutet also nicht, daß man die Untersuchung von Gesellschaften zugunsten der Untersu­chung einer platonischen Schattenhöhle aufgeben müßte, in die mentalistische Welt einer introspektiven Psychologie oder, schlimmer noch, spekulativen Philosophie einzutreten und dort auf ewig in einem Dunst von »Kognitionen«, »Affektionen«, »Konationen« und anderen schemenhaften Begriffen herumzuir­ren hätte. Kulturelle Handlungen – das Bilden, Auffassen und Verwenden symbolischer Formen – sind soziale Ereignisse wie all die anderen auch; sie sind ebenso öffentlich wie eine Heirat und ebenso beobachtbar wie etwa die Landwirtschaft.

Sie sind jedoch nicht ganz dasselbe; genauer gesagt, die symboli­sche Dimension sozialer Ereignisse kann wie die psychologische getrennt von diesen Ereignissen als empirischen Gesamtheiten betrachtet werden. Es bleibt, um eine Bemerkung von Kenneth Burke aufzugreifen, ein Unterschied, ob man ein Haus baut oder einen Bauplan für ein Haus zeichnet, und es ist etwas grundsätz­lich anderes, ob man ein Gedicht über Heirat und Kinder liest oder selbst heiratet und Kinder hat.[6] Auch wenn sich der Bau eines Hauses am Plan orientieren oder der Wunsch nach Kindern durch die Lektüre des Gedichts hervorgerufen worden sein mag (eine Sache, die weniger wahrscheinlich ist), bedarf es doch einer Präzisierung, damit unser Umgang mit Symbolen nicht mit unse­rem Umgang mit Gegenständen oder Menschen verwechselt wird: letztere sind an sich keine Symbole, auch wenn sie häufig als solche fungieren können.[7] Wie eng auch immer im Alltagsle­ben das Kulturelle, Soziale und Psychologische bei Häusern, Far­men, Gedichten und Heiraten miteinander verwoben sein mag, ist es doch nützlich, sie in der Analyse auseinanderzuhalten und dabei die Gattungsmerkmale eines jeden auf dem standardisierten Hintergrund der anderen beiden gesondert darzustellen.

Was die Kulturmuster, d. h. die Symbolsysteme oder Symbol­komplexe betrifft, so ist ihr für uns in diesem Zusammenhang wichtigstes Gattungsmerkmal, daß sie extrinsische Informations­quellen sind. Unter »extrinsisch« verstehe ich nichts weiter, als daß sie – anders als z.B. die Gene – außerhalb der Grenzen des einzelnen Organismus in jenem intersubjektiven Bereich allge­meiner Verständigung angesiedelt sind, in den alle Menschen hin­eingeboren werden, in dem sie ihre getrennten Lebenswege ver­folgen und der auch nach ihrem Tod ohne sie weiterbesteht. Unter »Informationsquellen« verstehe ich nichts weiter, als daß sie – ebenso wie die Gene – Baupläne oder Schablonen sind, mit deren Hilfe Prozessen, die ihnen nicht angehören, eine bestimmte Form verliehen werden kann. So wie die Anordnung der Basen in einer DNS-Kette ein codiertes Programm ist, Bündel von In­struktionen oder Rezept für die. Synthese der komplexen Pro­teinstrukturen, die das Funktionieren des Organismus steuern, liefern auch Kulturmuster Programme für die Anordnung der sozialen und psychologischen Prozesse, die das öffentliche Ver­halten steuern. Obwohl die Art der Information und die Weise ihrer Übermittlung hier und dort völlig verschieden sind, ist die­ser Vergleich zwischen Gen und Symbol mehr als nur eine der üblichen stark strapazierten Analogien vom Typus »soziale Ver­erbung«. Es besteht eine tatsächliche substantielle Beziehung. Gerade weil nämlich beim Menschen die durch die Gene pro­grammierten Prozesse im Vergleich zu den niederen Tieren so unspezifisch sind, sind die durch die Kultur programmierten so wichtig; gerade weil das menschliche Verhalten nur wenig durch intrinsische Informationsquellen determiniert ist, sind die extrinsischen Quellen so wesentlich. Ein Biber benötigt zum Bau eines Dammes nur den richtigen Platz und die geeigneten Materialien – seine Vorgehensweise ist durch seine Physiologie bestimmt. Der Mensch aber, dessen Gene bei baulichen Aktivitäten nichts zu sagen haben, benötigt dazu noch eine Vorstellung davon, was es heißt, einen Damm zu bauen; eine Vorstellung, die er nur aus einer symbolischen Quelle beziehen kann – aus einem Bauplan, einem Lehrbuch oder aus verschiedenen Äußerungen von jeman­dem, der bereits weiß, wie man Dämme baut – oder natürlich daraus, daß er graphische oder sprachliche Elemente so bearbei­tet, daß er eine Vorstellung davon entwickeln kann, was Dämme sind und wie sie gebaut werden.

Dieser Punkt wird bisweilen als Beweis dafür angeführt, daß Kulturmuster »Modelle« seien, Mengen von Symbolen, deren Beziehungen zueinander die Beziehungen zwischen Größen, Prozessen oder was es sonst noch in physikalischen, organischen sozialen und psychologischen Systemen gibt, »nachbilden«, in­dem sie sie »abbilden«, »imitieren« oder »simulieren«.[8] Der Be­griff »Modell« hat jedoch zwei Bedeutungen – die Bedeutung »Modell von etwas« und die Bedeutung »Modell für etwas« und obwohl beide nur verschiedene Aspekte ein und desselben Grundbegriffs sind, empfiehlt es sich, sie zum Zweck der Analy­se auseinanderzuhalten. In der ersten Bedeutung liegt die Beto­nung auf der Manipulation von Symbolstrukturen: sie werden so konstruiert, daß sie das vorgegebene nichtsymbolische System möglichst genau abbilden, etwa wenn wir uns das Prinzip, nach dem Dämme funktionieren, mit Hilfe einer Theorie der Hydrau­lik oder eines Flußdiagramms begreiflich machen. Die Theorie oder das Diagramm führt die physikalischen Verhältnisse in ei­nem Modell vor, indem sie nämlich deren Struktur in synopti­scher Form ausdrücken, um sie verständlich zu machen. Es sind Modelle von »Wirklichkeit«. In der zweiten Bedeutung liegt die Betonung auf der Manipulation nichtsymbolischer Systeme nach Maßgabe der Beziehungen, die in den symbolischen zum Aus­druck kommen. Das geschieht z. B. dann, wenn wir einen Damm nach den Bauvorschriften errichten, die wir aus einer Theorie der Hydraulik oder aus einem Flußdiagramm gewonnen haben. Hier ist die Theorie ein Modell, nach dessen Vorbild die physikali­schen Beziehungen organisiert werden: sie ist ein Modell für »Wirklichkeit«. Psychologische und soziale Systeme wie auch kulturelle Modelle, die wir gemeinhin nicht als »Theorien«, son­dern als »Lehren«, »Melodien« oder »Riten« bezeichnen, unter­scheiden sich hiervon überhaupt nicht. Im Unterschied zu den Genen und anderen nichtsymbolischen Informationsquellen, die nur Modelle für etwas und keine Modelle von etwas sind, enthalten Kulturmuster einen doppelten Aspekt: Sie verleihen der sozialen und psychologischen Wirklichkeit Bedeutung, d. h. in Vorstellun­gen objektivierte Form, indem sie sich auf diese Wirklichkeit ausrichten und zugleich die Wirklichkeit auf sich ausrichten.

Es ist gerade dieser doppelte Aspekt, wodurch sich die echten Symbole von anderen Bedeu­tungsträgern unterscheiden. Modelle für etwas lassen sich, wie das Gen-Beispiel zeigt, überall in der Natur finden: wo immer ein Muster übermittelt werden soll, sind derartige Programme ganz einfach nötig. Das vielleicht schlagendste Beispiel aus der Tierwelt ist das Lernen durch Prägung, denn zu dieser Art des Lernens gehört die automatische Vorfüh­rung einer adäquaten Verhaltenssequenz durch ein Modelltier in Gegenwart eines lernenden Tiers, die ebenso automatisch zur Auslösung und Stabilisierung einer bestimmten, im lernenden Tier genetisch angelegten Reaktionsfolge führt.[9] Der Tanz, durch den zwei Bienen sich verständigen, von denen eine Nektar gefun­den hat, während die andere ihn noch sucht, wäre ein weiteres Beispiel, obwohl von anderer Art und komplexer codiert.[10] Craik hat sogar angenommen, das dünne Wasserrinnsal, das sich als erstes einen Weg von der Bergquelle zum Meer hinabbahnt und eine schmale Rinne für die nachfolgende größere Wassermenge schafft, habe so etwas wie eine Modell-/är-etwas-Funktion.[11] Aber Modelle von etwas – linguistische, graphische, mechani­sche, natürliche und andere Prozesse, deren Funktion nicht darin besteht, Informationen zu liefern, nach denen andere Prozesse gebildet werden können, sondern darin, eben diese nachgebilde­ten Prozesse darzustellen, ihre Struktur in einem anderen Me­dium auszudrücken – sind viel seltener und kommen unter den Lebewesen höchstwahrscheinlich nur beim Menschen vor. Die Wahrnehmung der strukturellen Übereinstimmung einer Menge von Prozessen, Tätigkeiten, Beziehungen, Größen usw. mit einer anderen Menge, der gegenüber sie als Programm auftritt, so daß das Programm als Darstellung oder Vorstellung – als Symbol – des Programmierten verstanden werden kann, macht das Wesen des menschlichen Denkens aus. Die gegenseitige Übertragbarkeit von Modellen für etwas und Modellen von etwas, die durch die symbolische Formulierung möglich wird, ist das besondere Merkmal unserer Denkweise.

… starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen schaffen …

Was die religiösen Symbole und Symbolsysteme betrifft, so ist diese gegenseitige Übertragbarkeit nicht zu übersehen. Die Aus­dauer, der Mut, die Eigenständigkeit, das Durchhaltevermögen und die leidenschaftliche Willenskraft, die sich der Prärieindianer auf der Suche nach Visionen antrainiert, sind mit den wichtigsten Tugenden, nach denen er zu leben versucht, identisch: im Streben nach Offenbarung festigt sich auch das Bewußtsein, wie er sich zu verhalten hast.[12] Das Gefühl vernachlässigter Pflichten, geheimgehaltener Schuld und öffentlicher Scham nach einer Beich­te, das bei den Seancen der Manus beständig hervorgerufen wird, sind eben diejenigen Gefühlsregungen, die jener Ethik der Pflichterfüllung zugrundeliegen, von der seine eigentumsorien­tierte Gesellschaft zusammengehalten wird: mit dem Wunsch nach Absolution bildet sich auch ein Gewissen aus.[13] Die Selbst­disziplin, die einen regungslos ins Kerzenlicht starrenden javani­schen Mystiker einer Gottheit näherbringen soll, trainiert ihn zugleich in jener rigorosen Kontrolle des Gefühlsausdrucks, die für jemanden, der ein quietistisches Leben führen will, unerläßlich ist.[14] Ob man die Vorstellung von einem persönlichen Schutzgeist, einer Familiengottheit oder einem inneren Gott als synoptische Formulierungen der jeweiligen Wirklichkeit auffaßt oder als Schablonen, die die betreffende Wirklichkeit hervor­bringt, scheint weitgehend beliebig und hängt davon ab, welchen der beiden Aspekte – den des Modells von etwas oder den des Modells für etwas – man gerade in den Mittelpunkt stellen möch­te. Die konkreten Symbole, mit denen wir es zu tun haben – sei es nun eine mythologische Gestalt, die in der Wildnis erscheint, der Schädel des verstorbenen Haushaltsvorstands, der wie ein Rich­ter im Dachgebälk wacht, oder eine körperlose »Stimme in der Stille«, die tonlos rätselhafte alte Poesie rezitiert – verweisen so­wohl in die eine wie in die andere Richtung. Sie drücken das jeweilige Leben aus und prägen es zugleich.

Sie prägen es, indem sie im Gläubigen bestimmte charakteristi­sche Dispositionen wecken (Tendenzen, Fähigkeiten, Neigungen, Kenntnisse, Gewohnheiten, Verpflichtungen, Verantwortlichkei­ten, Empfänglichkeiten), die den Ablauf seiner Tätigkeiten und die Art seiner Erfahrung in gewisser Weise festlegen. Eine Dispo­sition bezeichnet nicht eine Tätigkeit oder ein Ereignis, sondern die Wahrscheinlichkeit, daß unter bestimmten Bedingungen eine Tätigkeit erfolgen oder ein Ereignis eintreten wird: »Wenn man behauptet, eine Kuh sei ein Wiederkäuer oder ein gewisser Mann sei ein Zigarettenraucher, so heißt das nicht, daß die Kuh gerade jetzt wiederkäut oder daß der Mann gerade jetzt eine Zigarette raucht. Ein Wiederkäuer sein heißt, von Zeit zu Zeit wiederzukäuen, und ein Zigarettenraucher sein heißt: die Gewohnheit ha­ben, Zigaretten zu rauchen.«[15] Dementsprechend heißt fromm sein nicht, eine Art frommer Handlung zu begehen, sondern die Neigung zu derartigen Handlungen. Das gleiche gilt für den Mut des Prärieindianers, die Gewissensprobleme des Manus oder den Quietismus des Javaners, die im jeweiligen Zusammenhang das Wesen der Frömmigkeit ausmachen. Der Vorzug dieser Sichtwei­se liegt darin, daß sie das, was man gewöhnlich »mentale Züge« oder – wenn man den Cartesianismus nicht bemühen will – »psy­chologische Kräfte« nennt (beides an sich völlig unanfechtbare Begriffe), aus dem ganzen verschwommenen und unzugänglichen Bereich individueller Sinneswahrnehmung herauslöst und in jene klare Welt des Beobachtbaren verlegt, in der die Zerbrechlichkeit von Glas, die Entzündbarkeit von Papier und (um zur Metapher zurückzukehren) Englands feuchtes Klima angesiedelt sind.

Was nun die religiösen Handlungen betrifft (und das Auswendig­lernen eines Mythos ist ebensosehr eine religiöse Handlung wie das Abtrennen eines Fingerglieds), so wecken sie zwei in gewisser Hinsicht unterschiedliche Dispositionen: Stimmungen und Moti­vationen.

Eine Motivation ist eine beständige Tendenz, eine stets vorhande­ne Neigung, gewisse Arten von Handlungen zu begehen und in gewissen Arten von Situationen gewisse Arten von Gefühlen zu erleben, wobei es sich bei diesen drei »Arten« meist um ganz verschiedene und ziemlich unklare Kategorien handelt:

… wenn wir hören, jemand sei eitel [d. h. in seinem Handeln von Eitelkeit getrieben], erwarten wir von ihm in erster Linie, daß er sich in einer bestimm­ten Art verhält, nämlich daß er viel über sich selbst spricht, daß er sich in die Gesellschaft angesehener Leute drängt, daß er jegliche Kritik zurückweist, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken sucht und Unterhaltungen über die Ver­dienste anderer ausweicht. Wir erwarten von ihm auch, daß er sich rosigen Wachträumen über seine eigenen Erfolge hingibt, Gedanken an vergangene Mißerfolge vermeidet und viele Pläne für sein eigenes Vorwärtskommen schmiedet. Eitel sein heißt: sich auf diese und viele andere verwandte Arten benehmen. Gewiß erwarten wir von einem eitlen Menschen auch, daß er in gewissen Lagen Stiche und Zittern verspürt; wir erwarten, daß er einen Stich tief im Herzen verspürt, wenn eine prominente Person seinen Namen verges­sen hat, und daß er sich leichtbeschwingt fühlt, wenn er über die Mißgeschicke seiner Nebenbuhler hört. Aber Gefühle der Verletzung und Leichtbe­schwingtheit zeugen nicht klarer von Eitelkeit als öffentliches Prahlen oder heimliche Wachträume.[16]

Entsprechendes gilt für alle anderen Motivationen. »Unbezähm­barer Mut« als Motiv beinhaltet etwa die Entschlossenheit, in der Wildnis zu fasten oder Überfälle auf feindliche Lager ganz allein zu unternehmen und sich beim Gedanken an ein Bravourstück zu erregen. »Ethische Skrupelhaftigkeit« beinhaltet so tiefsitzende Tendenzen wie die, lästige Versprechen einzulösen, heimliche Sünden trotz starken öffentlichen Mißfallens zu beichten und Schuldge­fühle zu entwickeln, wenn bei Seancen vage und allge­mein gehaltene Beschuldigungen vorgebracht werden. »Ruhige Gelassenheit« schließlich beinhaltet den beständigen Willen, Hal­tung zu bewahren, was immer da kommen mag, das Zurschaustellen selbst minimaler Gefühlsregungen abzulehnen und über gestaltlose Wesenheiten inhaltslose Kontemplationen anzustellen. Motive sind also weder Handlungen (d. h. intentionale Verhal­tensweisen) noch Gefühle, sondern Neigungen zu bestimmten Handlungen oder zu bestimmten Gefühlen. Und eben das mei­nen wir auch unter anderem – wenngleich auch nur unter ande­rem wenn wir jemanden als religiös, d. h. als durch Religion motiviert, bezeichnen.

Weiterhin meinen wir, daß er bei entsprechender Stimulierung für bestimmte Stimmungen empfänglich ist, Stimmungen, die wir manchmal unter Oberbegriffen wie »ehrerbietig«, »feierlich« oder »gläubig« zusammenfassen. Diese allgemeinen Bezeichnun­gen verdecken jedoch die ungeheure empirische Mannigfaltigkeit der jeweiligen Dispositionen und gleichen sie tendenziell der ganz besonders feierlichen Ausprägung an, die einen Großteil unseres eigenen religiösen Lebens kennzeichnet. Die Stimmun­gen, die heilige Symbole zu verschiedenen Zeiten und an ver­schiedenen Orten ausgelöst haben, reichen von Begeisterung bis zu Melancholie, von Selbstvertrauen bis zu Selbstmitleid, von überschäumender Ausgelassenheit bis zu völliger Teilnahmslosig­keit, von der erogenen Kraft so vieler Mythen und Rituale auf der Welt ganz zu schweigen. Ebenso wie es mehr als nur eine Art der Motivation gibt, die man Frömmigkeit nennen könnte, gibt es nicht nur eine An der Stimmung, die man gläubig nennen könnte.

Der Hauptunterschied zwischen Stimmungen und Motivationen besteht darin, daß letztere sozusagen vektorielle Qualitäten, er­stere dagegen nur skalare sind. Motive sind gerichtet, sie benen­nen einen bestimmten allgemeinen Verlauf, streben bestimmte, gewöhnlich temporäre, Erfüllungen an. Stimmungen hingegen verändern sich nur in ihrer Intensität: sie sind auf nichts gerich­tet. Sie entspringen bestimmten Situationen, verfolgen aber kei­nen Zweck. Sie sind wie Nebel, sie verdichten sich und lichten sich wieder, sie steigen auf und verflüchtigen sich wie Gerüche. Wenn sie da sind, sind sie allumfassend: ist man traurig, so scheint alles und jedes düster; ist man lustig, so scheint alles und jedes herrlich. Daher kann man zwar gleichzeitig eitel, tapfer, willensstark und eigenständig, nicht aber ausgelassen und teil­nahmslos oder frohlockend und melancholisch sein.[17] Weiterhin bleiben Motive über kürzere oder längere Zeiträume hinweg be­stehen, während Stimmungen nur öfter oder weniger oft wieder­kehren, aus meist unerfindlichen Gründen auftauchen und wie­der verschwinden. Doch der für uns vielleicht wichtigste Unter­schied zwischen Stimmungen und Motivationen besteht darin, daß Motivationen mit Bezug auf die Ziele, zu denen sie hinführen sollen, »Sinn ergeben«, während Stimmungen mit Bezug auf die Bedingungen, denen sie entspringen sollen, »Sinn ergeben«. Wir deuten Motive von ihren Zielen her. Wir sagen, jemand sei flei­ßig, weil er vorwärtskommen möchte; wir sagen, jemand sei ängstlich, weil er die nukleare Massenvernichtung kommen sieht. Dasselbe gilt auch für »transzendente« Deutungen. Nächstenlie­be wird zu christlicher Nächstenliebe, wenn sie in eine Vorstel­lung von Gottes Ratschluß eingebettet ist; Optimismus wird zu christlichem Optimismus, wenn er in einer bestimmten Vorstel­lung vom Wesen Gottes gründet. Die Beharrlichkeit der Navaho erklärt sich logisch aus dem Glauben, daß die »Wirklichkeit« mechanisch abläuft und daher zwingbar ist; ihre beständige Furcht erklärt sich aus ihrer Überzeugung, daß die »Wirklich­keit«, wie immer sie abläuft, ungeheuer mächtig und auch ent­setzlich gefährlich ist.[18]

… indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und

Daß es dieselben Symbole und Symbolsysteme sind, die einer­seits die von uns als religiös bezeichneten Dispositionen wecken und bestimmen und andererseits diese Dispositionen in einen kosmischen Rahmen stellen, sollte eigentlich nicht weiter ver­wundern. Wenn wir eine bestimmte ehrfürchtige Stimmung als religiös und nicht als säkular bezeichnen, so meinen wir doch wohl, daß sie aus der Vorstellung einer alles durchdringenden Lebenskraft, z.B. des mana, herrührt und nicht etwa von ei­nem Ausflug zum Grand Canyon. Oder wenn wir eine be­stimmte asketische Praktik als Beispiel religiöser Motivierung anführen, so meinen wir doch wohl, daß sie sich auf ein abso­lutes Ziel, z.B. das Nirvana, richtet und nicht auf ein begrenz­tes wie etwa Gewichtsabnahme. Würden heilige Symbole nicht Dispositionen in den Menschen auslösen und zugleich allge­meine Ordnungsvorstellungen formulieren – wie dunkel, unar­tikuliert und unsystematisch sie auch sein mögen so gäbe es keine empirischen Unterscheidungsmerkmale, die für religiöse Tätigkeit oder religiöse Erfahrung spezifisch sind. Die Einstel­lung eines Golfspielers zu seinem Sport läßt sich zwar durch­aus als »religiöse« beschreiben, aber nicht schon dann, wenn er ihn nur leidenschaftlich gerne und bloß sonntags betreibt: er muß in ihm außerdem ein Symbol für transzendente Wahrhei­ten sehen. Der pubertierende Knabe aus einer Karikatur von William Steig, der seelenvoll in die Augen des pubertierenden Mädchens schaut und murmelt: »Ethel, Du hast etwas, das mich irgendwie religiös stimmt«, ist wie die meisten Heran­wachsenden einfach verwirrt. Was eine Religion über das inner­ste Wesen der Wirklichkeit aussagt, mag unverständlich, seicht und allzuoft auch verkehrt sein; doch muß sie etwas darüber aussagen, wenn sie nicht nur aus der Anhäufung überkomme­ner Praktiken und konventioneller Gefühlsregungen, die wir gemeinhin als Moral bezeichnen, bestehen soll. Wollte man heute eine Minimaldefinition von Religion wagen, so liefe sie wahrscheinlich nicht auf Tylors berühmten »Glauben an geisti­ge Wesen« hinaus, eine Definition, zu der zurückzukehren uns Goody, der theoretischen Spitzfindigkeiten überdrüssig, kürz­lich aufgefordert hat; sondern eher auf das, was Salvador de Madariaga »das vergleichsweise bescheidene Dogma, daß Gott nicht verrückt ist«, genannt hat,[19]

Gewöhnlich behaupten die Religionen natürlich sehr viel mehr als nur das. Wir glauben, wie James es formulierte, alles, was wir können, und würden alles glauben, wenn wir nur könn­ten.[20] Was wir offenbar am wenigsten ertragen können, ist die Bedrohung unserer Vorstellungskräfte, die Möglichkeit, daß uns unsere Fähigkeit, Symbole zu schaffen, zu begreifen und zu ge­brauchen, im Stich lassen könnte. Würde uns das nämlich wider­fahren, so wären wir, wie ich bereits andeutete, hilfloser als die Biber. Die extreme Unspezifiziertheit, Ungerichtetheit und Ver- änderbarkeit der angeborenen (d. h. genetisch programmierten) Reaktionsfähigkeiten des Menschen bringt es mit sich, daß er ohne die Hilfe von Kulturmustern in seinen Funktionen defizient bliebe. Er wäre nicht etwa bloß ein begabter Affe, der wie ein benachteiligtes Kind unglücklicherweise an der vollen Entfaltung seiner Möglichkeiten gehindert wurde, sondern eine Art formlo­ses Monster ohne Richtungssinn und ohne Befähigung zur Selbstkontrolle, ein Chaos sprunghafter Impulse und unbe­stimmter Emotionen. Die Abhängigkeit des Menschen von Sym­bolen und Symbolsystemen ist derart groß, daß sie über seine kreatürliche Lebensfähigkeit entscheiden. Schon der geringste Anlaß zu der Befürchtung, sie könnten mit irgendeinem Aspekt der Erfahrung nicht fertigwerden, löst daher die schwerwiegend­sten Ängste in ihm aus:

Nun vermag er (der Mensch) sich zwar allem, womit seine Einbildungskraft es aufnehmen kann, irgendwie anzupassen, er kann aber nicht mit dem Chaos fertig werden. Weil sein charakteristisches Tun und seine höchste Gabe das Vorstellen ist, fürchtet er am meisten die Begegnung mit dem, was er nicht ausdeuten kann, – mit dem »Unheimlichem, wie es volkstümlich heißt. Das braucht kein neuer Gegenstand zu sein; wir erleben neue Dinge und ›verste­hen‹ sie sogleich, sei es auch versuchsweise, durch die nächstliegende Analo­gie, wenn der Geist in Freiheit funktioniert; unter geistigem Druck aber können ganz vertraute Dinge plötzlich ihre Einordnung verlieren und uns in Panik versetzen. Daher sind die Symbole der allgemeinen Orientierung in der Natur, auf der Erde, in der Gesellschaft und in dem, was wir tun, die Symbole unserer Weltanschauung und Lebensanschauung, immer am wichtigsten für uns. Folglich werden in der primitiven Gesellschaft die gewöhnlichen Tätig­keiten, Essen, Waschen, Feuermachen usw. ebenso wie das reine Zeremoniell mit einem täglichen Ritual versehen; denn die Notwendigkeit, die Stammesmoral ständig zu bekräftigen und ihre kosmische Bedingtheit anzuerkennen, wird fortwährend empfunden. Im christlichen Europa brachte die Kirche die Menschen täglich (in einigen Orden sogar stündlich) auf die Knie, um ihre Anerkennung der letzten Begriffe, wenn schon nicht innerlich zu bedenken, so doch äußerlich zu vollziehen.[21]

Es gibt mindestens drei Punkte, an denen das Chaos – ein Auf­ruhr von Ereignissen, für die es nicht nur keine Interpretation, sondern auch keine Interpretationsmöglichkeit gibt – über den Menschen hereinzubrechen droht: an den Grenzen seiner analy­tischen Fähigkeiten, an den Grenzen seiner Leidensfähigkeit und an den Grenzen seiner ethischen Sicherheit. Sowohl Verwirrung und Leiden wie auch das Gefühl eines unauflöslichen ethischen Widerspruchs stellen, sobald sie nur intensiv genug werden oder lange genug anhalten, radikal die Grundannahme in Frage, daß das Leben begreifbar sei und daß wir uns mit Hilfe des Denkens erfolgreich in ihm zurechtfinden können – Forderungen, denen jede, auch die »primitivste« Religion irgendwie genügen muß, wenn sie Bestand haben will.

Es ist der erste dieser drei Problemkreise, der von den modernen Sozialanthropologen am wenigsten untersucht worden ist (Evans-Pritchards klassische Erörterung, warum Kornspeicher auf manche Zande fallen und auf andere nicht, bildet eine bemer­kenswerte Ausnahme[22]). Schon die Überlegung, die religiösen Anschauungen der Menschen könnten Versuche sein, ungewöhn­liche Ereignisse und Erfahrungen – Tod, Träume, Geistesabwe­senheit, Vulkanausbrüche oder eheliche Untreue – in den Bereich des wenigstens potentiell Erklärbaren einzubeziehen, erinnert of­fenbar an Tylor oder Schlimmeres. Es scheint jedoch festzuste­hen, daß es zumindest einigen (wahrscheinlich aber den meisten) Menschen unmöglich ist, ungeklärte Fragen einfach auf sich be­ruhen zu lassen, die befremdlicheren Erscheinungen in der Welt nur mit sprachlosem Staunen oder gelassener Teilnahmslosigkeit zu betrachten, ohne zu versuchen, einige wie immer phantasti­sche, widersinnige oder einfältige Ideen darüber zu entwickeln, wie diese Erscheinungen mit den alltäglicheren Erfahrungswerten in Einklang zu bringen wären. Jedes längere Versagen des vor-handenen Erklärungsapparats, des Gesamtkomplexes der tradier­ten Kulturmuster (Common sense, Wissenschaft, Philosophie, Mythos), die man zur Verortung der empirischen Welt, zur Er­klärung dessen, was nach Erklärung verlangt, zur Verfügung hat, birgt die Möglichkeit tiefer Beunruhigung – eine Möglichkeit, die verbreiteter, und eine Beunruhigung, die tiefer ist, als wir meist anzunehmen gewohnt sind, seit wir Religion zu Recht nicht mehr als Pseudowissenschaft auffassen. Immerhin hat selbst der Hohe­priester des heroischen Atheismus, Lord Russell, einmal gesagt, daß ihn zwar das Problem der Existenz Gottes niemals berührt habe, aber die Vieldeutigkeit gewisser mathematischer Axiome fast um den Verstand gebracht hätten. Und Einsteins tiefe Unzu­friedenheit mit der Quantenmechanik beruhte auf der – sicherlich religiösen – Unfähigkeit zu glauben, daß Gott, wie er sich aus­drückte, mit dem Weltall würfelt.

Dieser Suche nach Verständlichkeit und einem derartigen Auf­wallen metaphysischer Ängste, wenn empirische Phänomene un­durchdringlich dunkel zu bleiben drohen, begegnet man aber auch auf viel anspruchsloseren geistigen Gebieten. Ich war bei meiner eigenen Arbeit tief be­eindruckt, mehr als ich je erwartet hätte, wie sehr sich meine animistischer denkenden Informanten wie echte Tylorianer verhielten. Es schien so, als gebrauchten sie ihre Glaubensanschauungen in einem fort, um Phänomene zu »erklären« oder, genauer gesagt, um sich zu versichern, daß die Phänomene im Rahmen ihres akzeptierten Weltbildes erklärbar waren, denn sie hielten an der jeweils vorgebrachten Hypothese – Besessenheit, emotionales Ungleichgewicht, Tabuverletzung oder Verhexung – für gewöhnlich nicht sehr lange fest und waren nur zu bereit, sie für eine andere, gleichartige Hypothese, die ihnen im gegebenen Fall plausibler vorkam, aufzugeben. Allerdings wa­ren sie nicht bereit, sie ersatzlos – ohne andere Hypothese – aufzugeben, die Ereignisse auf sich beruhen zu lassen.

Damit nicht genug: sie nahmen diese furchtsame Geisteshaltung auch gegenüber Phänomenen ein, die keinen unmittelbar prakti­schen Einfluß auf ihr Leben oder überhaupt auf das Leben hat­ten. Als im Haus eines Schreiners ein eigentümlich geformter, ziemlich großer Giftpilz innerhalb weniger Tage (einige sagten, weniger Stunden) emporwuchs, kamen die Menschen meilenweit herbei, um ihn anzuschauen, und alle hatten irgendwelche Erklä­rungen für ihn parat – animistische, animatistische oder noch andere, die irgendwo dazwischenlagen. Dennoch läßt sich schwerlich behaupten, daß dem Giftpilz ein sozialer Wert im Sinne Radcliffe-Browns zukam oder daß er irgendwie mit einem solchen verknüpft war, dessen Stelle er vielleicht eingenommen hatte (wie die Grille bei den Andamanen).[23] Giftpilze spielen bei den Javanern ungefähr die gleiche Rolle wie bei uns, und ge­wöhnlich interessieren sie sich nicht mehr und nicht weniger dafür als wir. Nur war jener eben »seltsam«, »sonderbar«, »un­heimlich« – aneh. Und es ging ganz einfach darum, das Seltsame, Sonderbare und Unheimliche zu erklären bzw. die Überzeugung, daß es erklärt werden konnte, aufrechtzuerhalten. Man reißt kei­nen Giftpilz aus, der fünfmal so schnell wächst, wie es einem Giftpilz normalerweise zukommt. Der »sonderbare« Giftpilz hatte im weitesten Sinne für alle, die von ihm hörten, Folgen – und zwar entscheidende. Er bedrohte ganz allgemein ihre Fähig­keit, die Welt zu verstehen, und warf die unbequeme Frage auf, ob ihre Anschauungen über die Natur eigentlich brauchbar, ihre Wahrheitsmaßstäbe gültig waren.

Damit soll nun nicht behauptet werden, daß das beunruhigende Gefühl des Menschen, seine kognitiven Mittel könnten unzu­länglich sein, nur oder vor allem durch das plötzliche Eintreten außerordentlicher Ereignisse hervorgerufen würde, oder daß die­se Erkenntnis nur in kritischen Situationen aufträte. Viel häufiger liegt der Grund für die chronische Beunruhigung in einer hart­näckigen, immer aufs neue erfahrenen Schwierigkeit, bestimmte Aspekte der Natur, des Selbst und der Gesellschaft zu verstehen, bestimmte schwer faßbare Phänomene den kulturell formulierba­ren Fakten zuzuordnen, weshalb die Menschen ständig einen Strom diagnostischer Symbole auf sie richten. Es ist das, was jenseits einer relativ festgelegten Linie sicheren Wissens liegt und hinter dem täglichen praktischen Lebensablauf immer spürbar bleibt, was die gewöhnliche menschliche Erfahrung fortwährend in den Kontext metaphysischer Fragen stellt und den dunklen, undeutlich bewußten Verdacht hervorruft, man könnte einer ab­surden Welt ausgeliefert sein.

Ein anderes Problem, das [bei den latmul] Gegenstand dieses typischen intel­lektuellen Nachforschens ist, sind die Kräusel und Wellen auf der Wasser­oberfläche. Man sagt im geheimen, daß Menschen, Schweine, Bäume, Gras – alle Gegenstände in der Welt – nur Wellenmuster sind. Tatsächlich scheint man in diesem Punkt weitgehend einer Meinung zu sein, obwohl er mögli­cherweise der Theorie der Inkarnation widerspricht, derzufolge der Geist eines Toten vom Ostwind als Nebel den Fluß hinauf und in den Leib der Frau geblasen wird, die mit dem Sohn des Verstorbenen verheiratet ist. Wie dem auch sei, es bleibt die Frage, wie Kräusel und Wellen zustande kommen. Der Clan, der den Ostwind als Totem für sich beansprucht, ist sich darüber völlig im klaren: es ist der Wind mit seinem Moskito wedel, der die Wellen verur­sacht. Andere Clans dagegen haben die Wellen personifiziert und sagen, sie seien eine vom Wind unabhängige Person (Kontum-mali). Wieder andere Clans vertreten noch andere Theorien. Einmal, als ich einige latmul zur Küste mitgenommen hatte, fand ich einen von ihnen allein dasitzen und mit ge­spannter Aufmerksamkeit auf das Meer schauen. Es war ein windstiller Tag, aber eine leichte Dünung brach sich am Ufer. Zu den totemistischen Ahnen seines Clans gehörte auch eine personifizierte Schlitztrommel, die den Fluß hinunter ins Meer getrieben war und von der man glaubte, sie verursache die Wellen. Er starrte auf die Wellen, die sich auch ohne Wind aufwarfen und brachen und damit die Richtigkeit seines Clan-Mythos bewiesen.[24]

Die zweite bedrohliche Erfahrung, die die Sinnhaftigkeit eines bestimmten Lebensmusters in ein Chaos aus gegenstandslosen Namen und namenlosen Gegenständen zu zersprengen droht-das Problem des Leidens wurde dagegen eingehender untersucht oder zumindest eingehender beschrieben, vor allem weil in Ar­beiten über Stammesreligionen gerade Krankheit und Trauer, die beiden wahrscheinlich wichtigsten Erscheinungsformen des Lei­dens, besondere Beachtung gefunden haben. Doch ungeachtet des außerordentlichen Interesses an den Emotionen im Umkreis solcher Grenzsituationen wurde — mit Ausnahme von wenigen Arbeiten, darunter Lienhardts Buch über das Wahrsagen bei den Dinka – so gut wie kein theoretisches Konzept entwickelt, das über eine krude Theorie der Zuversicht ä la Malinowski hinaus­ginge, daß nämlich die Religion »Situationen emotionaler Span­nung« erträglicher mache, indem sie »eine Flucht aus solchen Situationen und Sackgasen, die keinen anderen empirischen Aus­weg in den Bereich des Übernatürlichen bieten als den über Ritual und Glaube« ermöglicht.[25] Die Unzulänglichkeit dieser »Theolo­gie des Optimismus«, wie Nadel sie recht trocken bezeichnete, liegt natürlich auf der Hand.[26] Wahrscheinlich hat die Religion im Laufe der Geschichte die Menschen mindestens ebenso verstört wie ermuntert, ihnen mindestens ebensooft direkt und unver­blümt klargemacht, daß sie zum Leiden geboren sind, wie sie ihnen eine solche Einsicht ersparen half, indem sie sie in eine Art kindlicher Märchenwelt versetzte, wo – nochmals Malinowski – »Hoffnung nicht fehlschlagen und der Wunsch nicht trügen kann«.[27] Mit Ausnahme vielleicht der Christlichen Wissenschaft gibt es so gut wie keine religiösen Traditionen, seien es nun »gro­ße« oder »kleine«, in denen der Satz, Leben sei nun einmal Lei­den, nicht nachdrücklich vertreten würde; in einigen wird er ge­radezu verherrlicht.

Sie war eine alte [Ba-Ila] Frau aus einer Familie mit langer Ahnenreihe. Leza, »der Bedrängende«, erhob seine Hand gegen die Familie. Er tötete ihre Mut­ter und ihren Vater, als sie noch ein Kind war, und im Laufe der Jahre starben alle ihre Verwandten. Sie sagte sich: »Ich werde bestimmt die behalten, die auf meinem Schoß sitzen.« Aber nein, sogar sie, die Kinder ihrer Kinder wurden ihr genommen … Da faßte sie in ihrem Herzen den verzweifelten Entschluß, Gott aufzusuchen und ihn nach dem Sinn all dessen zu fragen … So begann sie zu reisen, durchzog ein Land nach dem anderen und dachte unaufhörlich: »Ich werde an den Ort gelangen, wo die Erde aufhört, und dort werde ich einen Weg zu Gott finden, und ich werde ihn fragen: >Was habe ich Dir getan, daß Du mich so heimsuchst?< Sie erreichte nie den Ort, wo die Erde aufhört, aber sie gab trotz all ihrer Enttäuschung die Suche nicht auf, und als sie durch die verschiedenen Länder kam, fragte man sie: »Weshalb bist du gekommen, alte Frau?«, und immer antwortete sie: »Ich suche Leza.« »Sie sucht Leza! Weshalb?« »Das fragt ihr mich, meine Brüder? Gibt es in diesen Ländern hier jemanden, der so viel erleidet, wie ich erlitten habe?« Und sie fragten weiter: »Was hast du erlitten?« »Das habe ich erlitten: Ich bin allein. Ich bin, wie ihr seht, eine alleingelassene alte Frau. So stehe ich nun da.« Und sie antworteten: »Ja, das sehen wir. So stehst du nun da! Ohne Freunde und Ehemann. Worin unterscheidest du dich von anderen? Der Bedrängende sitzt uns allen im Nacken, und wir können ihn nicht abschütteln.« Ihr Wunsch ging nie in Erfüllung. Sie starb an gebrochenem Herzen.[28]

Aus religiöser Sicht stellt das Problem des Leidens paradoxerwei­se nicht die Frage, wie es zu vermeiden sei, sondern die, wie zu leiden sei, wie man körperlichen Schmerz, persönliche Verluste, irdische Niederlagen oder die Hilflosigkeit gegenüber der Pein anderer erträglich, ertragbar, sozusagen zu etwas Leidlichem ma­chen kann. Eben daran scheiterte die Ba-Ila-Frau, ob nun zwangsläufig oder nicht, und starb verwirrt und verzweifelt, weil sie buchstäblich nicht wußte, wie sie mit dem, was ihr widerfah­ren war, umgehen, wie sie es erleiden sollte. Das »Sinnproblem«, von dem Max Weber sprach, umfaßt eben nicht nur die eher rationale Frage, ob Erfahrung letztlich erklärbar ist, sondern auch das eher affektive Problem, wie sie letzten Endes ertragen werden kann. Während die Religion einerseits die Fähigkeit unse­rer symbolischen Funktion, analytische Ideen zu formulieren, dadurch befördert, daß sie eine verbindliche Auffassung der Rea­lität insgesamt bereitstellt, ist unsere ebenfalls symbolische Fä­higkeit, Gefühle – Stimmungen, Leidenschaften, Affekte – auszudrücken, in einer analogen Konzeption vom generellen Wesen und der eigentümlichen Färbung der Wirklichkeit verankert. Wer sich die religiösen Symbole zu eigen machen kann, hat – solange er es kann – eine kosmische Garantie dafür, nicht nur die Welt zu verstehen, sondern auch seine Empfindungen und Gefühle präzi­se definieren zu können, wodurch es ihm möglich wird, diese Welt verdrießlich oder freudig, verbissen oder gelassen zu er­tragen.

Wir wollen unter diesem Gesichtspunkt einmal die bekannten Heilungsriten der Navaho betrachten, die gewöhnlich als »Ge­sänge« bezeichnet werden.[29] Ein Gesang – die Navaho haben an die sechzig verschiedene davon für ganz verschiedene Zwecke; fast alle jedoch dienen der Beseitigung irgendeiner körperlichen oder geistigen Krankheit – ist ein religiöses Psychodrama mit drei Hauptpersonen: dem »Sänger« oder Heiler, dem Patienten und, gewissermaßen als antiphonischem Chor, den Familienmitglie­dern und Freunden des Patienten. Die Struktur der verschiede­nen Gesänge, ihre dramatische Handlung, ist weitgehend die glei­che. Es gibt drei Hauptakte: die Reinigung des Patienten und des Publikums, der in Form wiederholter Beschwörungen und rituel­ler Handlungen vorgebrachte Wunsch nach Wiederherstellung des Wohlergehens (der »Harmonie«) des Patienten, schließlich die Identifikation von Patient und Heiligem Volk mit der an­schließenden »Heilung«. Die Reinigungsriten umfassen künstlich hervorgerufenes Schwitzen, Erbrechen und ähnliches, um die Krankheit auf physischem Wege aus dem Patienten zu vertreiben. Die zahllosen Beschwörungen bestehen hauptsächlich aus einfa­chen Wunschsätzen, wie »Möge es dem Patienten gut gehen«, »Mir geht es schon rundherum besser« etc. Die Identifikation des Patienten mit dem Heiligen Volk und also mit der kosmischen Ordnung überhaupt erfolgt mit Hilfe einer Sandzeichnung, die das Heilige Volk in einem jeweils passenden mythischen Zusam­menhang darstellt. Der Sänger setzt den Patienten auf die Zeich­nung, berührt zunächst Füße, Hände, Knie, Schultern, Brust, Rücken und Kopf der dargestellten Götter und anschließend die entsprechenden Körperteile des Patienten. Damit vollzieht er ei­ne im Grunde körperliche Identifikation von Menschlichem und Göttlichem.[30] Dies ist der Höhepunkt des Gesangs. Der gesamte Heilungsprozeß kann, wie Reichard sagt, mit einer spirituellen Osmose verglichen werden, in deren Verlauf die Krankheit des Menschen von der einen und die Kraft der Gottheit von der anderen Seite durch die Membrane der Zeremonie dringt, bis die Krankheit schließlich von dieser Kraft neutralisiert wird. Wäh­rend der kranke Navaho schwitzt, erbricht oder auf sonstige Wei­se rituell gereinigt wird, dringt die Krankheit nach außen; und Gesundheit dringt nach innen, sobald er mit Hilfe des Sängers die heilige Sandzeichnung berührt. Die Symbolik des Gesangs kon­zentriert sich eindeutig auf das Problem des menschlichen Lei­dens, indem sie es in einen Sinnzusammenhang stellt. Sie stellt einen Modus des Handelns bereit, durch den es ausgedrückt, im Ausgedrücktwerden verstanden und im Verstehen ertragen wer­den kann. Die stärkende Wirkung des Gesangs (da es sich bei den Krankheiten vor allem um Tuberkulose handelt, kann er in den meisten Fällen nur stärkend wirken) beruht letztlich auf seiner Fähigkeit, der erkrankten Person ein Vokabular zur Verfügung zu stellen, mit dem sie die Natur ihres Leidens fassen und mit der übrigen Welt in Beziehung setzen kann. Wie bei einer Prozession, einer Rezitation von Buddhas Auszug aus dem väterlichen Palast oder einer Aufführung von König Ödipus in anderen religiösen Traditionen geht es bei einem Navaho-Gesang hauptsächlich um die Darbietung eines besonderen und konkreten Bildes wahrhaft menschlichen und damit erträglichen Leidens, das dem Ansturm des Gefühls von Sinnlosigkeit gewachsen ist, das sich bei großem und unabwendbarem grausamen Leiden einstellt.

Das Problem des Leidens geht oft bruchlos in das der Sünde über, weil schlimmes Leid zumindest beim Leidenden fast immer das Gefühl weckt, er habe es nicht verdient. Dennoch sind die beiden Fragen nicht völlig identisch – ein Sachverhalt, den Weber bei seiner Einbeziehung östlicher Religionen in das christliche Theodizeeproblem meines Erachtens deswegen nicht deutlich er­kannte, weil er unter dem Einfluß einer monotheistischen Tradi­tion stand, in der menschliches Leiden unmittelbar die Frage nach der Güte Gottes aufwirft, da die verschiedenen Aspekte menschlicher Erfahrung als von einem einzigen Willen herrüh­rend begriffen werden müssen. Während sich nämlich beim Pro­blem des Leidens unsere Fähigkeit bedroht sieht, den »undiszi­plinierten Haufen« unserer Gefühle in eine soldatische Ordnung zu bringen, geht es beim Problem der Sünde um die Bedrohung unserer moralischen Urteilsfähigkeit. Das Problem der Sünde zielt nicht darauf, ob unsere symbolischen Mittel hinreichen, um unser Gefühlsleben zu beherrschen, sondern darauf, ob diese Mittel hinreichen, um uns funktionierende ethische Kriterien und normative Richtlinien zur Lenkung unseres Handelns an die Hand zu geben. Die Beunruhigung rührt her von der Kluft zwi­schen den Dingen, wie sie sind und wie sie sein sollen, wenn unsere Vorstellungen von Richtig und Falsch einen Sinn haben; von der Kluft zwischen dem, was unserer Meinung nach die einzelnen Menschen verdienen, und dem, was sie offensichtlich bekommen – ein Sachverhalt, den der folgende Vierzeiler tief­gründig zusammenfaßt:

The rain falls on the just
And on the unjust fella;
But mainly upon the just,
Because the unjust has the just’s umbrella.

Wem hier ein Thema, das in anderer Form dem Buch Hiob und der Baghavadgītā zugrundeliegt, etwas zu salopp formuliert ist, dem erscheint vielleicht das folgende klassische Gedicht aus Java, das dort fast jedem Kind geläufig ist und immer wieder gesungen und rezitiert wird, ein angemessenerer Ausdruck für das gleiche Problem – die Diskrepanz zwischen ethischen Vorschriften und materiellen Belohnungen, der offensichtliche Widerspruch zwi­schen »Sein« und »Sollen«:

Wir haben in einer Zeit der Unordnung gelebt,
in der alle verwirrt sind.
Einer will die Tollheiten nicht mitmachen.
Macht er sie aber nicht mit,
wird er nichts von der Beute erhalten
und am Ende verhungern.
Ja, Gott; das Schlechte ist schlecht:
Glücklich sind die, die vergessen,
doch glücklicher noch jene, die sich erinnern und die erkennen.

Man muß auch nicht theologisch gebildet sein, um religiöse Pro­bleme zu haben. Die Sorge über unlösbare ethische Widersprü­che, das beunruhigende Gefühl, daß die moralische Einsicht der moralischen Erfahrung nicht entspricht, ist sowohl in den soge­nannten primitiven Religionen wie auch in den sogenannten zivi­lisierten vorhanden. Davon zeugen zum Beispiel die verschiede­nen Vorstellungen über die »Teilung der Welt« bei den Dinka, die Lienhardt beschreibt.[31] Wie so viele Völker glauben die Dinka, daß der Himmel, wo »Gottheit« wohnt, und die Erde, wo die Menschen wohnen, einmal zusammenhingen. Der Himmel be­fand sich unmittelbar über der Erde und war durch ein Seil mit ihr verbunden, so daß die Menschen nach Belieben vom einen in den anderen Bereich gelangen konnten. Den Tod gab es nicht. Der erste Mann und die erste Frau lebten von einem Hirsekorn am Tage, mehr bedurften sie damals nicht, und mehr war ihnen auch nicht gestattet. Aus Habgier beschloß (natürlich) die Frau eines Tages, mehr als nur das erlaubte Quantum Hirse anzubau­en, und in ihrer gierigen Hast und in ihrem Arbeitseifer traf sie Gottheit unglücklicherweise mit dem Stiel ihrer Hacke. Beleidigt löste sie das Seil und zog sich in den weit entfernten Himmel, wie es ihn heute gibt, zurück, während die Menschen fortan für ihr Essen arbeiten, Krankheit und Tod erleiden und vom Ursprung ihres Seins, ihrem Schöpfer, getrennt leben müssen. Die Bedeu­tung dieser uns eigentümlich vertrauten Geschichte für die Dinka ist ähnlich wie die der Schöpfungsgeschichte für Juden und Chri­sten nicht homiletisch, sondern deskriptiv:

Diejenigen (Dinka), die die Geschichte erläuterten, machten mitunter keinen Hehl daraus, daß ihre Sympathien dem Menschen und seinem traurigen Los galten; sie wiesen auf die Geringfügigkeit des Vergehens hin, dessentwegen Gottheit ihm seine wohltätige Nähe entzog. Die Vorstellung, daß Gottheit von einer Hacke getroffen wurde… löst häufig eine gewisse Belustigung aus, fast als ob man die Geschichte für zu kindisch hielte, um die Folgen zu erklären, die dieses Ereignis gehabt haben soll. Es ist jedoch klar, daß es in dieser Geschichte von Gottheits Rückzug nicht um eine belehrende morali­sche Beurteilung des menschlichen Verhaltens geht. Es geht darum, eine Gesamtsituation darzustellen, wie sie die heutigen Dinka kennen. Die Men­schen heute sind so, wie es der erste Mann und die erste Frau damals wurden: aktiv, selbstsicher, neugierig, lernbegierig. Sie sind aber auch Leiden und Tod unterworfen, erfolglos, unwissend und arm. Das Leben ist unsicher, die menschlichen Berechnungen erweisen sich häufig als falsch, und die Men­schen müssen oft erfahren, daß auf ihre Handlungen nicht das folgt, was sie sich vorgestellt oder für recht und billig erachtet haben. Gottheits Rückzug vom Menschen als Folge einer nach menschlichen Maßstäben vergleichsweise geringfügigen Beleidigung zeigt den Gegensatz zwischen gerechten menschli­chen Urteilen und dem Wirken der Macht, die nach allgemeiner Auffassung die Ereignisse im Leben der Dinka letztlich beherrscht… Für die Dinka ist die moralische Ordnung letztlich nach Prinzipien verfaßt, die sich den Men­schen häufig entziehen, die sich teilweise in Erfahrung und in Tradition zei­gen und die durch menschliches Handeln nicht verändert werden können … Der Mythos von Gottheits Rückzug spiegelt also die bestehenden Verhältnis­se, wie man sie kennt. Die Dinka leben in einem Universum, das ihrer Kon­trolle weitgehend entzogen ist und in dem Ereignisse den berechtigsten menschlichen Erwartungen zuwiderlaufen.[32]

Beim Problem der Sünde – oder vielleicht sollte man es das Pro­blem mit der Sünde nennen handelt es sich im Grunde um das gleiche wie beim Problem der Verwirrung (oder mit der Verwir­rung) und dem Problem des Leidens (bzw. mit dem Leiden). Die befremdliche Unverständlichkeit bestimmter empirischer Ereig­nisse, die dumpfe Sinnlosigkeit heftiger und unerbittlicher Schmerzen und die rätselhafte Unerklärbarkeit schreiender Un­gerechtigkeit lassen gleichermaßen den beunruhigenden Verdacht aufkommen, daß die Welt, und damit das Leben der Menschen in der Welt, im Grunde vielleicht gar keine Ordnung aufweist – weder empirische Regelmäßigkeit noch emotionale Form noch moralische Kohärenz. Und die religiöse Antwort auf diesen Ver­dacht ist in allen Fällen dieselbe: sie formt mittels Symbolen das Bild einer solchen genuinen Ordnung, das die ins Auge springen­den Zweideutigkeiten, Rätsel und Widersinnigkeiten in der menschlichen Erfahrung erklärt oder sogar hervorhebt. Es geht ihr nicht etwa darum zu bestreiten, daß es ungeklärte Ereignisse gibt, daß das Leben Schmerzen bringt oder daß es auf die Ge­rechten regnet; was sie bestreitet ist vielmehr, daß es unerklärbare Ereignisse gebe, daß das Leben unerträglich und Gerechtigkeit ein Trugbild sei. Die Prinzipien der moralischen Ordnung mögen sich, wie Lienhardt sagt, dem Verständnis des Menschen häufig entziehen, aber das kann auch bei völlig befriedigenden Erklä­rungen außergewöhnlicher Ereignisse oder bei drastischen For­men des Gefühlsausdrucks der Fall sein. Entscheidend ist – zu­mindest für den religiösen Menschen -, daß diese Unverständ­lichkeit erklärbar ist, daß sie nicht etwa aus der Nichtexistenz solcher Prinzipien, Erklärungen und Formen, aus der Absurdität des Lebens oder der Nutzlosigkeit des Versuchs resultiert, der Erfahrung einen moralischen, intellektuellen oder emotionalen Sinn zu geben. Die Dinka können die moralischen Vieldeutigkeiten und Widersprüche in ihrem Leben gelten lassen, ja sogar darauf beharren, weil diese Vieldeutigkeiten und Widersprüche nicht als grundlegend angesehen werden, sondern als »rationale«, »natürliche«, »logische« (man mag hier nach Belieben eines dieser Adjektive einsetzen, weil keines wirklich angemessen ist) Folge der moralischen Struktur der Wirklichkeit, wie sie der Mythos von »Gottheits« Rückzug zeigt oder, wie Lienhardt sagt, »ab­bildet«.

Beim Sinnproblem in allen seinen ineinandergreifenden Aspekten (wie diese Aspekte im einzelnen Fall nun wirklich ineinander­greifen, welche Wechselbeziehungen zwischen dem Gefühl ana­lytischen, emotionalen und moralischen Ungenügens bestehen, ist meines Erachtens eine der wichtigsten und mit Ausnahme von Weber noch kaum bearbeiteten Fragen der vergleichenden For­schung in diesem gesamten Gebiet) geht es darum, die Unver­meidlichkeit von Unverständnis, Schmerz und Ungerechtigkeit im menschlichen Leben zu bejahen oder zumindest anzuerken­nen, während gleichzeitig verneint wird, daß diese irrationalen Züge der Welt insgesamt eigen seien. Und es sind die religiösen Symbole – Symbole, die einen Zusammenhang schaffen zwischen dem Bereich des menschlichen Seins und einer weiteren Sphäre, die die menschliche umgreifen soll -, durch die sowohl diese Bejahung als auch diese Verneinung ausgedrückt werden.[33]

… diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt…

Hier stellt sich jedoch sogleich eine noch weitergehende Frage: Wie kommt es, daß diese Verneinung Glauben findet? Wie kommt es, daß der religiöse Mensch seine als beunruhigend er­fahrene Wahrnehmung von Unordnung durch die mehr oder we­niger feste Überzeugung von einer grundlegenden Ordnung er­setzt? Was bedeutet »Glauben« im religiösen Kontext eigentlich? Unter all den Fragen, die im Zusammenhang mit religionsethno­logischen Untersuchungen aufgetaucht sind, ist dies die vielleicht schwierigste. Sie wird wohl auch deshalb so gerne ausgespart und der Psychologie zugeschoben, dieser liederlichen Außenseiter- Disziplin, an die die Ethnologen schon immer all jene Phänome­ne abgetreten haben, für deren Behandlung ihr abgegriffenes Durkheimsches Instrumentarium nicht ausreichte. Die Frage aber bleibt, sie ist (wie alles Soziale) keine rein »psychologische«, und jede ethnologische Religionstheorie, die ihr ausweicht, ver­dient den Namen nicht. Schon zu lange haben wir versucht, Hamlet ohne den Prinzen aufzuführen.

Zu Beginn jeder Annäherung an dieses Thema sollte man, so meine ich, festhalten, daß der religiöse Glauben nicht induktiv im Sinne von Bacon, auf der Grundlage der Alltagserfahrung, vor­geht – denn dann müßten wir alle Agnostiker sein -, sondern daß er eine Autorität unterstellt, die diese Erfahrung verwandelt. Ver­wirrung, Leiden und ethische Widersprüche – das Sinnproblem also – gehören zu den Dingen, die die Menschen zum Glauben an Götter, Teufel, Geister, totemistische Prinzipien oder die spiri­tuelle Wirksamkeit von Kannibalismus treiben (andere Motive wären beispielsweise ein überwältigender Sinn für Schönheit oder die Faszination, die von der Macht ausgeht); sie sind jedoch nicht die Quelle solcher Glaubensanschauungen, sondern bilden viel­mehr deren wichtigsten Anwendungsbereich:

Wir verweisen auf den Zustand der Welt, um eine Lehre zu exemplifizieren, niemals aber, um sie damit zu beweisen. In diesem Sinn exemplifiziert Belsen eine Welt der Erbsünde. Die Erbsünde ist jedoch keine Hypothese, die Ge­schehnisse wie Belsen erklären könnte. Wir rechtfertigen eine bestimmte reli­giöse Glaubensvorstellung, indem wir ihren Ort in der religiösen Gesamtvor­stellung aufzeigen; wir rechtfertigen einen religiösen Glauben als Gesamtheit, indem wir ihn auf eine Autorität beziehen. Wir erkennen die Autorität an, weil wir sie an irgendeinem Punkt in der Welt finden, an dem wir die Herr­schaft von etwas Jenseitigem verehren und anerkennen. Wir beten nicht die Autorität an, aber wir akzeptieren sie als Instanz, die das Anbetungswürdige definiert. So lassen sich mögliche Gegenstände der Anbetung in den refor­mierten Kirchen mit der Autorität der Bibel begründen, während sie sich in der römisch-katholischen Kirche aus der Anerkennung der päpstlichen Auto­rität ergeben.[34]

Hier handelt es sich natürlich um eine christliche Darstellung unserer Problematik, die deshalb jedoch keine geringere Gültig­keit besitzt. In Stammesreligionen liegt die Autorität in der Über­zeugungskraft traditioneller Vorstellungen, in mystischen Reli­gionen in der apodiktischen Macht übersinnlicher Erfahrung, in charismatischen in der hypnotischen Anziehung, die von einer außergewöhnlichen Persönlichkeit ausgeht. Doch die Vorrang­stellung, die in religiösen Fragen die Anerkennung einer autori­tativen Instanz vor der Erkenntnis hat, die aus dieser Anerken­nung folgen soll, ist hier ebenso mächtig wie in Religionen, die sich auf eine Schrift oder eine hierarchische Ordnung berufen. Das Grundaxiom hinter dem, was wir vielleicht die »religiöse Perspektive« nennen könnten, ist überall das gleiche: wer wissen möchte, muß zunächst glauben.

Von der »religiösen Perspektive« zu reden impliziert, daß es auch andere Perspektiven gibt. Eine Perspektive ist eine Weise des Sehens – »sehen« in jener weiten Bedeutung von »erken­nen«, »begreifen«, »verstehen« oder »erfassen«. Sie ist eine bestimmte Weise, das Leben zu sehen, eine bestimmte Art, die Welt zu deuten, so wie wir etwa von einer historischen Perspektive, einer wissenschaftlichen Perspektive, einer ästhetischen Perspektive, einer Common sense-Perspektive oder sogar von einer bizarren Perspektive sprechen, wie wir sie in Träumen und Halluzinatio­nen finden.[35] Wir haben daher zu fragen, erstens, worin das Typi­sche der »religiösen Perspektive« im Unterschied zu anderen Per­spektiven besteht; und zweitens, wie es kommt, daß die Men­schen gerade sie wählen.

Die besondere Eigenart der religiösen Perspektive tritt deutlicher faßbar hervor, wenn wir sie anderen wichtigen Perspektiven ge­genüberstellen, mit deren Hilfe die Menschen die Welt deuten: der des Common sense, der wissenschaftlichen und der ästheti­schen Perspektive. Der Common sense als Weise des »Sehens« ist, wie Schütz gezeigt hat, dadurch gekennzeichnet, daß sie die Welt, deren Gegenstände und Prozesse einfach als das nimmt, was sie zu sein scheinen – was bisweilen als naiv realistisch bezeichnet wird sowie durch ein pragmatisches Motiv, nämlich den Wunsch, diese Welt entsprechend den eigenen praktischen Ziel­setzungen zu gestalten, sie sich untertan zu machen oder, falls das nicht geht, sich ihr anzupassen.[36] Der festgelegte Schauplatz und vorgegebene Gegenstand unserer Handlungen ist die Alltagswelt, die ihrerseits natürlich ein Kulturprodukt ist, da sie sich im Rah­men symbolischer Vorstellungen von »unwandelbaren Tatsa­chen« formuliert, die von Generation zu Generation weitergege­ben werden. Sie ist wie der Mount Everest einfach da, und das Einzige, was man mit ihm anfangen kann – wenn man überhaupt den Drang verspürt, etwas mit ihm anzufangen -, ist, ihn zu besteigen. Die wissenschaftliche Perspektive dagegen geht gerade nicht vom Feststehenden aus.[37] Wohlerwogener Zweifel und sy­stematische Überprüfung, der Verzicht auf das pragmatische Mo­tiv zugunsten objektiver Beobachtung, der Versuch, die Welt me­thodisch zu analysieren, wobei die Beziehung zu den informellen Common sense-Vorstellungen immer problematischer wird – all dies sind Merkmale des Bemühens, die Welt wissenschaftlich zu fassen. Was nun die ästhetische Perspektive angeht, die unter dem Stichwort »ästhetische Einstellung« vielleicht am genauesten un­tersucht wurde, so werden hier naiver Realismus und praktisches Interesse ebenfalls aufgegeben. Der Wirklichkeitsgehalt der All­tagserfahrung wird jedoch nicht in Zweifel gezogen, sondern ein­fach nicht zur Kenntnis genommen. Statt dessen wendet man sich begierig den Erscheinungen zu, läßt sich von der Oberfläche der Dinge in Beschlag nehmen und beschäftigt sich, wie man sagt, mit den Dingen »als solchen«: »Die Funktion der künstlerischen Illusion ist es nicht, ›glauben zu machen‹… sondern liegt viel­mehr im Verzicht auf jeglichen Glauben – in der Betrachtung von Sinnesqualitäten, losgelöst von ihren gewöhnlichen Bedeutun­gen, die etwa signalisieren »hier ist dieser Stuhl«, »das ist mein Telefon« … etc. Zu wissen, daß das, was wir vor uns haben, keine praktische Bedeutung in der Welt hat, ermöglicht es uns, seine Erscheinung als solche zu beachten.«[38] Und ebenso wie die Common sense-Perspektive und die wissenschaftliche (oder auch die historische, philosophische und künstlerische) ist diese Per­spektive, diese »Weise des Sehens«, nicht das Ergebnis irgendei­nes geheimnisvollen cartesianischen Verfahrens, sondern wird in­duziert, vermittelt, ja geschaffen durch sonderbare quasi-gegen­ständliche Dinge – Gedichte, Schauspiele, Skulpturen, Sympho­nien -, die sich von der kompakten Welt des Common sense gelöst haben und damit jene besondere Aussagekraft erlangen, wie sie nur reinen Erscheinungen eigen ist.

Die religiöse Perspektive unterscheidet sich von der Common sense-Perspektive dadurch, daß sie, wie bereits angedeutet, über die Realitäten des Alltagslebens hinaus zu umfassenderen Realitä­ten hinstrebt, die jene korrigieren und ergänzen. Es geht ihr nicht um ein Einwirken auf diese umfassenderen Realitäten, sondern um ihre Anerkennung, um den Glauben an sie. Von der wissen­schaftlichen Perspektive unterscheidet sie sich dadurch, daß sie die Realitäten des Alltagslebens nicht aufgrund institutionalisier­ter Zweifel in Frage stellt, die die feststehenden Aspekte der Welt in einen Strudel probabilistischer Hypothesen stürzen, sondern auf der Grundlage von Wahrheiten, die nach ihrem Dafürhalten umfassenderer und nicht-hypothetischer Natur sind. Ihr Lo­sungswort ist Hingabe, nicht Distanz; Begegnung, nicht Analyse. Von der Kunst schließlich unterscheidet sie sich dadurch, daß sie sich von der Frage der Faktizität nicht löst und nicht absichtlich eine Aura des Scheins und der Illusion erzeugt, sondern das In­teresse am Faktischen vertieft und eine Aura vollkommener Wirklichkeit zu schaffen versucht. Es ist eben diese Idee eines »wirklich Wirklichen«, die der religiösen Perspektive zugrundeliegt und die symbolische Praxis der Religion als kulturelles Sy­stem hervorbringen, vertiefen und soweit wie möglich gegen die anderslautenden Erkenntnisse der säkularen Erfahrung immun machen soll. Analytisch gesehen liegt das Wesen des religiösen Handelns darin, daß ein ganz spezifischer Komplex von Symbo­len – nämlich die Metaphysik, die sie formulieren, und der Le­bensstil, den sie nahelegen – mit überzeugender Autorität ausge­stattet wird.

Womit wir schließlich beim Ritual wären. Denn es ist das Ritual, d. h. der Komplex heiliger Handlungen, in dessen Rahmen sich in der einen oder anderen Weise die Überzeugung herausbildet, daß religiöse Vorstellungen mit der Wirklichkeit übereinstimmen und religiöse Verhaltensregeln begründet sind. Die Zeremonie ist der Ort, an dem die Stimmungen und die Motivationen, die die reli­giösen Symbole in den Menschen hervorrufen, und die allgemei­nen Vorstellungen von der Seinsordnung, die sie für die Menschen ausdrücken, Zusammentreffen und sich gegenseitig verstärken – auch wenn es sich bei dieser Zeremonie vielleicht nur um die Rezitation eines Mythos, die Befragung eines Orakels oder das Schmücken eines Grabes handeln mag. Im Ritual sind gelebte und vorgestellte Welt ein und dasselbe, sie sind in einem einzigen System symbolischer Formen verschmolzen und bewir­ken daher bei den Menschen jene eigentümliche Veränderung in der Wahrnehmung der Wirklichkeit, von der Santayana im ein­gangs angeführten Zitat spricht. Sieht man von der Rolle ab, die göttliches Eingreifen bei der Entstehung eines Glaubens spielen mag – und es ist nicht Sache des Wissenschaftlers, sich dazu zu äußern –, so ist es (jedenfalls in erster Linie) die Befolgung reli­giöser Vorschriften in Gestalt konkreter Handlungen, die auf der menschlichen Ebene die religiösen Überzeugungen in Erschei­nung treten läßt.

Obwohl alle religiösen Rituale, wie automatisch oder konventio­nell sie auch scheinen mögen (wären sie es tatsächlich, so wären sie nicht religiös), diese Verschmelzung von Ethos und Weltauf­fassung in den Symbolen vollziehen, sind es doch vor allem die kunstvolleren und gewöhnlich öffentlichen Rituale – die ein brei­tes Spektrum von Stimmungen und Motivationen einerseits und metaphysischen Vorstellungen andererseits umfassen -, welche das religiöse Bewußtsein eines Volkes prägen. Diese voll entfalte­ten Zeremonien lassen sich mit einem Begriff von Singer zutref­fend als »kulturelle Veranstaltungen« bezeichnen: sie sind nicht nur der Punkt, an dem für die Gläubigen die gefühls- und vor­stellungsmäßigen Aspekte des religiösen Lebens zusammenflie­ßen, sondern auch der Punkt, an dem das Zusammenspiel dieser Aspekte vom außenstehenden Beobachter am besten untersucht werden kann:

Wenn mir Brahmanen (und übrigens auch Nicht-Brahmanen) aus Madras irgendein Merkmal des Hinduismus deutlich machen wollten, bezogen sie sich immer auf einen bestimmten Ritus oder eine bestimmte Zeremonie, ob nun im Lebenszyklus eines einzelnen, im Rahmen von Tempelfeierlichkeiten oder bei allgemeinen religiösen und kulturellen Veranstaltungen, oder luden mich ein, sie mir anzusehen. Im Laufe meiner Interviews und Beobachtungen kam ich darauf, daß die meisten abstrakteren Allgemeinaussagen über den Hinduismus (meine eigenen wie auch jene, die ich hörte) direkt oder indirekt an diesen beobachtbaren Veranstaltungen überprüft werden konnten?[39]

Natürlich sind nicht alle kulturellen Veranstaltungen religiöse Veranstaltungen, und es ist in der Praxis häufig nicht so einfach, religiöse von künstlerischen oder auch politischen Veranstaltun­gen zu unterscheiden, da symbolische Formen – ähnlich wie die gesellschaftlichen Formen – ganz verschiedenen Zwecken dienen können. Interessant aber ist, daß – ich paraphrasiere etwas – die Inder (»und vielleicht alle Völker«) offenbar annehmen, ihre Reli­gion sei »in diesen jeweiligen Veranstaltungen bündig zusammengefaßt, die sie Besuchern und sich selbst vorführen« können.[40]Was jedoch den Inhalt der Vorführung angeht, so ist er für die beiden Arten von Augenzeugen grundsätzlich verschieden; ein Faktum, das all jene, die »Religion für eine Form der menschli­chen Kunstausübung« halten, anscheinend ganz übersehen.[41]Während nämlich die religiösen Veranstaltungen für die »Besu­cher« naturgemäß nur Ausdruck einer bestimmten religiösen Perspektive sein können und damit entweder ästhetischer Genuß oder wissenschaftlich bearbeitbares Material, sind sie für die Teil­nehmenden darüber hinaus auch Inszenierungen, Materialisierungen, Realisierungen dieser Perspektive – nicht nur Modelle von Dingen, die sie glauben, sondern auch Modelle für ihren Glauben. Die Menschen kommen in solchen schöpferischen Schau­stellungen zu ihrem Glauben, während sie ihn darstellen.

Ich möchte das an einer besonders spektakulären kulturellen Ver­anstaltung aus Bali verdeutlichen: am rituellen Kampf zwischen einer schrecklichen Hexe namens Rangda und einem sympathi­schen Ungeheuer namens Barong.[42] Dieses Schauspiel wird mei­stens (wenn auch nicht ausschließlich) anläßlich eines Totentem­pelfestes aufgeführt und von Masken getanzt. Die Hexe, die als verblühte alte Witwe, Prostituierte und Kinderfresserin darge­stellt ist, will Pest und Tod über das Land bringen. Ihr tritt das Ungeheuer entgegen, eine Mischung aus tapsigem Bären, törich­tem Hündchen und protzigem chinesischen Drachen. Rangda, von einem einzelnen Mann getanzt, ist eine scheußliche Gestalt. Ihre Augen treten wie Geschwüre aus der Stirn hervor. Sie hat keine Zähne, sondern Hauer, die sich über den Backen aufwärts­biegen, und Reißer, die hinab über das Kinn ragen. Ihr gelbliches Haar hängt verfilzt und wirr um ihren Körper herum. Ihre Brüste sind trockene, herabhängende behaarte Zitzen, zwischen denen Ketten gefärbter Därme wie Würste baumeln. Ihre lange, rote Zunge gleicht einem Feuerstrom. Beim Tanz spreizt sie ihre to­tenweißen Hände mit den gut dreißig Zentimeter langen klauen­artigen Fingernägeln und stößt immer wieder ein entnervendes metallisches Gelächter aus. Barong dagegen, der wie ein Variete-Pferd von zwei Männern – einer vorn, einer hinten – getanzt wird, verkörpert einen ganz anderen Typus. Sein zottiger Hirtenhundmantel ist mit Gold- und Flitterzeug übersät, das im Halb­dunkel funkelt. Er ist mit Blumen, Bändern, Federn, Spiegeln und einem komischen Bart aus Menschenhaar herausgeputzt. Weil aber auch er ein Dämon ist, hat er ebenfalls herausquellende Augen und schnappt mit seinen hauerbewehrten Kinnbacken in gebührender Wut, sobald er mit Rangda oder anderen zusam- mentriift, die seine Würde in Frage stellen. Das Bündel klingen­der Schellen an seinem absonderlich gebogenen Schwanz trägt allerdings viel dazu bei, dieser Fürchterlichkeit die Spitze zu neh­men. Rangda ist eine satanische Gestalt, Barong dagegen eine lächerliche, ihr (unentschieden ausgehendes) Aufeinandertreffen ist eines zwischen Unheilvollem und Absurdem.

Dieser seltsame Kontrast von Horrorstück und billigem Schwank durchzieht die gesamte Vorstellung. Rangda bewegt sich, ihr ma­gisches weißes Gewand raffend, schwankend langsam hin und her, hält manchmal reglos in Gedanken oder Ungewißheit ver­sunken inne und taumelt dann plötzlich wieder vorwärts. Bei ihrem Erscheinen (man sieht, wenn sie durch die Toröffnung oben über einer niedrigen Steintreppe kommt, zuerst jene schrecklichen Hände mit den langen Nägeln) herrscht ungeheure Spannung, und es scheint (zumindest dem »Besucher«), als ob alles gleich aufspringen und panisch davonlaufen werde. Auch sie selbst wirkt, wie sie da unter wilden Gamelan-Klängen Verwün­schungen gegen Barong ausstößt, aus Furcht und Haß wie von Sinnen. Bisweilen läuft sie tatsächlich Amok. Ich habe selbst ge­sehen, wie sich Rangdas kopfüber in das Gamelan-Orchester stürzten oder in totaler Verwirrung wild umherhetzten und nur durch die gemeinsamen Bemühungen von einem halben Dutzend Zuschauer beruhigt und wieder zu sich gebracht werden konn­ten. Es gibt auch viele Geschichten von rasenden Rangdas, die ein ganzes Dorf stundenlang in Schrecken versetzten, und von Dar­stellern, die durch das, was sie mitgemacht hatten, geistig ver­wirrt wurden. Barong dagegen hat offensichtlich die allergrößte Mühe, gefährlich zu wirken, obwohl er die gleiche mana-ähnliche Kraft (sakti im Balinesischen) wie Rangda besitzt und auch seine Darsteller in Trance agieren. Er reißt zusammen mit seinem Dä­monengefolge (das auch durch eigene, taktlose Scherze zur allge­meinen Heiterkeit beiträgt) allerlei Possen, läßt sich etwa auf einem Metallophon nieder, während man darauf spielt, und schlägt mit den Beinen eine Trommel, oder er bewegt sich mit der vorderen Hälfte in eine Richtung und mit der hinteren in eine andere, verrenkt seinen zweigeteilten Körper auf die verrückteste Weise, bürstet sich Fliegen vom Leib, schnuppert in der Luft und gefällt sich immer wieder darin, eitel einherzustolzieren. Der Kontrast zu Rangda ist jedoch nicht durchgängig, denn auch sie ist zeitweise eine komische Figur – z. B. wenn sie so tut, als putze sie die Spiegel an Barongs Umhang -, wohingegen Barong nach Rangdas Erscheinen eher ernsthafter wird und nervös nach ihr schnappt und sie schließlich direkt angreift. Ebensowenig sind Komisches und Schreckliches immer streng auseinander gehal­ten; es gibt z. B. im Verlauf des Zyklus jene befremdliche Szene, in der sich mehrere untergeordnete Hexen (Schüler von Rangda) zur ungestümen Erheiterung des Publikums den Leichnam eines Totgeborenen zuwerfen, oder jene andere, nicht minder befremd­liche Szene, in der eine schwangere Frau, die hysterisch einmal in Tränen und dann wieder in Gelächter ausbricht, von einer Grup­pe Totengräber herumgestoßen wird und offenbar eine urkomi­sche Erscheinung abgibt. Das Themenpaar Schrecken und Heiterkeit findet zwar in den beiden Hauptfiguren und ihrem endlosen, unentschiedenen Kampf um den Sieg den deutlichsten Ausdruck, durchzieht aber auch das übrige Schauspiel in allen seinen Facetten. Alles dreht sich um diese beiden Themen oder vielmehr um die Beziehung zwischen ihnen.

Es ist hier nicht nötig, eine Rangda-Barong-Aufführung ausführ­lich zu beschreiben. Die jeweiligen Aufführungen weichen in den Einzelheiten stark voneinander ab, umfassen verschiedene, nicht allzu eng miteinander verbundene Teile und haben in jedem Fall eine so komplexe Struktur, daß eine einfache Zusammenfassung nicht möglich ist. Der Punkt, auf den es uns in diesem Zusam­menhang ankommt, ist der, daß das Stück für die Balinesen nicht nur ein Schauspiel ist, dem man zusieht, sondern auch ein Ritual, das man vollzieht. Es herrscht hier keine ästhetische Distanz, die die Schauspieler vom Publikum trennt und die dargestellten Er­eignisse in eine unbetretbare Scheinwelt versetzt. Im Verlauf der gesamten Rangda-Barong-Begegnung sind viele, oft fast alle Mit­glieder der Gruppe, die die Aufführung ausgerichtet hat, betei­ligt, und zwar nicht nur gefühlsmäßig, sondern auch physisch. In einem von Belos Beispielen zählte ich mehr als fünfundsiebzig Menschen – Männer, Frauen und Kinder -, die zu irgendeinem Zeitpunkt an der Aufführung mitwirkten. Dreißig bis vierzig Teilnehmer sind keineswegs ungewöhnlich. In der Durchführung gleicht das Schauspiel eher einem Hochamt und nicht so sehr einer Aufführung von Mord im Dom: es ist ein Teilnehmen, kein Zusehen.

Diese Teilnahme am Geschehen des Rituals erfolgt zum Teil über die verschiedenen Nebenrollen – untergeordnete Hexen, Dämo­nen und eine Reihe von legendären und mythischen Gestalten die von ausgewählten Dorfbewohnern gespielt werden. Meistens jedoch erfolgt sie aufgrund einer außergewöhnlich entwickelten Fähigkeit zur psychischen Dissoziation, die bei einem großen Teil der Bevölkerung vorliegt. Es gehört einfach dazu, daß bei einem Kampf zwischen Rangda und Barong mindestens drei, vier, meist aber mehrere Dutzend Zuschauer von einem Dämon ergriffen werden, in heftige Trancezustände verfallen – »wie Feu­erwerkskörper, die einer nach dem anderen losgehen«[43] – und sich mit geschwungenem Kris in den Kampf stürzen. In der sich panikartig ausbreitenden Massentrance wird der einzelne Balinese aus der gewöhnlichen Welt, in der er normalerweise lebt, in jene völlig außergewöhnliche versetzt, in der Rangda und Barong le­ben. In Trance fallen bedeutet für die Balinesen das Überschreiten einer Schwelle zu einer anderen Seinsordnung. Das Wort für Tran­ce ist nadi, von dadi, oft mit »werden« übersetzt, doch vielleicht zutreffender noch als »sein« wiederzugeben. Und selbst jene, die aus irgendeinem Grund diesen spirituellen Übergang nicht mit­vollziehen, werden in das Geschehen einbezogen, da sie dafür zu sorgen haben, daß die Raserei der in Trance Gefallenen nicht völlig außer Kontrolle gerät – unter Einsatz von physischer Gewalt bei gewöhnlichen Leuten und unter Zuhilfenahme von geweihtem Wasser und magischen Sprüchen bei Priestern. Auf seinem Höhe­punkt bewegt sich ein Rangda-Barong-Ritus am Rande eines Mas­sen-Amoklaufs (zumindest scheint es so), wobei die immer kleiner werdende Zahl derer, die nicht in Trance sind, sich verzweifelt darum bemüht (offenbar fast immer erfolgreich), die wachsende Zahl der in Trance Gefallenen zu beaufsichtigen.

In der üblichen Form – wenn man von einer solchen sprechen kann – beginnt die Aufführung mit dem Auftritt von Barong, der angesichts der Dinge, die da kommen sollen, vorsorglich erst einmal eitel auf und ab stolziert. Darauf können verschiedene mythische Szenen folgen – nicht immer exakt die gleichen welche die der Aufführung zugrundeliegende Geschichte erzäh­len, bis schließlich Barong und dann Rangda auftreten. Ihr Kampf beginnt. Barong schlägt Rangda bis zum Tor des Toten­tempels zurück. Er ist jedoch nicht stark genug, um sie vollstän­dig zu vertreiben, und nun wird er bis zum Dorf zurückgeschla­gen. Zuletzt, wenn es so aussieht, als ob Rangda schließlich die Oberhand gewänne, springen einige Männer in Trance auf und eilen mit gezücktem Kris Barong zu Hilfe. Doch sobald sie sich Rangda nähern (die ihnen in Gedanken versunken den Rücken zuwendet), wirbelt diese herum, stürzt sich auf sie und streckt sie mit einer Bewegung ihres weißen sakti-Gewands bewußtlos zu Boden. Darauf zieht sie sich eilig zum Tempel zurück (oder wird zurückgetragen), wo auch sie zusammenbricht, verborgen vor den Augen der aufgebrachten Menge, die, so sagte mir ein Infor­mant, sie töten würde, wenn sie sie in diesem hilflosen Zustand sähe. Barong bewegt sich unterdes zwischen den Kris-Tänzern hin und her und weckt sie auf, indem er mit dem Maul nach ihnen schnappt oder sie mit seinem Bart kitzelt. Sobald sie – immer noch in Trance – wieder zu »Bewußtsein« kommen, geraten sie über Rangdas Verschwinden außer sich, und da sie sie nicht an­greifen können, richten sie aus Enttäuschung den Kris gegen die eigene Brust (was in ihrem Zustand ungefährlich ist). Gewöhn­lich verwandelt sich an dieser Stelle die Menge ins reinste Pandämonium: Zuschauer beiderlei Geschlechts fallen überall im Hof in Trance, springen vor, um sich zu erstechen, ringen miteinan­der, verschlingen lebende Küken oder Exkremente, wälzen sich zuckend im Schlamm und anderes mehr, während diejenigen, die nicht in Trance sind, sich bemühen, ihnen den Kris zu entwinden und sie wenigstens notdürftig zu zügeln. Nach und nach versin­ken die in Trance Gefallenen in einen Zustand regungsloser Star­re, aus dem sie mit Hilfe des geweihten Wassers der Priester wieder erweckt werden. Die große Schlacht ist vorüber – auch diesmal völlig unentschieden. Rangda ist nicht besiegt worden, sie hat jedoch auch nicht gesiegt.

Will man der Bedeutung dieses Rituals nachgehen, so kann man z. B. versuchen, die verschiedenen Mythen, Erzählungen und ex­pliziten Glaubensanschauungen zu sammeln, die hier vermutlich in Szene gesetzt werden. Aber nicht nur ist dieses Material viel­fältig und veränderlich – für die einen ist Rangda die Inkarnation Durgas, Schivas bösartiger Gefährtin; für andere ist sie die Köni­gin Mahendradatta, eine Gestalt aus einer höfischen Erzählung, die im Java des elften Jahrhunderts spielt; für wieder andere ist sie die spirituelle Führerin der Hexen, so wie der Brahmanenprie­ster spiritueller Führer der Menschen ist. Auch die Vorstellungen darüber, wer (oder »was«) Barong ist, gehen weit auseinander und sind womöglich noch unbestimmter. Doch scheint es, als spielten sie im balinesischen Verständnis dieses Dramas nur eine untergeordnete Rolle. Der Dorfbewohner lernt sie erst in der unmittelbaren Begegnung anläßlich der jeweiligen Aufführung als tatsächliche Realitäten kennen. Sie sind daher nicht irgendwel­che Repräsentationen, sondern etwas gegenwärtig Präsentes. Und wenn die Dorfbewohner in Trance fallen, werden sie – nadiTeil jenes Bereichs, in dem diese Erscheinungen existieren. Je­manden, der einmal Rangda war, zu fragen, ob es sie real gebe (wie ich es einmal tat), bringt einen leicht in den Verdacht, nicht ganz richtig im Kopf zu sein.

Die Anerkennung der Autorität hinter der religiösen Perspektive, die das Ritual ausdrückt, rührt also eigentlich aus dem Vollzug des Rituals selbst. Indem die Aufführung eine Reihe von Stim­mungen und Motivationen – ein Ethos – hervorruft und mit Hilfe einer einzigen Symbolreihe ein Bild der kosmischen Ordnung – eine Weitsicht – umreißt, macht sie die beiden Aspekte des reli­giösen Glaubens – den des Modells für und den des Modells von etwas – einander konvertibel. Rangda erregt Furcht (ebenso Haß, Abscheu, Grausamkeit, Schrecken und auch Lust, obwohl ich die sexuellen Aspekte der Aufführung hier nicht behandeln konn­te), sie ist aber auch ein Bild der Furcht:

Die Faszination, die die Gestalt der Hexe auf die Vorstellungskraft der Bali­nesen ausübt, ist nur dann zu erklären, wenn man erkennt, daß die Hexe nicht nur eine furchteinflößende Gestalt ist, sondern selbst die Inkarnation der Furcht ist. Ihre Hände mit den langen bedrohlichen Fingernägeln packen und greifen ihre Opfer nicht, auch wenn Kinder beim Hexespielen derartige Ge­sten mit den Händen vollführen. Sie streckt die Arme mit nach außen gekehr­ten Handflächen und zurückgebogenen Fingern aus, eine Bewegung, die bei den Balinesen kapar heißt, ein Wort, mit dem sie die plötzliche erschrockene Reaktion eines Menschen, der vom Baum stürzt, bezeichnen… Nur dann, wenn wir sehen, daß die Hexe angstvoll und angsteinflößend zugleich ist, können wir ihre Ausstrahlung erklären, zugleich aber auch den Erregungszu­stand, in dem sie haarig, abstoßend, hauerbewehrt und einsam tanzt und dazwischen ihr schrilles unheimliches Lachen ausstößt.[44]

Barong wiederum löst nicht nur Gelächter aus. Er ist selbst die Verkörperung des Komischen, wie die Balinesen es auffassen: eine besondere Mischung aus Unernst, Exhibitionismus und Nei­gung zu übertriebener Eleganz, die neben Furcht vielleicht das vorherrschende Motiv in ihrem Leben ist. Der immer wieder ausbrechende Kampf zwischen Rangda und Barong, der zum unvermeidlichen Unentschieden führt, ist daher für den gläubi­gen Balinesen sowohl der Ausdruck einer allgemeinen religiösen Vorstellung wie auch die autoritative Erfahrung, die ihre Aner­kennung rechtfertigt, ja sogar erzwingt.

… daß die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen …

Aber niemand, noch nicht einmal ein Heiliger, lebt die ganze Zeit hindurch in jener Welt, die die religiösen Symbole zum Ausdruck bringen. Die meisten Menschen leben nur für Augenblicke darin. Die – wie Schütz sagt – ausgezeichnete Wirklichkeit der mensch­lichen Erfahrung – ausgezeichnet in dem Sinne, daß sie die Welt ist, in der wir am festesten verwurzelt sind, deren eigentümliche Tatsächlichkeit wir kaum in Frage stellen können (wenn wir auch bestimmte Teile davon in Frage stellen mögen) und deren Zwän­gen und Erfordernissen wir nur schwer entkommen können –, ist die Alltagswelt der Common sense-Gegenstände und der prakti­schen Handlungen.[45] Ein Mensch, selbst eine größere Anzahl von Menschen, mag für Ästhetisches unempfänglich, religiös desin­teressiert und für methodische wissenschaftliche Untersuchun­gen ungenügend gerüstet sein; er kann jedoch zum Überleben nicht völlig ohne Common sense auskommen. Die Dispositionen, die die religiösen Rituale wecken, üben daher – aus einer »diessei­tigen« Perspektive betrachtet – ihre größte Wirkung außerhalb des rituellen Rahmens aus, insofern sie die Vorstellungen des Einzelnen von der gegebenen Welt der reinen Tatsachen beein­flussen und färben. Die besondere Ausprägung, die die Visions­suche bei den Prärieindianern, die Beichte bei den Manus oder die mystischen Praktiken bei den Javanern annehmen, durchzieht weite Bereiche des Lebens dieser Völker weit über die unmittel­bar religiösen hinaus und drückt ihnen einen eigenen Stil auf, der sich sowohl in den vorherrschenden Stimmungen als auch in den charakteristischen Aktivitäten äußert. Die Mischung aus Schrecklichem und Komischem, die den Kampf zwischen Rang- da und Barong durchzieht, bestimmt große Teile des balinesi­schen Alltagsverhaltens, in dem – wie bei jenem Ritual – häufig blankes Entsetzen und aufdringlicher Mutwillen ganz nahe bei­einander liegen. Religion ist nicht etwa deswegen soziologisch interessant, weil sie, wie der Vulgärpositivismus meint, die soziale Ordnung wiedergibt (was sie, sofern sie das überhaupt tut, nur sehr indirekt und unvollständig tut), sondern deshalb, weil die soziale Ordnung von ihr – ebenso wie von der natürlichen Um­welt, der politischen Macht, von Reichtum, Recht, persönlichen Neigungen und einem Gefühl für Schönheit – geprägt wird.

Der beständige Wechsel zwischen religiöser Perspektive und Common sense-Perspektive gehört zweifellos zu den augenfälli­geren empirischen Sachverhalten einer Gesellschaft, auch wenn ihn die Sozialanthropologen, die ihn fast alle unzählige Male mit­erlebten, kaum beachtet haben. Meist wurde der religiöse Glaube als ein homogenes Merkmal eines Menschen hingestellt, ähnlich seinem Wohnsitz, seinem Beruf oder seiner verwandtschaftlichen Stellung. Doch der religiöse Glaube, wie er sich im Ritual zeigt, wo er den ganzen Menschen erfaßt und ihn subjektiv gesehen in eine andere Seinsweise versetzt, einerseits und der religiöse Glau­be im Alltagsleben, als der schwach erinnerte Widerschein jener Erfahrung andererseits, sind nicht ein und dasselbe. Die Nichtbe­achtung dieses Sachverhalts hat zu einiger Verwirrung geführt, ganz besonders im Zusammenhang mit dem Problem der soge­nannten primitiven Mentalität. Viele Mißverständnisse zwischen Levy-Bruhl und Malinowski z. B. über das »primitive Denken« rühren daher, daß dieser Unterschied nicht hinreichend erkannt wurde. Während sich nämlich der französische Philosoph dafür interessierte, wie die Wilden die Wirklichkeit sahen, wenn sie von einer spezifisch religiösen Perspektive ausgingen, befaßte sich der pol­nisch-englische Ethnograph damit, wie sie sie aus einer reinen Common sense-Perspektive wahrnahmen.[46] Vielleicht ahnten bei­de, daß sie nicht über dasselbe sprachen; keinem von beiden gelang es jedoch, diese beiden »Denkformen« – oder wie ich eher sagen würde: diese zwei symbolischen Ausdrucksweisen – mit­einander in Zusammenhang zu bringen, so daß Levy-Bruhls Wil­de – trotz seiner späteren Dementis – in einer Welt zu leben scheinen, die völlig aus mystischen Begegnungen besteht, während Malinowskis Wilde – trotz seines Nachdrucks auf die funktionale Bedeutung von Religion – in einer Welt zu leben scheinen, die völlig aus praktischen Handlungen besteht. Beide wurden so zu Reduktionisten wider Willen (ein Idealist ist ebensosehr ein Reduktionist wie ein Materialist), weil sie nicht sahen, daß der Mensch sehr leicht und relativ häufig zwischen radikal entgegengesetzten Betrachtungsweisen der Welt hin und her wechseln kann – Weisen, die ohne Zusammenhang nebenein­ander stehen und durch kulturelle Gräben getrennt sind, zu deren Überwindung es Kierkegaardscher Sprünge in beiden Richtun­gen bedarf:

Es gibt so zahlreiche Arten verschiedener Schockerfahrungen, wie es ver­schiedene geschlossene Sinnbereiche gibt, denen ich den Wirklichkeitsakzent erteilen kann. Nennen wir einige Beispiele: der Schock des Einschlafens als Sprung in die Traumwelt; die innere Verwandlung, die wir beim Aufzug des Vorhangs im Theater erleben, als Übergang in die Welt des Bühnenspiels; die radikale Änderung unserer Einstellung, wenn wir vor einem Gemälde die Einengung unseres Blickfelds auf das innerhalb des Rahmens Dargestellte zulassen, als Übergang in die Welt der bildlichen Darstellung; der Zwiespalt, der sich im Lachen auflöst, wenn wir einem Witz lauschen und einen Augen­blick lang bereit sind, die fiktive Welt des Witzes für wirklich zu halten, mit der verglichen unsere Alltagswelt närrisch erscheint; die Wendung des Kindes zu seinem Spielzeug als Übergang in die Welt des Spiels usw. Aber auch die religiösen Erfahrungen in all ihrer Vielfalt gehören zu diesen Beispielen, so etwa auch Kierkegaards Erfahrung des »Augenblicks« als Sprung in die reli­giöse Sphäre. Die Entscheidung des Wissenschaftlers, die leidenschaftliche Anteilnahme an den Geschehnissen »dieser Welt« mit einer desinteressierten, kontemplativen [analytischen] Einstellung zu ersetzen, ist ein weiteres Bei­spiel.[47]

Die Anerkennung und Erforschung des qualitativen Unter­schieds – eines empirischen, nicht eines transzendentalen Unter­schieds! – zwischen reiner und angewandter Religion, zwischen einer Begegnung mit der vermeintlich »wirklichen Wirklichkeit« und einer Betrachtung der gewöhnlichen Erfahrung im Lichte dessen, was diese Begegnung zu offenbaren scheint, wird uns deshalb zu verstehen helfen, was ein Bororo meint, wenn er sagt: »Ich bin ein Sittich«, oder was ein Christ meint, wenn er sagt: »Ich bin ein Sünder« – eher jedenfalls als eine Theorie des primiti­ven Mystizismus, die das Alltägliche in einen Dunst seltsamer Ideen einhüllt, oder auch eine Theorie eines primitiven Pragma­tismus, die die Religion in eine Sammlung nützlicher Fiktionen auflöst. Das läßt sich recht gut am Sittich-Beispiel zeigen, das ich einem Arti­kel von Percy entnehme.[48] Wie er deutlich macht, ge­nügt es nämlich nicht zu sagen, der Bororo glaube tatsächlich, ein Sittich zu sein (denn er versucht nicht, sich mit anderen Sittichen zu paaren). Seine Aussage ist auch nicht falsch oder sinnlos (denn er macht damit keine – oder jedenfalls nicht nur eine – Aussage über seine Zugehörigkeit zu einer Klasse, die bestätigt oder wi­derlegt werden kann, wie etwa der Satz »Ich bin ein Bororo« bestätigt oder widerlegt werden kann). Man kann auch nicht sa­gen, seine Aussage sei wissenschaftlich falsch, aber mythisch ge­sehen richtig (weil das unmittelbar zu dem pragmatischen Fik­tionsbegriff führt, der in sich widersprüchlich ist, da er dem »Mythos« den Adel von Richtigkeit im selben Moment verleiht und wieder entzieht). Kurz, man kommt nicht umhin festzustel­len, daß der Satz einen unterschiedlichen Sinn haben kann, je nachdem, ob man ihn im »begrenzten Bedeutungsbereich« der religiösen Perspektive oder in dem der Common sense-Perspektive sieht. In der religiösen Perspektive ist unser Bororo »wirklich« ein »Sittich« und kann sich im entsprechenden rituellen Kontext sehr wohl mit anderen »Sittichen« »paaren« – mit metaphysi­schen Sittichen wie er, nicht gewöhnlichen, wie sie leibhaftig in gewöhnlichen Bäumen herumfliegen. In der Common sense-Perspektive ist er ein Sittich insofern, als er (so nehme ich an) einem Clan angehört, dessen Mitglieder den Sittich als Totem verehren, eine Mitgliedschaft, aus der sich in Anbetracht des fundamenta­len Charakters von Wirklichkeit, wie ihn die religiöse Perspektive offenbart, bestimmte moralische und praktische Konsequenzen ergeben. Jemand, der sich als Sittich bezeichnet, will, wenn er das in einer normalen Unterhaltung vorbringt, damit sagen, daß er – wie Mythos und Ritual zeigen – vom Sittichsein geprägt ist und daß dieses religiöse Faktum entscheidende soziale Implikationen hat: wir Sittiche müssen zusammenhalten, dürfen einander nicht heiraten, keine leibhaftigen Sittiche essen usw. Sich nämlich an­ders verhalten hieße, dem Gefüge des gesamten Universums zu­wider handeln. Eben dadurch, daß die Religion vertraute Hand­lungen in bestimmte Zusammenhänge stellt, wird sie – häufig zumindest – gesellschaftlich so mächtig. Sie verändert in oft radi­kaler Weise das gesamte Bild, das sich dem Common sense bietet, und zwar so weitgehend, daß es scheint, als seien die durch das religiöse Handeln erzeugten Stimmungen und Motivationen die allerzweckmäßigsten und einzig vernünftigen in Anbetracht der Dinge, wie sie wirklich sind.

Jemand, der beim Ritual in das von religiösen Vorstellungen be­stimmte Bedeutungssystem »gesprungen« ist (vielleicht ist dieses Bild für die tatsächlichen Vorgänge ein wenig zu sportlich – »ge­glitten« mag zutreffender sein) und nach Beendigung desselben wieder in die Welt des Common sense zurückkehrt, ist – mit Ausnahme der wenigen Fälle, wo die Erfahrung folgenlos bleibt – verändert. Und so wie der Betreffende verändert ist, ist auch die Welt des Common sense verändert, denn sie wird jetzt nur noch als Teil einer umfassenderen Wirklichkeit gesehen, die sie zu­rechtrückt und ergänzt.

Dieses Zurechtrücken und Ergänzen ist jedoch nicht, wie einige Vertreter der »vergleichenden Religionswissenschaft« meinen, überall inhaltsgleich. Die Richtung, in der die Religion das ge­wöhnliche Leben beeinflußt, variiert mit der jeweiligen Religion und mit den besonderen Dispositionen, die im Gläubigen durch die von ihm akzeptierten Vorstellungen von der kosmischen Ordnung hervorgerufen werden. Für die »großen« Religionen steht die konstitutionelle Besonderheit meist außer Frage, sie wird bisweilen sogar mit fast blindem Eifer betont. Doch auch für die einfachsten Formen der Volks- und Stammesreligionen – deren individuelle Traditionen häufig durch so trockene Typisie­rungen wie »Animismus«, »Animatismus«, »Totemismus«, »Schamanismus«, »Ahnenverehrung« und all jene anderen schalen Kategorien, mit denen Religionsethnographen ihrem Material al­les Leben nahmen, unkenntlich gemacht wurden – steht fest, daß die einzelnen menschlichen Gruppen sich ganz unterschiedlich verhalten, je nachdem, was sie selbst als ihre Erfahrung ansehen. Ein gelassener Javaner wäre bei den von Schuldgefühlen geplagten Manus ebenso fehl am Platze wie ein temperamentvoller Crow auf dem leidenschaftslosen Java. Und obwohl es Hexen und rituelle Spaßmacher überall auf der Welt gibt, sind Rangda und Barong keine typischen, sondern völlig einzigartige Darstellungen von Schrecken und Heiterkeit. Es gibt so viele Glaubensformen, wie es Menschen gibt – was auch in der Umkehrung gilt.

Diese vielfältigen Auswirkungen religiöser Systeme auf soziale Systeme (und auf Persönlichkeitssysteme) machen es unmöglich, die Bedeutung von Religion in ethischer oder auch funktionaler Hinsicht allgemeingültig festzulegen. Die Stimmungen und Mo­tivationen desjenigen, der gerade von einem aztekischen Menschenopfer zurückkehrt, sind von denen eines Menschen, der eben seine Kachina-Maske abgelegt hat, ganz verschieden. Selbst innerhalb ein und derselben Gesellschaft kann das, was man aus einem Zauberritus und das, was man aus einem gemein­samen Mahl über das eigentlich Wichtige im Leben »lernt«, völlig verschiedene Auswirkungen auf die sozialen und psychologi­schen Mechanismen haben. Eines der hauptsächlichsten metho­dologischen Probleme bei der wissenschaftlichen Beschreibung von Religion besteht darin, sowohl die Haltung des Dorfathe­isten wie auch die des Dorfpredigers (und ihrer feineren Spielar­ten) abzulegen, damit die sozialen und psychologischen Implikationen der jeweiligen religiösen Glaubensanschauungen in klarem und neutralem Licht erscheinen können. Sobald dies einmal er­reicht ist, verschwinden globale Fragestellungen – ob Religion »gut« oder »schlecht«, »funktional« oder »disfunktional«, »per­sönlichkeitsstärkend« oder »angsterzeugend« sei – wie Phanto­me, und übrig bleiben nur die einzelnen Bewertungen, Einschät­zungen und Diagnosen einzelner Fälle. Natürlich gibt es auch weiterhin die sicher wichtigen Fragen, ob eine bestimmte religiö­se Aussage wahr, eine bestimmte religiöse Erfahrung echt ist oder ob wahre religiöse Aussagen und echte religiöse Erfahrungen überhaupt möglich sind. Doch diese Fragen können im Rahmen der Grenzen, die sich die wissenschaftliche Perspektive selbst gesetzt hat, nicht gestellt, geschweige denn beantwortet werden.

III

Für den Ethnologen liegt die Bedeutung von Religion darin, daß sie in der Lage ist, dem einzelnen Menschen oder einer Gruppe von Menschen allgemeine und doch spezifische Auffassungen von der Welt, vom Selbst und von den Beziehungen zwischen Selbst und Welt zu liefern – als Modell von etwas – wie auch darin, tiefverwurzelte, ebenso spezifische »geistige« Disposi­tionen zu wecken – als Modell für etwas. Von diesen kulturellen Funktionen rühren wiederum ihre sozialen und psychologischen Funktionen her.

Religiöse Vorstellungen bleiben nicht auf ihre besonderen meta­physischen Zusammenhänge beschränkt; sie bieten vielmehr ein System allgemeiner Ideen, mit dem die Erfahrung in vielen Berei­chen – im intellektuellen, emotionalen, moralischen Bereich – sinnvoll ausgedrückt werden kann. Der Christ sieht die national­sozialistische Bewegung auf dem Hintergrund des Sündenfalls, der sie zwar nicht kausal erklärt, aber ihr moralisch, kognitiv und sogar affektiv einen Sinn verleiht. Wenn ein Getreidespeicher über einem Freund oder Verwandten einstürzt, so sieht ein Zande dies auf dem Hintergrund einer konkreten und ziemlich speziel­len Hexereivorstellung und umgeht damit die philosophischen Schwierigkeiten und psychologischen Spannungen eines Indeterminismus. Ein Javaner findet in der von anderswo übernomme­nen und überarbeiteten Vorstellung des rasa (»Empfindung-Geschmack-Gefühl-Bedeutung«) ein Hilfsmittel, mit dem er cho­reographische, geschmackliche, emotionale und politische Phä­nomene in einem neuen Licht »sehen« kann. Eine Synopse der kosmischen Ordnung, ein religiöses Glaubenssystem, liefert auch eine Erklärung der irdischen Welt der sozialen Beziehungen und psychologischen Ereignisse. Sie macht sie faßlich.

Diese Glaubensvorstellungen liefern jedoch nicht bloß eine Er­klärung, sondern auch eine Schablone. Sie interpretieren nicht nur die sozialen und psychologischen Prozesse in kosmi­schen Zusammenhängen – in dem Falle wären sie philosophisch, nicht religiös sie gestalten sie auch. Die Lehre von der Erbsünde enthält auch Anweisungen, wie man sich im Leben verhalten soll, eine durchgängige Stimmung und einen festen Bestand an Moti­vationen. Der Zande erfährt aus den Hexereivorstellungen nicht nur, daß scheinbare »Unfälle« keineswegs als Unfälle zu betrach­ten sind, sondern auch, daß er auf diese falschen Unfälle mit Haß auf denjenigen zu reagieren hat, der sie verursacht hat, um gegen ihn mit der entsprechenden Entschlossenheit vorzugehen. Rasa steht nicht nur für Wahrheit, Schönheit und Güte, es ist überdies eine bevorzugte Erfahrungsweise, eine Art emotionsloser Losge­löstheit, eine Form der sanften Abgeschlossenheit, eine uner­schütterliche Ruhe. Die Stimmungen und Motivationen, die eine religiöse Orientierung hervorbringt, werfen einen Abglanz des Religiösen auch auf die säkularen Bereiche eines Volkes.

Die Erforschung der sozialen und psychologischen Rolle von Religion erschöpft sich daher nicht in der Suche nach Korrelatio­nen zwischen bestimmten rituellen Handlungen und bestimmten säkularen sozialen Beziehungen, obwohl diese Korrelationen zweifellos existieren und unbedingt weiterhin untersucht werden sollten, besonders wenn wir damit zu neuen Aussagen über sie gelangen können. Sie soll vielmehr darüber hinaus zu einer Klä­rung der Frage führen, wieso die Vorstellungen der Menschen vom »wirklich Wirklichen« – wie implizit sie auch sein mögen – und die Dispositionen, die diese Vorstellungen in ihnen wecken, ihre Auffassung vom Vernünftigen, Praktischen, Humanen und Moralischen beeinflussen können. Inwieweit sie das tun (in vielen Gesellschaften scheinen die Wirkungen der Religion ziemlich be­schränkt, in anderen durchdringen sie alles), wie tiefgreifend sie das tun (einige Menschen und Menschengruppen behandeln ihre Religion im säkularen Bereich recht sorglos, während andere sich bei jeder noch so geringfügigen Angelegenheit auf ihren Glauben zu beziehen scheinen) und wie wirkungsvoll sie es tun (die Span­ne zwischen dem, was die Religion vorschreibt, und dem was die Menschen tatsächlich tun, ist in den einzelnen Kulturen ganz unterschiedlich): dies alles sind für die vergleichende Religions­soziologie und -psychologie ganz entscheidende Fragen. Sogar der Entwicklungsstand der jeweiligen religiösen Systeme scheint sehr zu variieren, auch wenn man nicht von einem simplen evolu­tionistischen Standpunkt ausgeht. In der einen Gesellschaft kann das Niveau der symbolischen Ausformulierung einer letzten Wirklichkeit einen außerordentlich hohen Grad an Komplexität und systematischer Artikulation erreichen; in einer anderen, nicht weniger entwickelten Gesellschaft dagegen können diese Formulierungen primitiv, d. h. urtümlich bleiben, kaum mehr als Anhäufungen marginaler Glaubensfragmente und losgelöster Bil­der, sakraler Widerspiegelungen und spiritueller Bildzeichen. Man braucht nur an Australier und Buschmänner, Toradja und Aloresen, Hopi und Arapesh, Hindus und Römer oder auch Ita­liener und Polen zu denken, um festzustellen, daß der Grad der religiösen Artikulation selbst bei Gesellschaften ähnlicher Kom­plexität keine Konstante ist.

Das Vorgehen bei der ethnologischen Untersuchung von Reli­gion beinhaltet deswegen zwei Stufen: erstens eine Erforschung der Bedeutungssysteme, wie sie sich in den Symbolen materiali­sieren, die die eigentliche Religion ausmachen; und zweitens das Inbeziehungsetzen dieser Systeme mit soziokulturellen und psy­chologischen Prozessen. Ich finde so viele der heutigen ethnolo­gischen Arbeiten nicht deswegen unbefriedigend, weil sie sich mit der zweiten Stufe befassen, sondern deshalb, weil sie die erste vernachlässigen und damit als erledigt ansehen, was am dringend­sten einer gründlichen Erörterung bedürfte. Untersuchungen über die Rolle der Ahnenverehrung bei der Regelung der politi­schen Nachfolge, über die Rolle der Opferfeste bei der Bestim­mung verwandtschaftlicher Verpflichtungen, über die Rolle der Geisterverehrung bei der Planung landwirtschaftlicher Tätigkei­ten, über die Rolle des Wahrsagens bei der Verstärkung sozialer Kontrolle und über die Rolle der Initiationsriten bei der Beförde­rung des Reifeprozesses einer Person sind keineswegs unwichtige Unterfangen; und ich plädiere nicht dafür, sie zugunsten jenes unfruchtbaren Kabbalismus aufzugeben, in den die symbolische Analyse exotischer Glaubensvorstellungen so leicht verfallen kann. Sie aber nur mit ganz allgemeinen Common sense-Vorstellungen von Ahnenverehrung, Tieropfer, Geisterverehrung, Wahrsagerei und Initiationsriten als religiöse Systeme in Angriff zu nehmen, scheint mir wenig erfolgversprechend. Erst wenn wir eine theoretische Analyse symbolischen Handelns zur Hand ha­ben, die ihrem Stand nach mit der vergleichbar ist, über die wir heute für das soziale und psychologische Handeln verfügen, wer­den wir in der Lage sein, uns sinnvoll mit all jenen Aspekten des sozialen und psychologischen Lebens zu befassen, in denen Reli­gion (oder auch Kunst, Wissenschaft oder Ideologie) eine bestim­mende Rolle spielt.

Quelle: Clifford Geertz, Dichte Beschreibungen. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, übers. v. Brigitte Luchesi u. Rolf Bindemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983, S. 44-95.


[1] L. Steinberg, »The Eye is Part of the Mind«, Partisan Review 70, 1953, S. 194-212.

[2] M. Janowitz, »Anthropology and the Social Sciences«, Current Anthro­pology 4, 1963, S. 139 und S. 146-54.

[3] T. Parsons und E. Shils, Toward a General Theory of Action, Cambridge/ Mass. 1951.

[4] S. Langer, Philosophical Sketches, Baltimore 1962.

[5] S. Langer, Philosophy in a New Key. 4. A., Cambridge/Mass. 1960 (dt.: Philosophie auf neuem Wege, übers, von Ada Löwith, Frankfurt am Main 1965).

[6] K. Burke, The Philosophy of Literary Form, Baton Rouge, La. 1941, S. 9 (dt.: Dichtung als symbolische Handlung, übers, von Günther Rebing, Frank­furt am Main 1966, S. 14).

[7] Der umgekehrte Irrtum, den Neukantianer wie Cassirer häufig begehen, nämlich Symbole mit ihren Referenten gleichzusetzen oder sie als »konstitu­tiv« für sie anzunehmen, ist ebenso schädlich (Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 4. A., unveränderter fotomechanischer Nachdruck der 2. A., Darmstadt 1964. »Man kann mit dem Finger auf den Mond deu­ten«, soll ein wahrscheinlich erfundener Zen-Lehrer gesagt haben, »aber den Finger für den Mond zu halten ist töricht.«

[8] K. Craik, The Nature of Explanation, Cambridge 1952.

[9] K. Lorenz, King Solomon’’s Ring, London 1952.

[10] K. von Frisch, »Dialects in the Language of the Bees«, Scientific American, August 1962.

[11] K. Craik, Nature of Explanation, a. a. O.

[12] R. H. Lowie, Primitive Religion, New York 1924.

[13] R. F. Fortune, Manus Religion, Philadelphia 1935.

[14] C. Geertz, The Religion of Java, Glencoe, Ill. 1960

[15] G. Ryle, The Concept of Mind, London und New York 1949 (dt.: Der Begriff des Geistes. Übers, von Kurt Baier, Stuttgart 1969).

[16] Ebd. S. 86 (dt. A.: S. 110f.).

[17] Ebd. S. 99 (dt. A.: S. 130 f.).

[18] C. Kluckhohn, »The Philosophy of the Navaho Indians«, in: Ideological Differences and World Order, hrsg. von F. S. C. Northrop, New Haven 1949, S. 356-84.

[19] J. Goody, »Religion and Ritual: The Definition Problem«, British Journal of Psychology 12, 1961. S. 143-64.

[20] W. James, The Principles of Psychology, 2 Bände, New York 1904.

[21] S. Langer, Philosophy in a New Key, a. a. O., S. 287 (dt. A. S. 282).

[22] E. E. Evans-Pritchard, Witch craft, Oracles and Magic among the Azande, Oxford 1937 (dt.: Hexerei, Orakel und Magie bei den 7.ande. Von Eva Gillies eingeleitete und gekürzte Ausgabe. Übers. von Brigitte Luchesi. Frankfurt am Main 1978.)

[23] A. R. Radcliffe-Brown, Structure and Function in Primitive Society, Glen­coe, Ill. 1952.

[24] G. Bateson, Naven, 2. A., Stanford 1958. Daß die chronischen und akuten Formen eines solchen kognitiven Interesses eng miteinander verbunden sind und daß die Reaktionen auf ungewöhnliche Vorkommnisse solchen Reaktio­nen nachgebildet sind, die im Umgang mit den gewöhnlichen entstanden, wird jedoch ebenfalls aus Batesons Beschreibung deutlich. Er fährt fort: »Ein anderes Mal lud ich einen meiner Informanten ein, bei der Entwicklung von Photoplatten dabei zu sein. Ich machte die Platten zunächst unempfindlich und entwickelte sie dann bei schwachem Licht in einem offenen Gefäß, so daß mein Informant das allmähliche Hervortreten der Bilder beobachten konnte. Er war sehr interessiert; einige Tage später nahm er mir das Versprechen ab, diesen Vorgang niemals Mitgliedern anderer Clans zu zeigen. Einer seiner Ahnen war Kontum-mali; den photographischen Entwicklungsprozeß be­trachtete er als tatsächliche körperliche Verwandlung von kleinen Wellen in Bilder, und er hielt dies für eine Demonstration des Clangeheimnisses.«

[25] G. Lienhardt, Divinity and Experience. Oxford 1961, S. 151 ff.; B. Mali­nowski, Magic, Science and Religion, Boston 1948, S. 67 (dt.: Magie, Wissen­schaft und Religion. Und andere Schriften. Übers, von Eva Krafft-Basser­mann. Frankfurt am Main 1973, S. 71).

[26] S. F. Nadel, »Malinowski on Magic and Religion«, in: Man and Culture, hrsg. von R. Firth, London 1957, S. 189-208.

[27] B. Malinowski, Magic, Science and Religion, a. a. O., S. 67 (dt. A.: S. 71).

[28] C. W. Smith und A. M. Dale, The Ila-Speaking Peoples of Northern Rhodesia, London 1920, S. 179 ff.; zitiert in P. Radin, Primitive Man as a Philosopher, New York 1957, S. 100 f.

[29] C. Kluckhohn und D. Leighton, The Navaho, Cambridge/Mass. 1946; G. Reichard, Navaho Religion, 2 Bände, New York 1950.

[30] Reichard, Navaho Religion, a. a. O.

[31] Lienhardt, Divinity and Experience, a. a. O., S. 28-55.

[32] Ebd.

[33] Das soll jedoch nicht heißen, daß das jeder in jeder Gesellschaft tut, denn wie der unsterbliche Don Marquis einmal sagte, muß man nicht unbedingt eine Seele haben, es sei denn, man möchte wirklich eine. Die oft vorgebrachte Verallgemeinerung, daß Religion eine menschliche Universalie sei, verwechselt die wahrscheinlich richtige (obwohl aufgrund der vorhandenen Beweise unüberprüfbare) Behauptung, daß es keine menschliche Gesellschaft gibt, in der kulturelle Muster, die wir entsprechend der gegebenen oder einer ähnli­chen Definition religiös nennen könnten, vollständig fehlen, mit der sicher unrichtigen Behauptung, daß alle Menschen in allen Gesellschaften in irgend­einer sinnvollen Bedeutung des Wortes religiös seien. Während es kaum eth­nologische Untersuchungen religiöser Bindungen gibt, fehlen ethnologische Untersuchungen des religiösen Nicht-Gebundenseins ganz und gar. Die Reli­gionsethnologie wird erst dann den Kinderschuhen entwachsen sein, wenn ein subtilerer Malinowski ein Buch mit dem Titel »Glauben und Unglauben (oder gar »Glaube und Scheinheiligkeit«) bei den Wilden« geschrieben hat.

[34] A. MacIntyre, »The Logical Status of Religious Belief«, in: Metaphysical Beliefs, hrsg. von A. MacIntyre, London 1957, S. 167-211.

[35] Der Terminus »Einstellung« wie in »ästhetischer Einstellung« oder »na­türlicher Einstellung« ist ein anderer, vielleicht gebräuchlicherer Terminus für das, was ich »Perspektive« genannt habe. Zum ersten vgl. C. Bell, Art, Lon­don 1914; zum zweiten, obwohl der Ausdruck ursprünglich von Husserl stammt, A. Schütz, The Problem of Social Reality. Collected Papers, Bd. I, Den Haag 1962 (dt.: Das Problem der sozialen Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze Bd. I, übers, von Benita Luckmann und Richard Grathoff, Den Haag 1971, S. 119). Ich habe ihn jedoch wegen seiner starken subjektivisti­schen Konnotationen, seiner Tendenz, den Nachdruck auf einen angenom­menen inneren Zustand eines Handelnden zu legen, statt auf eine bestimmte, nämlich symbolisch vermittelte Art von Beziehung zwischen einem Handeln­den und einer Situation, vermieden. Das heißt selbstverständlich nicht, daß eine phänomenologische Untersuchung religiöser Erfahrung, wenn sie in intersubjektiven, nichttranszendentalen, genuin wissenschaftlichen Termini gefaßt ist (z. B. W. Percy, »Symbol, Consciousness and Intersubjectivity«, Journal of Philosophy 15, 1958, S. 631-41) für ein angemessenes Verständnis religiösen Glaubens unwesentlich sei, sondern nur, daß sie hier nicht im Mittelpunkt meines Interesses steht. Weitere Termini, die manchmal ver­wendet werden, sind »Ausblick«, »Bezugsrahmen«, »geistiger Rahmen«, »Orientierung«, »Haltung«, »mentales System« usw. Ihr Gebrauch hängt davon ab, ob der Untersuchende die sozialen, die psychologischen oder die kulturellen Aspekte des Gegenstandes hervorheben möchte.

[36] A. Schütz, The Problem of Social Reality, a. a. O.

[37] Ebd.

[38] S. Langer, Feeling and Form, New York 1953, S. 49.

[39] M. Singer, »The Cultural Pattern of Indian Civilization«, Far Eastern Quarterly 15, 1955, S. 23-26.

[40] M. Singer, »The Great Tradition in a Metropolitan Center: Madras«, in: Traditional India, hrsg. von M. Singer, Philadelphia 1958, S. 140-182.

[41] R. Firth, Elements of Social Organization, London und New York 1951, S. 250.

[42] Der Rangda-Barong-Komplex wurde von einer Reihe außergewöhnlich begabter Ethnographen beschrieben und analysiert, und ich werde hier nicht versuchen, mehr als nur eine schematische Darstellung zu geben. Vgl. z. B. J. Belo, Bali: Rangda and Barong, New York 1949; B. DeZoete und W. Spies, Dance and Drama in Bali, London 1938; G. Bateson und M. Mead, Balinese Character, New York 1942; M. Covarrubias, The Island of Bali, New York 1937. Meine Interpretation des Komplexes beruht weitgehend auf eigenen Beobachtungen auf Bali in den Jahren 1957/58.

[43] Belo, Trancee in Bali, a. a. O.

[44] G. Bateson und M. Mead, Balinese Character, a. a. O., S. 36.

[45] A. Schütz, The Problem of Social Reality, a. a. O., S. 226 ff. (dt. A.: S. 260 ff.).

[46] Malinowski, Magic, Science and Religion, a. a. O.; L. Levy-Bruhl, Les fonctions mentales dans les societes inferieures, Paris 1910 (dt.: Das Denken der Naturvölker, übers, von Paul Friedländer, 2. A., Wien und Leipzig 1926).

[47] A. Schütz, The Problem of Social Reality, a. a. O., S. 231 (dt. A.: S. 266).

[48] W. Percy, »The Symbolic Structure of Interpersonal Process«, Psychiatry 24, 1961, S. 39-52.

Hier der Text als pdf.

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