Von Michael Welker
Die Lehre vom Heiligen Geist oder Pneumatologie (griech. pneuma = »Geist«, »Wind«) fristete lange ein Schattendasein in Nischen der Trinitätslehre und der Lehre von der Kirche, bis die westlichen Theologien und Kirchen im 20. Jh. mit einer Frömmigkeit konfrontiert wurden, die – von den Pfingstkirchen und den charismatischen Bewegungen vertreten – ganz zentral vom Wirken des Heiligen Geistes und seinen Gaben überzeugt ist und dieser Überzeugung zunehmend in theologischer Sprache Ausdruck gibt. Durch die Teilnahme der orthodoxen Kirchen am ökumenischen Dialog wurden die auf Christus und den Schöpfer konzentrierten Christen herausgefordert, stärker die Herabkunft, die Gegenwart und das Wirken des Heiligen Geistes zu berücksichtigen und konsequenter trinitätstheologisch zu denken. Doch auch allgemein-kulturelle Bemühungen, monistische und duale bzw. dualistische Denk- und Orientierungsformen durch pluralistische Strukturerkenntnisse zu ersetzen, führten in der zweiten Hälfte des 20. Jh. zu steigendem Interesse an der Lehre vom Heiligen Geist.
Der Heilige Geist wird einerseits von Menschengeistern, anderen himmlischen Geistern und bösen Geistern unterschieden, andererseits aber auf Christus und die Kirche Christi bezogen. Er ist die Kraft Gottes, die uns zu Christus bringt, die Kraft, mit der der Schöpfer und Jesus Christus Menschen für Gottes Reich gewinnen. Durch den Heiligen Geist werden Menschen geheiligt, d. h., Gott zugeeignet. Der Heilige Geist erbaut die Kirche in der Grundgestalt der Gemeinde der Heiligen. Er bringt die Menschen zu Christus, der sie durch den Geist für sein Reich gewinnt. Gott der Schöpfer führt die Geschöpfe durch seinen Sohn und den Heiligen Geist zu sich. Verschiedene theologische Perspektiven auf das eine Geschehen der »Heiligung« durch den Heiligen Geist und heiligenden Geist sind also möglich und sachgemäß. Um die besondere Wirkung des Heiligen Geistes zu verstehen, ist es wichtig, sich auf die biblische Rede von der »Ausgießung des Geistes« und vom »Ruhen des Geistes« zu konzentrieren.
Der Prophet Joel berichtet, daß die Ausgießung des Geistes zu einer außergewöhnlich reichen Erkenntnis Gottes und des göttlichen Wirkens in Prophetie, Träumen und Visionen führt (Joel 3). Wichtig ist, daß einfache hierarchische Verhältnisse in Frage gestellt werden, indem (in einer Sklavenhaltergesellschaft!) ausdrücklich »Männer und Frauen, Alte und Junge, aber auch Knechte und Mägde« durch den Geist Gottes an der Gotteserkenntnis und -verkündigung beteiligt werden und so eine geradezu revolutionäre freiheitliche Verständigung über Gott und Gottes Wirken durch die Geistausgießung herbeigeführt wird. Der Pfingstbericht steigert dies mit explizitem Bezug auf Joel, indem er von einem Sprachenwunder spricht. Nach der Geistausgießung können Menschen verschiedener Sprachen und Traditionen die Rede von »Gottes großen Taten« aus dem Munde derer, die vom Geist überkommen sind, jeweils in der eigenen Sprache vernehmen (Apg 2,5-12). Nicht ein deutungsbedürftiges Zungenreden (Glossolalie), sondern eine wunderbare Sprachfähigkeit (Xenolalie) ist die Pointe des Pfingstereignisses. Die Macht der babylonischen Sprachverwirrung (Gen 11) wird durch die Ausgießung des göttlichen Geistes im Zeugnis von Gottes Wirken gebrochen.
Zum einen wirkt der Heilige Geist in einer so komplizierten Weise, weil er die geschöpfliche Freiheit und Vielfalt respektiert. Obwohl die Menschen durch ihn für Gott und Gottes Reich gewonnen werden, werden sie doch nicht homogenisiert. Erbaut wird vielmehr die Kirche als »Leib Christi« mit den verschiedenen Gliedern. Geschenkt werden die Gaben des Geistes (Charismen) und ihr kreatives Zusammenwirken (Röm 12; 1 Kor 12). Ungerechte und der Unfreiheit dienende Differenzen werden aufgehoben, schöpferische Differenzen gepflegt. Zum anderen wirkt der Heilige Geist so kompliziert, weil er derart den Kräften entgegenwirkt, die das geschöpfliche Leben gefangennehmen und unterdrücken. Schon die frühesten Zeugnisse von der »Herabkunft« des Geistes Gottes sprechen von Ereignissen der Rettung eines Volks aus ausweglosen Situationen (Ri 3,6; 10,11 u. ö.), in denen der Geist Gottes einen im übrigen nicht besonders ausgezeichneten Menschen überkommt, der das in selbstverschuldeter Notlage befindliche und von Gott abgekehrte Volk befähigt, sich vom Gegner zu befreien.
Diese frühen Zeugnisse vom Wirken des Geistes sind voll magischer und zweideutiger Züge, die sich aber in den Aussagen über das Geistwirken verlieren, die vom Ruhen des Geistes auf einem von Gott Erwählten sprechen. Solche Aussagen finden sich v. a. in Texten, die das NT ausdrücklich auf Jesus Christus bezieht (Jes 11,2 und 61,1). Allen Texten gemeinsam ist, daß der ›Geistträger‹, auf dem der Geist ›ruht‹, Gerechtigkeit aufrichten und zugleich Barmherzigkeit und Gotteserkenntnis bringen wird. Mit diesen drei Größen (Gerechtigkeit, Erbarmen, Gotteserkenntnis) ist das alttestamentliche Gesetz gegenwärtig. Der Geistträger bringt die »Erfüllung des Gesetzes« und befreit so von der Macht der Sünde. Wichtig, und den Bezug zur Geistausgießung herstellend, ist die Erkenntnis, daß er Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Gotteserkenntnis nicht nur für Israel bringen wird, sondern auch für die Heiden. Ebenfalls wichtig ist, daß der Geistträger nicht politische Macht einsetzt, sondern ohnmächtig und verachtet mit der Macht des Wortes und aus der Kraft des Leidens wirkt. Die neutestamentlichen Überlieferungen sehen hier Christi Leiden und Kreuzigung prophetisch vorweggeschaut.
Beide Figuren, die Ausgießung des Geistes und das Ruhen des Geistes, zeigen, wie der Geist der Umklammerung der Menschen durch die Macht der Sünde entgegenwirkt. Der ohnmächtige Geistträger einerseits und die Ausgießung des Heiligen Geistes andererseits durchbrechen die Selbstabschließung der Menschen ›von unten und von oben‹. Am Kreuz wird ihnen vor Augen geführt, daß selbst Religion, Recht, Politik und öffentliche Meinung Menschen gegen Gott und Gottes Güte abschirmen und in den Abgrund der Gottverlassenheit führen können. Durch die G.-Ausgießung werden die Kräfte der Erneuerung der Gottesgemeinschaft vermittelt, die auch der Wiederaufrichtung von Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Gotteserkenntnis dienen.
Doch das Wirken des Heiligen Geistes dient nicht nur der Erbauung einer reichen und kreativen »Gemeinschaft der Heiligen« und der Befreiung von der Macht der Sünde. Indem die Menschen durch den Geist zu Christus geführt, für Gottes Reich gewonnen, auf Gott selbst ausgerichtet werden, werden sie erhoben und am göttlichen Leben beteiligt. Das Apostolische Glaubensbekenntnis drückt dies mit den Worten aus: »Ich glaube an den Heiligen Geist […], die Auferstehung des Fleisches und das ewige Leben«. Damit ist nicht nur eine »endzeitliche« Hoffnungsperspektive zum Ausdruck gebracht, die die Ausrichtung des menschlichen Lebens auf ein jenseitiges Leben durch den Geist ins Auge faßt. Durch den Heiligen Geist wird vielmehr das geschöpfliche Leben schon ›hier und jetzt‹ auf eine den Menschen weitgehend verborgene Weise in das göttliche Leben hineingenommen und an der »neuen Schöpfung« beteiligt. Schon hier und jetzt werden sie durch den Geist »Glieder am Leib Christi« und damit dem dem Tod verfallenen Leben entrissen und an der Macht der Auferstehung beteiligt.
Diese Erhebung durch den Heiligen Geist wird besonders deutlich in der Feier des Abendmahls. Das Abendmahl feiert nicht einfach die »bewahrte Schöpfung« und die in Freiheit, Versöhnungswilligkeit und Frieden durch den guten Geist zusammengeführte Gemeinschaft. Das Abendmahl gedenkt zentral der »Nacht des Verrats« und der Gottverlassenheit am Kreuz und damit der tiefen Angewiesenheit der Menschen auf die rettende Kraft des Geistes Durch die Wirkung des Geistes, dessen Herabkunft in manchen Abendmahlsliturgien ausdrücklich erbeten wird, werden die Gaben der Schöpfung zu Gaben der neuen Schöpfung. Nicht durch magische Verwandlung, sondern im Vollzug der sakramentalen Feier werden Brot und Wein zu Gaben ›vom Himmel‹, die die Menschen nicht nur Zeichenhaft nähren, sondern an Christi Leib und Leben Anteil gewinnen lassen. Indem sie dem Schöpfer danken, des Todes und der Auferstehung Christi gedenken und um das Wirken des Heiligen Geistes bitten, werden sie zum Leib Christi erbaut, der Teilhabe an der neuen Schöpfung gewürdigt und in der Kraft des Geistes erhoben und geheiligt.
Lit.: Hendrikus Berkhof: Theologie des Heiligen Geistes. Neukirchen-Vluyn 1968. – Yves Congar: Der Heilige Geist. Freiburg i. Br. [u. a.] 1982. – Jürgen Moltmann: Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie. München 1991. – Michael Welker: Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes. Neukirchen-Vluyn 1992. – Peter Zimmerling: Die charismatischen Bewegungen. Göttingen 2001.
Quelle: Alf Christophersen/Stefan Jordan (Hrsg.), Lexikon Theologie. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart: Reclam, 144-148.