Sühne im Alten Testament und im Judentum
Von Bernd Janowski
1. Sühne ist ein Zentralbegriff biblischer Theologie. Neben dem traditionellen Mißverständnis (»Versöhnung der erzürnten Gottheit«) haben die strafrechtliche Definition (»Abbüßen eines Strafübels«) und die Qualifizierung des Kults als menschliches »Werk« einen sachgemäßen Zugang aber immer wieder verstellt. Nach dem AT ist Sühne Unterbrechung des Sünde-Unheil-Zusammenhangs, und zwar durch Übertragung der »Unheilswirkung des Bösen auf ein Tier …, das stellvertretend für den Menschen … starb. Sühne war also kein Strafakt, sondern ein Heilsgeschehen« (G. von Rad, 284). Basis des Sühnekults ist das Blut als Träger des von Jahwe gegebenen Lebens (Lev 17,11).
Für die Etymologie von hebr. kĭppĕr »sühnen, Sühne schaffen« stehen, bei sachlicher Dominanz des Akkadischen Sühne, zwei Möglichkeiten offen (akkad. kuppuru oder arab. kaffara). Es gibt verschiedene Sühneriten wie die Tötung der jungen Kuh Dtn 21,1–9 oder die Reinigungszeremonie Jes 6,6f, aber auch vielfältige Termini, die das Wortfeld aufgliedern, vgl. die Synonyme/Antonyme in Jes 27,9; Jer 18,23; Neh 3,37 oder die Parallelität von kĭppĕr und ḥĭṭṭē‘ »entsündigen«/ṭĭhăr »reinigen« bei P.
2. Im außerkultischen Belegbereich lassen sich vier Themenkomplexe erkennen, die den Bedeutungshorizont der Wurzel geprägt haben: zwischenmenschliche Versöhnung (Gen 32,21; 2 Sam 21,3 u.a.),Sühnehandeln Jahwes (Dtn 21,8a; 1 Sam 3,14; Jes 6,7 u.a.) bzw. eines Interzessors (Ex 32,30; Num 17,11f; 25,13) und Auslösung des verwirkten Lebens durch ein »Lebensäquivalent« (kōpěr: Ex 21,30; Num 35,31f u.a.). Es scheint, daß Vorstellung und Begriff ursprünglich im Bereich des (Sakral-)Rechts (Dtn 21,8b; 2 Sam 21,3, ius civile: Ex 21,30) und rechtl.-sozialer Verhaltensformen (Gen 32,21) beheimatet waren. Hier hat auch kōpěr seine Bedeutung als »Lösegeld, Lebensäquivalent« erhalten. Konstitutiv für den nichtkultischen Sühnebegriff ist der Kontext menschlicher Schulderfahrung: In einer Situation, in der das individuelle/kollektive Leben verwirkt ist, kann der Sünde-Unheil-Zusammenhang nur durch ein bestimmtes Sühnehandeln unterbrochen und auf diese Weise Heil gewirkt werden.
3. Seit der mittleren Königszeit (Ex 32,30; Dtn 21,8 a; Jes 6,7; 22,14) und dem Exil (Dtn 32,43 [?]; Jer 18,23; Ps 78,38; 79,9) ist kĭppěr – z.T. in der Bedeutung »vergeben« – als Terminus theologischer Sprache belegt. In (nach-) exilischer Zeit (Ex 40–48; Sekundärschichten von P) werden Sühneriten – unter Rückgriff auf vorexilische Gegebenheiten (Jes 6,7; Ps 65,4?) – schließlich zur Mitte des Kults. Das zeigt sich u.a. daran, daß fast alle Opfer (v.a. Sünd-, Schuld-, Brandopfer) und zahlreiche Riten (z.B. Priesterweihe Lev 8,34 par., kathartischer Vogelritus Lev 14,53) Sühnequalität erlangen. Hierin wirkt die Katastrophe von 587 v.Chr. und das durch sie geschärfte Sünden- und Verantwortlichkeitsbewußtsein Israels nach. In Neubesinnung auf den eigenen Geschichtsweg gelang es Pg in ihrer Sinaierzählung (Ex 24,15b – Num 10,10*), Israel in tempelloser Zeit der Nähe Jahwes zu vergewissern und dieser Gewißheit durch den Bau des »Begegnungszelts« (Luther: »Stiftshütte«) konkrete Gestalt zu verleihen. Spätere (Ps) haben dann in Lev die kultische Sühnetheologie formuliert. Konstitutiv für diese sind die kultgeschichtl. primäre Entsühnung des Heiligtums (Ez 43,20; 45,18f), die Handaufstemmung auf das Opfertier, die Blutapplikation an die Altarhörner (sog. kleiner Blutritus Lev 4,25.30.34) sowie der Zusammenhang von Sühne und Vergebung (sog. kĭppĕr-nĭslăḥ-Formel Lev 4,31 u.ö.). Die Handaufstemmung hat identifikatorische (oder: designatorische?, R. Rendtorff, D.P. Wright/J. Milgrom) Bedeutung: Weil der Opfernde, der eine (unwissentliche) Verfehlung begangen hat, sich durch diesen Gestus mit dem Opfertier identifiziert, geht es in dessen Tod real-symbolisch um den Tod des Sünders. Das Proprium der kultischen Stellvertretung ist deshalb nicht – wie beim eliminatorischen »Sündenbockritus« Lev 16,10.21f (aus südostanatol.-nordsyr. Ritualtradition) – die Übertragung des »Sündenstoffes« auf einen rituellen Unheilsträger (K. Koch, R. Rendtorff), sondern die im Tieropfer symbolisch sich vollziehende Lebenshingabe des schuldigen Menschen (vgl. zur Relation Blut – Leben wiederum Lev 17,11). Kultischer Höhepunkt ist der Große Versöhnungstag (Lev 16, vgl. Lev 23, 27f; 25,9), an dem der Hohepriester das Sündopferblut an die kăppōrĕt (»Sühnemal, Sühneort«) im Inneren des »Begegnungszelts« sprengt (Lev 16,14f) und damit Israel Versühnung mit dem dort gegenwärtig geglaubten Gott ermöglicht.
4. Nach Jes 52,13–53,12 wird künftiges Heil für Israel dadurch erwirkt, daß der Knecht Gottes sein Leben als ‚āšām einsetzt (53,10). Für das Verständnis sind neben den internen Bezügen in 53,2–20 a ß der rechtl. Hintergrund des ‚āšām-Begriffs (Schadenersatzrecht?, kultische Konnotation erst in Lev 4f Ps) sowie der Gebrauch der Wurzel ‚šm (Schuldverpflichtung/ableistung, R. Knierim) zu beachten. Dieser paßt am ehesten zu den Textrelationen in 53,2–6.7–10 a ß: ‚āšām meint die aus einem Schuldiggewordensein resultierende Verpflichtung zur Schuldableistung, die dem Schuldigen, hier also Israel, obliegt. Da es bei Dtjes und in den ersten drei Gottesknechtsliedern um die »Rettung« Israels geht (vgl. 49,5f mit 44,21f), kann nur das unschuldige Leben, das der Gottesknecht in Handlungseinheit mit Jahwe hingibt (53,10a), Israel aus seiner Schuldverfallenheit lösen. Ohne diese Hingabe bliebe es dem eigenen Tun-Ergehen-Zusammenhang verhaftet. Indem Jahwe diesen so am Knecht zur Auswirkung kommen läßt, daß er sein Leben als »Schuldgabe« für die anderen einsetzt (53,6b. 10a), werden die »Vielen«/»Wir« von innen heraus verwandelt: Am Leidensgeschick des Gottesknechts können sie ihre eigene Schuld erkennen und im Bekenntnis übernehmen (53,4–6).
5. Für die Sühneanschauung des antiken Judentums ist das Jahr 70 n.Chr. entscheidend: Mit dem Zweiten Tempel wurde der Ort zerstört, an dem die Sünden Israels gesühnt wurden. Kennzeichnend für die rabbinische Sühnetheologie ist das Dictum Jochanan b. Zakkais (gest. um 80 n.Chr.) über die »Taten der Liebe« als der kultischen gleichwertige S. (ARN 4,5). So viele Sühnemittel es gibt (Gebet, Fasten, Almosen, Leiden, Tod, Versöhnungstag), sie alle sühnen nur in Verbindung mit der Buße (tešūbā). Ähnliche Tendenzen – Ersetzung des Tempelkults durch die Tora-Frömmigkeit – gab es auch in Qumran. In ihrer Sühneanschauung knüpft die Qumrangemeinde z.T. an at.liche Gegebenheiten an (Gott als Subjekt der S.: 1QS 2,8; 1QH 4,37; CD 2,4f u.ö.), z.T. geht sie neue Wege: Als »geistiger Tempel« ist sie dem Kult gleichwertig und wirkt in dieser Funktion Sühne für sich (1QS 5,6) und »für das Land (= Israel)« (1QS 8.6.10 u.ö.). Die Reinheits- und Sühneaussagen haben ihre Sinnmitte in der Kultsymbolik (Zusammenhang von Kult- und Weltordnung), die auch das Heiligtumsverständnis der (essenischen?) Tempelrolle geprägt hat.
Lit.: Zu 1.-3.: v. Rad, G.: Theologie d. AT. Bd. I, München 1957 (19696) – Koch, K.: Sühne u. Sündenvergebung um d. Wende v. d. exilischen zur nachexilischen Zeit, EvTh 26 (1966) 217–239 – Maass, F.: Art. kpr pi., THAT Bd. I (1971) 842–857 – Levine, B.: In the Presence of the Lord, Leiden 1974, 55–77.123–127 – Milgrom, J.: Art. Atonement in the OT, IDB Supplement Vol., Nashville/Tenn. 1976, 78–82 – Gese, H.: Die Sühne, in: Zur bibl. Theologie, München 1977 (Tübingen 19893), 85–106 – Koch, K.: Art. Tat-Ergehen-Zusammenhang, RBL, Stuttgart 1978 (19874), 493–495 – Schenker, A.: Versöhnung u. S., Fribourg 1981 – Janowski, B.: Auslösung d. verwirkten Lebens, ZThK 79 (1982) 25–59 – ders.: S. als Heilsgeschehen, Neukirchen 1982 (19942) – Lang, B.: Art. kippaer usw., ThWAT Bd. IV (1984) 303–318 – Hübner, H.: Sühne u. Versöhnung, KuD 29 (1983) 284–305 – Loretz, O.: Leberschau, Sündenbock, Asasel in Ugarit u. Israel, Altenberge 1985, 35–57 – Rendtorff, R.: Leviticus, BK III/1 (1985) 32–48 (zur Handaufstemmung) – Hossfeld, F.-L.: Versöhnung u. Sühne, BiKi 41 (1986) 54–60 – Schenker, A.: Sühne statt Strafe u. Strafe statt Sühne!, in: Blank, J./Werbick, J. (Hgg.): Sühne u. Versöhnung, Düsseldorf 1986, 10–20 – Wright, D.P./Milgrom, J.: Art. sāmāk, ThWAT Bd. V (1986) 880–888 – Wright, D.P.: The Disposal of Impurity, Atlanta/Ga. 1987. – Zu 4.: Wolff, H.W.: Jes 53 im Urchristentum (19523), Giessen 1984 – Kutsch, E.: Sein Leiden u. Tod – unser Heil, Neukirchen 1967 – Knierim, R.: Art. ‚āšām, THAT Bd. I (1971) 251–257 – Haag, E.: Das Opfer d. Gottesknechts (Jes 53,10), TThZ 86 (1977) 81–98 – Hermisson, H.-J.: Der Lohn d. Knechts, in: Jeremias, J./Perlitt, L. (Hgg.): Die Botschaft u. d. Boten, FS H.W. WoIff, Neukirchen 1981, 269–287 – Steck, O.H.: Aspekte d. Gottesknechts in Jes 52,13–53,12, ZAW 97 (1985) 36–58 – Janowski, B.: Er trug unsere Sünden. Jes 53 u. d. Dramatik d. Stellvertretung, ZThK 90 (1993) 1–24. – Zu 5.: Lohse, E.: Märtyrer u. Gottesknecht, Göttingen 1955 (19632) – Neusner, J.: The Idea of Purity in Ancient Judaism, Leiden 1973 – ders.: Geschichte u. rituelle Reinheit im Judentum d. 1.Jh.s n.Chr., Kairos 21 (1979) 119–132 – Janowski, B./Lichtenberger, H.: Enderwartung u. Reinheitsidee, JJS 34 (1983) 31–62.
Quelle: EKL3, Bd. 4/10 (1995), Sp. 552-555.